Freitag, 13. November 1998 Lieber Freund, als Sie mich neulich aus der Bretagne anriefen und sagten, daß Sie sich ein Essay zur Kunst wünschten, das ich dann am Abend Ihres Festes vortragen könnte, war ich zunächst erstaunt und dann erfreut ob der Möglichkeit, bei solchem Anlaß etwas thematisieren zu dürfen, das sich nicht mit den Verdiensten und den guten Wünschen für den Jubilar herumwindet. Meine Antwort war ein spontanes "JA", und ich platzte gleich mit einem Themenvorschlag heraus. Vieles in der augenblicklichen Situation der Kunst, oder genauer gesagt: der Kulturszene treibt mich schon lange um, in der kleinen Form des Essay festzuhalten. Ich nannte Ihnen schon in diesem Telefonat eine zentrale Frage, nämlich die Unterscheidung zwischen Originalität und Novität oder journalistisch ausgedrückt: Kunst versus Markt. Bevor ich mich hinsetze, um einige Gedanken in die Form der Sprache zu bringen, habe ich längst dutzende Anläufe des simulierten Ernstfalles gemacht - nur eben im Kopf. Da plötzlich läutet das Telefon, schaltet eine Ampel auf Rot oder ein anderes Geschehen in meiner Gegenwart zwingt mich zur Sache des Tages zurück, - dann sind auch die Anläufe schnell wieder verflogen, nach ein paar Stunden so verblaßt, daß sie die konkrete Form der diskursiven Folgerichtigkeit längst eingebüßt haben ... Um die Addition der Befassung mit unserem Thema methodisch zu rechtfertigen, fand ich die Lösung in Briefen, die ich nach und nach in der Vorbereitungszeit an Sie schreibe, um sie dann am Abend des Ereignisses vorzulesen: Heute, am 13. November 1998, beginne ich mit dem ersten. Ich hoffe, dabei auch den leichteren Ton zu finden, um mich den Mithörenden nicht allzu ungebührlich, was soviel heißt wie nicht über Gebühr akademisch, verständlich zu machen. Sie, verehrter Freund, kriegen zu diesem Punkt keinen Ablaß. Der rote Faden, so wenigstens am Beginn als Überschrift ausgedacht, soll um einen Punkt kreisen, den ich mit der Aktualität des Ästhetischen als ureigentliche Frage nach der Notwendigkeit der Kunst meine, ein Thema, das ich vor 10 Jahren strikt abgelehnt hätte, überhaupt anzufassen. Vor einer Woche fuhren meine Frau und ich nach Köln zur Kunstmesse; wie ich hörte, machten Sie am Wochenende ebenfalls einen Besuch dort. Wie bei solchen Ereignissen üblich, und vielleicht auch notwendig, ergriff uns - Ihnen erging es anders, wie ich hörte - dabei wieder der ganze Jammer mit der Kunst. Nicht, daß es nicht wunderschöne einzelne Artefakte gegeben hätte, die unsere Begehrlichkeit des Habenmüssens geweckt hätten, sondern die Sonderschauen der sogenannten jungen Künstler haben uns einen Trend gezeigt, der die Skepsis gegenüber der künftigen Richtung, die die Kunst einschlagen könnte, verstärkt hat. Dies wäre an sich keine aufregende Feststellung, denn in meinem Alter neigt man ohnehin dazu, die nachfolgende Generation zögerlicher zu rezipieren. Dies war zu fast allen Zeiten der europäischen Kunstgeschichte so, was mich weder beunruhigt noch zur Korrektur meines Nachdenkens führt und schon gar nicht zur jugendbewegten Begeisterung treibt. Wo stünden die Jungen, wenn sie sich nicht am Widerstand der Alten reiben müßten? Aber ist ein bildnerischer Einfall, ein gestischer Slapstick, eine winzige Materialverfremdung schon ein Artefakt? Reicht es, die Aufmerksamkeit der Besucher zu erregen, die sich dann gleich dem daneben präsentierten Gag zuwenden? Sicher ist die Dichte der Messestände ein grundsätzliches Übel, weil man beim Hindurchschlendern keine Zeit zum Verweilen aufbringt/aufbringen kann, da es in erster Linie um die Information, um den Überblick geht. Dies schadet besonders den zeitgenössischen Arbeiten, weil sie sich, im Unterschied zur klassischen Moderne, nicht mehr aus der Sinnenhaftigkeit heraus erklären, sondern aus der Kontextualität. Weil diese nicht selten allein in der Biographie ihres Schöpfers begründet liegt, ist sie auch dem willigsten Kunstfreund nicht ohne weitere Information zugänglich. Von daher kann eine Messe keine Kunstbegegnung sein. Aber der aisthetische Gag, also nurmehr der inszenierte Augenaufschlag, ist eine Kennzeichnung von U-Kunst. Jede Ladenstraße überbietet ihre Konkurrenz mit ähnlichen Einfällen, die von Designern und - leider oft auch - von Architekten erdacht worden sind: Wo ist da der Unterschied? Popart in unabsehbarer Ausbreitung, als Abfallästhetik oder Inthronisierung des Trivialen, als hypotropher Gebrauchsgegenstand mit leicht lasziver Anspielung. Ich mag einfach nicht, wenn mich alle möglichen Oberflächenjongleure zum fortdauernden Nachdenken anspornen wollen. Die Lust am Denken hätte ich gerne selbst bestimmt. Auf einer Messe natürlich scheint dies ein zu vernachlässigendes Argument, weil dort ja in erster Linie verkauft werden soll. Auch Kunsthändler müssen ökonomisch erfolgreich haushalten. Was meine ich mit diesen Beobachtungssplittern? Die Grenze zwischen Kunst und Warenwelt wird immer löchriger, das Design beherrscht als aisthetische Macht unsere Gesellschaft bis hin zum Wahlkampf. Für mich liegt darin eine politisch gefährliche Verpackungsstrategie: Parteitage, Sommerfestspiele, Wetten daß?, olympische Eröffnungsabende sind gleichermaßen vom Wahnsinn der aisthetischen Verführung getränkt wie eine Opernpremiere. Ich vergleiche nicht die Inhalte - so die sich überhaupt noch eindeutig ausmachen lassen -, sondern spreche von einer höchst professionellen Designregie. Zum Glück hält sich da die Messehalle selbst auffallend zurück, - oder habe ich den Charme der dortigen Infrastruktur verkannt? Ich bin jedenfalls nicht ganz unbeschädigt nachhause gekommen. Aber unsere beste Erinnerung an diesen Tag haftet doch an einem gelungenen Mahl mit Freunden beim Italiener in der Altstadt Kölns. Für heute sei's genug. Mit schönen Grüßen bin ich der Ihre OS. |
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Samstag, 14. November 1998 Lieber Freund, um mich meinem Thema zu nähern, will ich noch einen persönlichen Eindruck mitteilen. Im zurückliegenden Herbst waren wir wieder mit Studenten zwei Wochen in Frankreich, wobei wir kreuz und quer durch Burgund streiften. Von der Wucht der Romanik offensichtlich beeindruckt, aber auch von der Erfahrung des eigenen bildnerischen Stolperns ernüchtert, fragte mich eines Tage eine meiner begabtesten Studentinnen, eine Koreanerin, - wohin die Kunst sich nach meiner Einschätzung entwickeln werde. Trotz aller Skepsis gegenüber Zukunftsprognosen erklärte ich ihr - ja, mehr wohl meine Befürchtungen: Die Schere zwischen dem Kunstpublikum und den Kunstproduzenten klappt immer weiter auf, so daß in spätestens einer Generation das ästhetische Bedürfnis der meisten Zeitgenossen durch das massenhafte Alltagsdesign und die Medienspektakel befriedigt sein dürfte; die Künstler erreichen dann nur noch sich selbst und die Experten (wozu ich die Händler nur in den seltensten Fällen dazurechne). Zudem erschwert die scheinbare Realitätsbezogenheit der Medien die Rezeptionsvoraussetzungen für Kunst schlechthin - nicht nur der Produktionen des 20. Jahrhunderts, sondern auch der historisch gewachsenen. Es sei für mich eine ausgemachte Sache, daß sich nach einem Jahrhundert der realitätsfernen Künste das Bedürfnis der kunstzugewandten Zeitgenossen wieder hin zu mimetischen Kunstformen neigen wird, - zumindest in der surreal-manieristischen Ausprägung der Medien. Dieser Fehleinschätzung würden auch die Zeugnisse der europäischen Kunst der letzten 1000 Jahre unterworfen werden. Als Asiatin wollte meine Gesprächspartnerin zunächst die Prognose bezüglich der gesicherten alten Kunst in den Museen nicht einsehen, und ich mußte ihr erklären, daß um das Kunsthafte bei Rembrandt, Tizian, Raffael und Giotto zu verstehen, schon immer kontextuelles Wissen aus der Zeit Voraussetzung war - und der Ernst, sich auf Erkenntnisgewinnung einzulassen. Fürs erste benötige man (Aus-)Bildung, die längst nicht mehr in Schulen und Hochschulen vermittelt werde, und für das zweite, das Erkenntnisinteresse, müsse überhaupt ein entsprechendes Bedürfnis vorhanden sein, nur: Was kann man wollen von dem, was man nicht mehr vermißt? Ist nicht jedes Wohnzimmer nach den aisthetischen Bedürfnissen seiner Bewohner organisiert, ist nicht die Mode das schlagende Beispiel einer Alltagsästhetik? Mit diesen beiden Beispielen läßt sich mühelos nachvollziehen, wie die gestaltete Oberfläche mit der dichtesten Kontextualität, eben der der Verbraucher, verknotet ist. Wer kann da noch die schlichte Differenz von Form und Inhalt überhaupt nachvollziehen, ganz zu schweigen von einer hilfreichen ästhetischen Distanz, wie sie eine aufgeklärte Gesellschaft nötig hätte? Nebenbei gesagt war es diese Koreanerin, die vor den Glasmalereien in der Kathedrale von Auxerre eine so fundierte Synopse von Altem und Neuem Testament referierte, daß ihr die deutschen Kommilitonen nach kurzer Zeit nicht mehr zu folgen in der Lage waren. Ich sprach zu ihr als Kunstpädagoge, der sehr wohl weiß, wie oft das Ende der Kunst herbeibegründet wurde. Ich glaube nicht an das Ende der Kunst, nur an das Ende eines allgemeinen Bedürfnisses nach Kunst in unserer Zivilisation. Mit dem Ende der Aufklärung ist auch die Kunst zum spülmaschinenresistenten Konsumartikel verkommen. Sie blickte mich nur fragend an, worauf ich ihr geantwortet habe, daß es mehr denn je darauf ankomme, als Einzelner Kunst zu machen und an Kunst teilzuhaben, nicht mit der romantischen Maxime einer Veränderung der Welt, sondern weil Kunst immer noch die einzige Dokumentation des Denkens ist, mit der sich der Mensch als Mensch im Weltganzen auszeichne. Auf diese Keule hin zogen wir uns beide aus dem Gespräch zurück, - und ich beschließe meinen Brief hier, ohne die ontologische Frage nach Kunst weiter zu verfolgen. Herzlichst Ihr OS. |
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Sonntag, 15. November 1998 Lieber Freund, ich beneide Sie ob Ihrer Intimität zur Musik; sie hat das Realismusproblem trotz Pop und Heavy metal nicht, weil sie stets im nonfigurativen Element argumentiert. Das Mimesisproblem stellt sich in einem so abstrakten Medium wie dem der Töne wenig, - nur in der Schlichtheit der Gedanken verbindet sich U-Musik mit den übrigen Künsten. Das ist aber ein alter Hut, den wir hängen lassen können, wo er hingehört: bei der Kulturkritik. Sie kennen schon die Richtung, in die ich weiter gehen will! Immer wieder der Frage nachspüren: Wozu brauchen wir eigentlich Kunst? Und daraus folgernd: Welche Kunst glauben wir zu brauchen? In einer Zeit, in der es keine Vorgaben gibt, weder von oben noch von der Straße, was wir dafür zu halten haben, bieten sich als Parameter solche mit dem höchst möglichen Abstraktionsgrad an. Einer davon, der süffigste, weil er so unmittelbar einleuchtet, ist der der Originalität. Er hat den Vorsprung der gesellschaftlichen Akzeptanz, der anthropologischen Wünschbarkeit - wer möchte nicht die originellsten Enkel dieser Welt? - der künstlerischen Höchstbewertung und der ökonomischen Bonität. Er ist ein Erbe aus der Romantik, die ich im übrigen für die letzte bedeutende Geistesepoche der Deutschen halte, gefolgt von der zweiten, nicht mehr ganz so global akzeptierten des Expressionismus: Dieser manifestete unüberhörbar die drei Grundfesten Subjektivität, Spontaneität und Originalität, wobei aus heutiger Sicht geschlossen werden kann, daß die Originalität fast schon das Resultat aus den Grunddispositionen Subjektivität und Spontaneität verbürgt. Eine einleuchtende Position, und ich will mich einmal auf diesen Begriff Originalität einlassen; dazu ziehe ich ein paar erkenntnistheoretische Linien, um mich aus der kasuistischen Ecke herauszulösen. Was ein denkendes oder handelndes Individuum durch Sprache, Töne, Zeichnung, Malerei oder Plastik manifestiert, kann fraglos ohne eine bewußte Anlehnung an Lösungen anderer auskommen. Das Ergebnis ist in jedem Falle ein Erkenntnisakt, insofern es als dieses Ergebnis belassen wird (und z. B. nicht weitergeführt wird). Die Frage nach den Reflexionsbahnen, die das Urteilen und Handeln bestimmen, können einen weiteren Aufschluß darüber geben, wie das Repertoire, d.h. der Erfahrungshintergrund beschaffen ist, der zum Kunstmachen vorausgesetzt werden muß. Was darüber hinaus noch beim Kunstwerk notwendig ist, heißt - mit aller Vorsicht - das ästhetische Surplus, um mindestens auch seinem Produzenten die Gewißheit zu geben, nicht reproduziert oder gar plagiiert zu haben. Da bin ich am Spundloch der Diskussion angekommen. Das hinzukommende Surplus wäre danach als dieses Quantum an Un-Gewißheit benannt (nicht Unwissenheit!), - dieser nicht sogleich begründbare Verlauf, der zum Ergebnis geführt hat, der sich erst aus der zeitlichen Distanz erklärt und - wie wir wissen - oft erst nach Generationen. Einige sprechen beim Surplus vom Anteil des Bauches, andere von dem neben der Rationalität wirkenden Gefühl, - ich halte mich hierbei eher an eine Verkoppelung von geistes- und naturwissenschaftlicher Erklärung: der reflektorische Anteil am kunstproduzierenden Erkennnisakt - und ein Kunstwerk ist stets wie ein solcher zu halten - muß in jeder Hinsicht, also vor allem in Hinsicht auf die Handlung, als eine Einheit im Denken definiert werden, - denn die Hand wie auch die Sinnesorgane werden ausschließlich vom Gehirn gesteuert. Aber genug des Flirts mit den Synapsenbeziehungen. Um es auf den Punkt zu bringen: Ein originelles Ergebnis hat mindestens zwei Aspekte: der eine ist der der Beurteilungsmöglichkeit des Produzenten - also sein subjektiver Erfahrungshorizont bestimmt den Grad seiner Entscheidungen; und der zweite ist die intersubjektive Erfahrung, sprich die Summe aller Lösungen der Menschheit, die sich nicht notwendigerweise mit der subjektiven decken muß. Das gleiche gilt natürlich für den Rezipienten, weil alle Erkenntnisleistungen im Individuum wurzeln: Die Frage stellt sich hier ebenso nach dem verfügbaren Repertoire, nach einer schon früher oder woanders schon einmal gehabten Erkenntnis, Begegnung, Erfahrung. So folgere ich den einfachen Schluß, daß für viele Kunstteilhaber die Wertigkeit der Originalität durch den Umfang ihres Repertoires zu definieren ist. Daß mit den Horizontunterschieden treffliche Geschäfte zu machen sind, beweist jede Messe, jeder Gang durch die Kunstvereine und die Galerien aufs neue. Aber zum Schluß noch den Hinweis: Diese so zu beschreibende Originalität läßt mich natürlich selbst gut schlafen, da ich mich, mindestens in der Rolle als Vermittler und daher als Verbraucher, bequem an der Grenze meines eigenen Horizontes eingerichtet habe; doch davon das nächste Mal mehr. Ich hoffe darauf, daß Sie diese kleine Lektion bis hierher weiter gelesen haben und mir das Wohlwollen für einen neuen Anlauf bewahren. Herzlichst Ihr OS. |
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Montag, 18. November 1998 Lieber Freund, ich schulde Ihnen mindestens noch zwei Erläuterungen zum letzten Brief, die ich schleunigst und mit frischem Mut nachreiche: Die Sache mit der Kunstszene und ihren marktschreierischen Originallösungen; allzuoft wird man auch als Hinterwäldler hingestellt, wenn man die total neueste Kreation nicht zu erkennen vermag. Wir haben nun, Sie und ich und einige mehr, die uns zuhören, mehrere Jahrzehnte Markt im Überblick: Wo sind sie alle, die Preisträger des Jungen Westens, die Stars der Dokumentae, die Ausgezeichneten der Akademien der Künste? Natürlich hat sie der gierige Markt verdrängt, die Kontextualität der 50er und 60er Jahre, ja schon die der 80er verstellt sich heute unserem Blick. Aber war dabei nicht doch so manches mehr eine Novität, die als Originalität gepriesen wurde? Eben das, was der Horizont seiner Protagonisten, seiner Förderer und nicht zuletzt der seiner Bewunderer, hergab? Gemach mit einer nächsten, in Bezug der Definition von Originalität logischen Folgerung: Ich verweigere hier die Gefolgschaft, und das hat mit der zweiten Schuldigkeit aus dem letzten Brief zu tun. Ich komme nochmals auf die subjektive Bedingung der Originalität zurück, und zwar spreche ich jetzt ausschließlich als Rezipient: Wenn dieser für sich eine erkenntnisfördernde Begegnung mit Kunst erlebt, also sogar die Überschreitung seiner eigenen Horizonte dabei erfährt, halte ich dies für das einzig legitime Ereignis, das man mit und durch Kunst bekommen kann. Alles andere mag die Profis bewegen. Sie werden jetzt dazwischen rufen, ob das nicht letztlich zur Beliebigkeit in der Kunst führen muß. Das sehe ich auch so, habe mir aber - und ich glaube erfolgreich seit Jahren - vorgenommen, meine Urteile stets nur als subjektive einzuschätzen und hoffe sie auch nur mit dieser Einschränkung anderen zu vermitteln. Anders könnte ich mich niemals im Kreis der Kunstwissenschaftler sehen. Als Künstler vertrete ich sogar eine noch radikalere Position, indem ich mich erst gar nicht darauf einlasse, was ein Kollege für so wichtig erachtet. Der eigentliche Trick an der erkenntnistheoretischen Denkschiene ist doch der, daß ich weder mein Repertoire verallgemeinern muß, - das führt zu solchen beliebten Aussagen wie: Dieses oder jenes Werk ist keine Kunst; ich muß mir aber auch nicht von anderen etwas einreden lassen, was meine Synapsen nicht gleichermaßen zu verschalten bereit sind; dazu braucht es immer wieder nur ein wenig Einsicht in die Begrenztheit meiner Horizonte. Aber so demütig bin ich gar nicht, wie man jetzt schließen könnte: Ich halte mir nur den Rücken frei vor der Furcht, ich könnte etwas Wichtiges verpassen; da bin ich genug Historiker, um mich in der allersympathischsten Gesellschaft zu wissen. Jeder hält doch letztlich das für Kunst, was er dafür zu halten vermag. (Hony soit qui mal y pense!) Ihr OS. |
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Samstag, 21. November 1998 Lieber Freund, die auf dem oben beschriebenen Weg erreichte Aktualisierung des Ästhetischen durch den Rezipienten kann sich in Almeria auf Sizilien ebenso einstellen wie vor einem Bild im Museum, ob Tizian oder Picasso oder Jochen Goertz; die Fülle aller Kunstwerke aller Zeiten steht für uns bereit. Auch wenn es viele Lenker der Kunst nicht gerne hören: Warum soll nicht Goya der zündende Funken sein, um sich im Denken in den Fluß der Kulturteilhabe zu stellen. Der Rezipient ist doch der, der das Ästhetische in der reflektierenden Betrachtung aktualisiert, - sonst müßten wir konsequenterweise alle Pinakotheken für das Publikum verschließen. Und dort ist auch nicht alles originell; aber wenn sich der Horizont des Betrachters mit dem des durch das Artefakt vermittelten des Künstlers trifft, ist doch die Diskussion unserer Fernsehquartette obsolet. Das Glück der Horizontüberschreitungen entzündet mich immer noch an der Kunst. Vor allem macht mich der Zustand des Erkennens, der ja nur ein kurzer Moment ist, noch glücklich, und ich schließe daraus, daß Glück überhaupt nicht anders zu kriegen ist als durch die Bewußtheit, warum es einem in einem kurz bemessenen Augenblick so unverhofft gut geht, - doch dann ist es schon vorbei und nistet sich in unserer Erinnerung ein. Um sie ein wenig zu konservieren, müssen wir das eine oder andere Objekt unseres Glücks um uns herum haben. Diese Leidenschaft schafft Sammler, deren Sammeln manchmal Leiden schafft. Und sie stiftet Freundschaften, deren Grund im Qualitativen wurzeln. Novitäten ergeben höchsten Quantitäten. In diesem Sinne grüße ich Sie freundschaftlich Ihr OS. |
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