![]() Vor unseren Augen |
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Vor unseren AugenII - ErinnerungenAndreas Mertin
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Abstrakt-universale Modelle |
Untersuchungs- |
Fragestellung |
These |
Korrelation (P. Tillich) |
Kunst und Religion |
Wie lassen sich autonome Welterkenntnis und theologischer Wahrheitsanspruch vereinen? |
Aus der Kunst lassen sich existentielle Fragen erheben, die in der christlichen Botschaft Antwort finden |
Utopie |
Kunst als Vorschein und Eschaton |
Wie transzendiert Kunst die Wirklichkeit? |
Im ästhetischen Schein wird die Welt als Vorletztes, der Transzendierung bedürftig, erkennbar |
Invarianten |
Schnittstellen von Kunst und Religion |
Welche Gemeinsamkeiten weisen Kunst und Religion auf, was ist ihr gemeinsames Wesen? |
Kunst und Religion weisen elementare und notwendige Gemeinsamkeiten auf (Transzendenz, Geschichte, Sinn etc.) |
Kompensation
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Gesellschaft |
Wie können gesellschaftliche Defizite, Entfremdung etc. ausgeglichen werden? |
Die Kunst bietet einen Ausgleich für Sinnverlust und Rechtfertigungszwang in der Moderne und ersetzt Religion |
Sprache
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Bild als Text, Zeichen, Sprache, Bedeutung |
Welche Sprachleistung besitzt Kunst für Religion, Theologie, Christentum? |
Kunst ist (kann sein) eine/die Sprache der Religion; Kunst ist die sprachliche Gestalt der Religion |
Konkret-partikulare Modelle |
Untersuchungs- |
Fragestellung |
These |
Komplementarität |
Kunststil / Theologie |
Wo finden sich in Kunst und Theologie analoge unterschiedlich benannte Phänomene? |
Bestimmte ästhetische Phänomene lassen sich als eschatologische Vorwegnahme religiöser Glaubenssätze verstehen |
Konkordanz
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Kunstwerke mit religiöser Symbolik, Ikonographie |
Welche religiösen Symbole tauchen in der aktuellen Kunst auf und warum? |
Der ästhetische Raum entspricht dem Wesentlichen der Religion; es gibt eine aktuelle Relevanz religiöser Symbole |
Archäologie der Gegenwartskultur |
Religiöses Thema |
Welche Relevanz hat ein religiöses Thema in der Gegenwartskultur? |
Zur Prüfung der aktuellen Gültigkeit von religiösen Sätzen und Symbolen sind wir auf die Künstler angewiesen |
Modelle der |
Untersuchungs- |
Fragestellung |
These |
Autonomie |
Kunst und nichtästhetische Diskurse |
Wie grenzt sich der ästhetische Diskurs von den nichtästhetischen Diskursen ab? |
Kunst ist eigengesetzlich und verortet sich neben den nichtästhetischen Diskursen im pluralen Gefüge der Vernunft |
Souveränität |
Ästhetische Erfahrung und nichtästhetische Diskurse |
Welche nichtästhetischen Wirkungen hat die ästhetische Erfahrung? |
Kunst überschreitet das ausdifferenzierte Gefüge der Vernunft und bringt nichtästhetische Diskurse in die Krise |
Differenz |
Kunst / Religion |
Wie verhalten sich die Wertsphären/ Sprachspiele Kunst und Religion zueinander? |
Ästhetische Erfahrung bewirkt eine Krise der Theologie; Theologie negiert die Absolutheitsanspruche der Kunst |
In zwei Bereichen fand ich die vorherigen Bemühungen der Begegnung von Kunst und Kirche unbefriedigend, weil nicht konsequent zu Ende gedacht und zu Ende entwickelt.
Ich glaube zum einen, dass wir die Stärken der neuzeitlichen Diskursdifferenzierung von Kunst und Kirche nur dann bewusst machen können, wenn beide Bereiche ihre Argumente in einem Raum zur Geltung bringen können. Meines Erachtens krankte das Ausstellungsmodell in der Kirche daran, dass man autonome Kunst in City-Kirchen, Kultur-Kirchen und nicht mehr genutzten Kirchen zeigte. Kultur wurde so zu einem Fluchtpunkt einer Theologie, die in der Sache selbst nicht mehr gebraucht wurde. Wenn schon die Menschen die Kirchen nicht mehr nutzten, kann man wenigstens Kultur darin veranstalten. Das erinnert mich an Calvins Kritik in der Institutio, dass die Bilder in die Kirchen gebracht wurden, weil die Prediger nichts mehr zu sagen hatten. Diese Kritik hat bis in die Gegenwart nichts an Bedeutung eingebüßt. Wenn also Kunst mit Kirche ins Gespräch kommen soll, dann muss, dann kann es nur so laufen, dass beide ohne jede Restriktion jeweils ihr Bestes in einem gemeinsamen Raum einbringen können. Da das Interesse in meinem Fall zunächst von der theologisch-kirchlichen Perspektive ausging, hieß das, die Kunst als Gast in die religiös genutzten Räume einzuladen und zugleich diese Räume weiterhin religiös zu nutzen. Die Differenz beider Bereiche sollte vor Ort produktiv werden.
Die Kulturkirchen, auf die die Evangelische Kirche so stolz ist, scheinen mir daher nur ein Notnagel zu sein, Klientelpolitik, Speck für ästhetische Mäuse im schlimmsten Fall nur für ästhetische Kirchenmäuse und nicht wirklich aus dem Interesse daran geboren zu sein, was uns die Kunst der Gegenwart (oder der Vergangenheit) zu sagen hat. Wenn es nämlich darum ginge, die Botschaft der Kunst zu hören, dürfte dies nicht in separierten und dann auch noch zur Galerie umgewandelten Räumen passieren.
1997 habe ich das zunächst im Rahmen der documenta-Begleitausstellung so versucht, dass die Kunst klassische Schwerpunkte des religiösen Raumes „besetzte“ und künstlerisch-ästhetisch bearbeitete. Orte im Raum wurden nun kontrovers. Ist der Altar ein religiöses oder ein ästhetisch-künstlerisches Objekt? Ist der Weg zum Altar liturgisch besetzt oder ein Freiraum für Interventionen im wörtlichen Sinne? Welche Sprache spricht die kirchliche Toten- und Trauerkultur und was passiert, wenn Künstlerinnen hier eingreifen und minimalistisch und sensualistisch zugleich den Gedankenfluss unterbrechen? Was heißt es, wenn Künstlerinnen im Kirchenschiff verkünden „Den, den ihr sucht, der ist nicht hier“ und zugleich in Aufnahme der Bildtraditionen seit Albrecht Dürer sich an die Stelle Christi setzen?
Dieses Modell ist so sehe ich es heute noch nicht wirklich frei. Es greift zumindest interpretatorisch religiöse bzw. kirchliche Fragestellungen auf, die nicht unbedingt Fragestellungen der Künstlerinnen und Künstler sind. Zwar kommt die erwünschte Begegnung zweier vitaler Diskurse von Kunst und Religion in einem Raum zustande, aber die Rahmensetzung erfolgt weiterhin von den Vorgaben der Religion her.
Die Frage, die sich aus der 97er Ausstellung für die documenta-Folgeausstellung im Jahr 2002 ergab, war also, ob man der Kunst nicht eine viel größere Souveränität geben muss, damit sie viel mehr Spiel-Raum hat. Zusammen mit Karin Wendt, Mitherausgeberin des Magazins für Theologie und Ästhetik, entwickelten wir ein Ausstellungskonzept, das erstmalig die Gestaltungssouveränität des Raumes den Künstlern überließ. Das heißt nicht, dass es keine Gespräche gegeben hätte, sondern dass im Vorhinein nur der Raum als gemeinsam interessierendes Thema benannt wurde und die Künstler eigenständig autonom damit umgingen. Das Ergebnis war die Durchdringung des Raumes im Rahmen der großen Installation von Thom Barth, der ein Kirchenfenster entfernen ließ und den Menschen den höchst unkonventionellen Zugang zur Kirche in etwa 6 Meter Höhe durch die Kirchenwand ermöglichte. Das war eine Raumintervention, die nicht Ausdruck irgendwelcher religiöser Ideen war (auch wenn man sie durchaus so deuten konnte: Der Einbruch in den Leib Christi), sondern ein Spiel mit dem Raum und der Wahrnehmung.
Viel deutlicher als vorher wurde nun der Raum als Kontrastfeld unterschiedlicher Erfahrungsformen erkennbar. Man konnte ihn nun dezidiert ästhetisch begehen (und nicht nur im Sinne des Baedecker-Christentums auf der Suche nach kulturgeschichtlich zertifizierten Objekten). Man konnte den gesamten Raum als künstlerische Installation von Thom Barth ansehen, die den Baukorpus als Material der künstlerischen Gestaltung verwendet hatte. Man konnte aber auch in religiöser Perspektive nach den Verletzungen der ursprünglichen Raumgestalt, nach den Wunden fragen, die sich gegenüber der bisherigen religiösen Raumkonzeption ergaben.
Auch das gelbe Band der Künstlerin Nicola Stäglich war in diesem Sinne eine eigenständige künstlerische Intervention in den bisher als religiös verstandenen Raum, der das tradierte religiöse Raumkonzept (die Sogwirkung des Raumes, der den Blick nach oben zieht) in Frage stellte.
Ich meinte zum zweiten, dass die theologische Reflexion nicht bei den tradierten Kunstformen stehenbleiben kann, sondern auch die neuen Kunstformen mit ihren anders gearteten Herausforderungen berücksichtigen muss. Dabei meine ich nicht eine Erweiterung des Kunstbegriffs auf die technologisch neuen Unterhaltungsformen wie Film oder Fernsehen oder Internet, sondern die kunstimmanenten Entwicklungen von der Videokunst über die Computerkunst bis zur virtuellen Kunst. Und auch hier ist und war der Raum der Kontrastpunkt. Es geht also nicht um das Aufstellen eines Bildschirms in einer Kirche analog zur Platzierung in der Galerie oder im Museum. Es geht um ein Beziehungsfeld, eine Textur von aufgeladenem Raum, autonomer Medienkunst und religiösem Leben bzw. theologischem Wort. Es geht in einem gewissen Sinne wie bei der schon vorgestellten Arbeit von Thom Barth um einen Riss im Gefüge der Welt. 2007 bei der vorerst letzten Begleitausstellung der Evangelischen Kirche zur documenta, stand deshalb die Medienkunst in ganz unterschiedlichen Schattierungen im Zentrum der Wahrnehmung. Der Schweizer Künstler Yves Netzhammer platzierte einen Keil im Versammlungsraum der ursprünglich hugenottischen Gemeinde der Karlskirche und schuf zugleich eine virtuelle Brücke zu einer parallelen Installation von ihm im Schweizer Pavillon auf der Biennale in Venedig: Die Subjektivierung der Wiederholung Projekt A (Venedig) Projekt B (Kassel).
In der Martinskirche gestaltete die Medienkünstlerin Julia Oschatz ihre eigene Kunst-Höhle mit Video. Das Video ging der Verortung des Eremiten in der abgeschiedenen Existenz nach, spielt mit Assoziationen der Höhlenexistenz. Was findet sich unter der Oberfläche der Zivilisation, was unter dem Boden unserer Existenz?
Seit 2007 hat es keine documenta-Begleitausstellung gegeben, eine beinahe 30jährige Tradition brach einfach ab. Das lag vielleicht an unglücklichen Zusammenhängen und widrigen Umständen, dürfte aber auch und nicht zuletzt einem nachlassenden binnenkirchlichen Interesse an der „autonomen Kunst im Raum der Kirche“ geschuldet sein. Was sich ja ohne größere Probleme beobachten lässt, dass im Gegenzug zur ästhetischen Kehre in der Praktischen Theologie in der Mitte der 80er-Jahre nun im beginnenden neuen Jahrtausend sich eine zunehmende Funktionalisierung in der Kirche abzeichnete, eine kalte Sprache der Funktionäre, die von notwendiger Mission in der Kulturarbeit sprachen und Kulturkirchen als Leuchttürme begriffen, die die säkularen Schiffe wieder in den Hafen der Kirchen bugsieren sollten. Mit anderen Worten: die Kirche litt kulturell unter einem massiven Rollback.
Kulturtheologie im emphatischen Sinne ist am Ende. Man zählt nun kulturpolitische Erbsen, wobei noch die Einrichtung jedes Kindergartens als kulturpolitische Pioniertat hervorgehoben wird. Gleichzeitig erodiert das Verständnis der kirchenleitenden Gremien für das, was Kultur in der Sache ausmacht. Heute werden Musicals zu den Zehn Geboten oder zu Martin Luther für Meilensteine der kulturellen Entwicklung und nicht der kulturellen Regression gehalten. Man spielt den Schlager gegen die Hochkultur aus und meint, mit der Verdummung der Menschen kirchenpolitische Geschäfte machen zu können. Vor unseren Augen implodiert die Kultur des Protestantismus, während so viele kulturelle Erbsen gezählt werden (können), wie lange nicht mehr. Die Devise lautet: Machen wir uns größer, verkleinern wir das Metermaß. Man kann sich heute nicht mit Meriten schmücken, die man in den letzten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts errungen hat. Die Bilanz geht immer auf das aktuelle Jahr, das in diesem Falle „Bild und Bibel“ hieß und kulturell ein absolutes Desaster zeigte. Nichts, aber auch gar nichts vermochte die Evangelische Kirche auf der Habenseite zu platzieren. Vor einigen Wochen rief mich eine WDR-Journalistin an, um mit mir über die ausbleibenden Aktivitäten der Protestanten zum Themenjahr Bild und Bibel zu sprechen. Sie habe zwar eine Cranach-Ausstellung besucht, aber ansonsten sei ihr in dem ganzen Jahr nichts Berichtenswertes unter die Augen gekommen. Und ich konnte ihr nur zustimmen. Vor meinen Augen wird das Gespräch mit der zeitgenössischen Kultur zur Anbiederung an die Unterhaltungsindustrie.
Das muss aber nicht das letzte Wort sein. Wir können jederzeit zurückkehren zu den Begegnungen auf Augenhöhe mit „autonomer Kunst im Raum der Kirche“. Man muss es nur wollen.
Artikelnachweis: https://www.theomag.de/98/am525.htm
© Andreas Mertin, 2015