Magazin für Theologie und Ästhetik


Jenseits von Eden

Ein Essay aus Anlaß der Installationen von

Rotraut Pape im Kasseler Kunstverein

Andreas Mertin

Erste und letzte Fragen verhandelt Rotraut Pape mit ihren Installationen im Kasseler Kunstverein. Was unter dem Titel "Real Virtuality" vorgestellt wird, eröffnet einen Blick auf die Früchte im Garten Eden, schwenkt über zu den Wächtern, die den Garten Eden für uns zum Jenseits machen, um dann beim Jüngsten Gericht zu enden. Die erste und die letzte Seite der Bibel, ihre Begrenzungen sozusagen, geraten hier ins Blickfeld.

Nun kann man Religion als den Versuch verstehen, Virtualität real werden, sie Gestalt annehmen zu lassen. Keine Religion geht in der Realität auf oder reduziert sich auf das, "was der Fall ist". Das gilt nicht nur - wie Rotraut Pape in einem kongenialen Duett mit Bazon Brock zeigt - für Engel, Chaosmächte oder Dämonen, sondern auch für weitergehende religiöse Vorstellungen wie die Erkenntnis von Gut und Böse, das ewige Leben, die Erlösung oder auch die Deutung des eigenen Lebens. Alle Religion ist und handelt von Real Virtuality.

Mithin, sagte ich ein wenig zerstreut, müßten wir wieder vom Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen? - Allerdings, antwortete er; das ist das letzte Kapitel der Welt. (Heinrich von Kleist)

Der Garten, den wir in Rotraut Papes erstem Installationsraum betreten können, zeigt uns Früchte vom Baum des Lebens. Man sieht Nahrungsmittel, von denen Kabel zu Monitoren führen. Jedes Nahrungsmittel wird so zu einer Energiequelle, zu einem Sinnbild eines komplexen Prozesses des Energietransfers. Mittels der Nahrung führen wir uns Energie zu, sie ist im wahrsten Sinne ein Über-Lebenmittel. Ohne Nahrung kein Leben und keine Erkenntnis. Auf den mit den Nahrungsmitteln verkabelten Monitoren sieht man Kernspintomografien der Früchte. Die Kernspintomografie, basierend auf den Reaktionen der Atomkerne auf magnetische Felder, verspricht uns eine genauestmögliche Erkenntnis, sie zeigt uns, was das Untersuchte im Innersten enthält. Freilich zeigen Rotraut Papes Kernspintomografien die Früchte in veränderter Form: wir sehen nicht den Kern der Nahrungsmittel, ihr wahres Bild, sondern vielmehr ihre wundersame Metamorphose. Für die Erkenntnis der betrachteten Gegenstände gilt: "Du hast Dir ein Bild gemacht, ich bin es nicht". Und so blicken wir auf Atomelonen, Morphine und Sonnenblumenkernenergiebrote.

Nach der biblischen Überlieferung enthält der Garten Eden neben vielen anderen zwei besondere Bäume mit jeweils anderen "Begabungen". Der eine, der kultur- und vor allem auch kunstgeschichtlich bedeutsam geworden ist, ist der Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen, sozusagen der Baum der Aufklärung, der uns erst in die Lage versetzt hat, zu unterscheiden, was für uns "nützlich" und was "schädlich" ist. Der andere Baum, der Baum des Lebens, ist weniger präsent, obwohl doch eine Menge von Wissenschaftlern heute daran arbeiten, von seinen Früchten zu naschen. Und nur wegen dieses zweiten Baumes, auf den sich Rotraut Pape mit ihrer Installation bezieht, wurde die Menschheit aus dem Paradies ausgeschlossen. Denn nicht der sog. Sündenfall begründet die Vertreibung aus dem Paradies, sondern die sich abzeichnende Möglichkeit, daß die Menschen versuchen würden, auch noch von diesem Baum zu essen. Dieser zweite Baum des Garten Edens verspricht nämlich ewiges Leben.

Wenn also der erste Baum einer der Aufklärung war, dann ist der zweite Baum (modern gesprochen) einer der Gentechnologie und seit 100 Jahren versuchen wir, seiner Funktion auf die Spur zu kommen. Die erste Installation ist somit gerade in der Verbindung mit der Kernspintomografie unmittelbar am Thema des zweiten Baumes aus dem Garten Eden: der Arbeit am nie endenden Leben. Mt Rotraut Papes videosophischer Arbeit befinden wir uns zugleich im Kern jener Erzähltradition des Judentums und des Christentums, die von den Sehnsüchten, den Perfektibilitätsträumen und von den Grenzen des Menschen erzählen. Schon die jüdischen Erzähler waren dabei der Virtualität ihrer Geschichte eingedenk, verlegten sie doch den Garten Eden derartig in ein phantastisches Nirgendwo, daß sich jeder empirische Verortungsversuch als sinnlos erweisen mußte und die Virtualität des Gartens nur in den Köpfen der Menschen Realität werden kann: Real Virtuality.

Ausgangspunkt der biblischen Erzähler war eine Realität, die nicht gut war und auch nicht gut geheißen werden konnte: die harte Arbeit auf dem Felde, Leid, Tod, Unterdrückung der Frau durch den Mann, die Schmerzen der Geburt, die Feindlichkeit der Umwelt. Dagegen setzte die Erzählung eine Virtualität, die besagen sollte, daß es auch anders geht: ein Leben ohne Tod, ohne Leiden, ohne Unterdrückung. Was aktuell ist, ist deshalb noch nicht gerechtfertigt, die Erzählung möchte daher von der Virtualität in die Realität überführt werden.

Und er trieb den Menschen hinaus und ließ lagern vor dem Garten Eden die Cherubim mit dem flammenden, blitzenden Schwert, zu bewachen den Weg zu dem Baum des Lebens. (Genesis 3, 24)

Erst mit den Cherubim sind wir "jenseits von Eden". Das ist der Besucher auch, wenn er den Wächterraum, den Raum mit der zweiten Installation von Rotraut Pape betritt. Dort wacht ein digitaler interaktiver Wächter über das Verhalten der Besucher. Auch hier wieder eine Kernspintomografie, diesmal die eines Menschen, die im Computer dreidimensional rekonstruiert und animiert wurde. Was immer der Besucher macht, der Wächter reagiert auf seine Bewegungen, er interagiert mit ihm. Die Figur des Wächters hat die Menschen von ihren Anfängen bis in die Gegenwart beschäftigt. Wächter begleiten uns ein Leben lang. Sie reagieren auf unser Verhalten, nicht unbedingt wie die beliebten Schutzengel, jenen irrealen Virtualitäten (der Versicherungsindustrie), sondern eher im Sinne von Begrenzungen und Öffnungen der Wege, die wir gehen.

Wächter machen das, was sie bewachen, zu einem kostbaren, weil unerreichbaren Gut, oft gewinnt gerade erst durch seine Unzugänglichkeit ein Gegenstand an Bedeutung. Wenn das Innerste der Dinge, der Nahrungsmittel, der Früchte vor uns verschlossen bleibt, suchen wir es mit allen Mitteln zu erschließen. Wächter fordern heraus. In Franz Kafkas Erzählung "Vor dem Gesetz" erweist sich der Wächter als die jedem Menschen spezifisch gesetzte Grenze und zugleich als lebensweltliche Deutungskategorie: "dieser Eingang war nur für dich bestimmt". Die Macht dieser Wächter ist begrenzt, sie gilt nur so lange, wie wir sie realisieren, sie als Real Virtuality begreifen.

Es ist nicht notwendig, daß du aus dem Haus gehst. Bleib bei deinem Tisch und horche. Horche nicht einmal, warte nur. Warte nicht einmal, sei völlig still und allein. Anbieten wird sich dir die Welt zur Entlarvung, sie kann nicht anders, verzückt wird sie sich vor dir winden. (Franz Kafka)

Das Jüngste Gericht, Rotraut Papes dritte Installation, schlägt einen Bogen vom Essen der Früchte aus dem Garten Eden zur Apokalypse und ihrer Erzählung des letzten Gerichts. Der Betrachter sieht einen Tisch mit Tellern, die mit Nahrungsmitteln bedruckt sind. Im Rahmen einer Videoprojektion ist auf einem Teller ein Lebensmittel ständigen Metamorphosen unterworfen, es "windet" sich vor dem Betrachter. Rund um den Tisch sind Monitore, auf denen fünf Menschen, zwei Frauen und drei Männer, zu sehen sind. Auch sie sind Metamorphosen unterworfen, "denn wer so ißt und trinkt, ... der ißt und trinkt sich selber zum Gericht".

Rotraut Pape versteht das Jüngste Gericht im mehrfach codierten Sinn, als Form des letzten Essens, weniger im Sinne des letzten Abendmahls, als vielmehr der folgen- und metamorphosenreichen oralen Aneignung. Die Kombination von jüngstem Gericht und Jüngsten Gericht überrascht nur auf den ersten Blick, denn in religiöser Perspektive ist diese Verbindung nicht selten. Immer wieder stellt die religiöse Erzählwelt eine Verbindung von Essen und Gericht her. Da ist zunächst jener gerade zitierte Paulus-Text, der eine Verbindung vom Essen und Trinken vor und beim Abendmahl spricht und dies direkt mit dem Jüngsten Gericht verbindet. Das Essen und Trinken vor dem Jüngsten Gericht ist nach Paulus nicht folgenlos.

Eine andere Überlieferung erzählt von einem großen Festmahl, das Gott nach dem Jüngsten Gericht veranstalten wird. Sie greift dazu die biblischen Geschichten von den Chaos-Tieren Leviathan und Behemoth auf, die wir vor allem im Buch Hiob finden. Leviathan und Behemoth verbinden Schöpfung und jüngstes Gericht, denn sie, die Gott bei der Schöpfung als erste Werke schuf, sind nach dem Jüngsten Gericht zum Verzehr bestimmt, sie "werden dann zur Speise für alle die sein, die übrig sind", wie es in der syrischen Baruch-Apokalypse heißt. Heinrich Heine hat diese Überlieferung in einen ironisch gefaßten Disput zwischen einem Rabbi und einem Mönch eingebaut, der von den Vorzügen der jeweiligen Religion handelt: Leviathan heißt der Fisch, welcher haust im Meeresgrunde; mit ihm spielet Gott der Herr alle Tage eine Stunde. Und am Tag der Auferstehung wird der Herr zu Tisch beten alle frommen Auserwählten, die Gerechten und die Weisen - Unsres Herrgotts Lieblingsfisch werden sie alsdann verspeisen, teils mit weißer Knoblauchbrühe, teils auch braun in Wein gesotten, mit Gewürzen und Rosinen, ungefähr wie Mateloten.

Das jüngste Gericht, das Rotraut Pape den Betrachtern serviert, greift allerdings vor allem direkt auf die Offenbarung des Johannes zurück, die den Erzählfaden der Urgeschichte aufnimmt und in die postapokalyptischen Zeiten fortspinnt: "Wer überwindet, dem will ich zu essen geben von dem Baum des Lebens, der im Paradies Gottes ist ... Und er zeigte mir Bäume des Lebens, die tragen zwölfmal Früchte, jeden Monat bringen sie ihre Frucht, und die Blätter der Bäume dienen zur Heilung der Völker."

Rotraut Papes "sinnlich erfahrbare Erlebnisräume" bieten mit ihren Bezügen auf die abendländische Erzähltradition eine Fülle von Anknüfungspunkten für religiöse Deutungen, aber nicht nur das: sie stellen zugleich, wie die Jury der Transmedia '97 hervorgehoben hat, "virulente Fragen zum menschlichen Vermögen von Zu- und Eingriffen in den natürlichen Evolutionsprozeß". Ironisch und hintergründig stellt Rotraut Pape nicht nur unsere Welt, sondern auch die Betrachter und seine Wahrnehmungen in Frage: was ist real, was ist virtuell, was ist Real Virtuality?


© Andreas Mertin 1998
Magazin für Theologie und Ästhetik 1/1999
https://www.theomag.de/01/am7.htm