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Magazin für Theologie und Ästhetik


Loie Fuller

Grenzgängerin des Tanzästhetischen(1)

Petra Bahr

Brillenträgerin als Tanz-Ikone

"Sie konnte gar nicht tanzen. Ein wenig zu dick sei sie gewesen. Und sehr zurückhaltend. Intelligent, ohne Frage. Manchmal habe sie sogar eine Brille getragen. So ein Lehrerinnentyp aus Chicago." Die, sie so sprechen, sind ein wohlmeinender Feuilletonist, eine Schriftstellerin, ein Naturforscher. Sie sprechen über die Tanz-Ikone der letzten Jahrhundertwende, Loie Fuller.

1862 wird sie als Marie Louise Fuller in Illinois geboren. Die Puritanerin erhält eine gründliche Ausbildung, allerdings weniger im Tanz als in Philosophie und Wissenschaft. Sie gilt als hochbegabt und besucht das spiritistische Chicago Progressive Lyceum. Der Lehrplan ist hier geprägt durch den Transzendentalismus Thoreaus und Emersons. Doch dann nimmt sie Gesangsstunden und tingelt mehrere Jahre durch die Varietés, music halls und Theater Amerikas. Sie experimentiert schon früh mit freien Tanzsequenzen. In den Revues von New York macht sie sich einen Namen mit ungewöhnlichen Licht- und Bewegungsperformances. Das Vaudeville ist ihre Welt. Und die Temperenzbewegung, in der sie gegen die schädlichen Wirkungen des Alkohols kämpft. Loie Fuller, eine Patchwork-Existenz am Anfang der Moderne.(2)

Diese Amerikanerin avanciert zum Pop-Idol der Belle Epoque. Daß sie die erste Protagonistin des modernen Tanzes wird, ist zunächst nicht absehbar. Das große Europäische Ballett schien nach einer Revolution auch gar nicht zu verlangen. Während alle anderen Kunstformen, darstellende und bildende, die heraufziehende Moderne als ästhetisches Krisenphänomen bearbeiten und das Klassische für tot erklären, reüssiert das klassische Ballett auf den großen Bühnen Europas. Die Danse d'école erreicht 1895 mit der legendären Petersburger Aufführung des Schwanensee ihren Höhepunkt. Während Hofmansthal die radikale Sprachkrise beschwört, repetiert die Gebärdenrhetorik des Ballett getanzte Alexandriner. Das Ballett, in der ästhetischen Debatten längst genus minor, ist nicht Teil der exzessiven Suchbewegung nach neuen Formsprachen. Der klassische Tanz tradiert sich ungebrochen als symbolische Form neuzeitlich-höfischer Kunst.

Dann stürmen drei Amerikanerinnen den Kontinent: 1891 kreuzt Loie Fuller den Atlantik. Zehn Jahre später folgen Isadora Duncan und Ruth St. Denis. Die Opernbühnen sind besetzt. Also tanzen sie in den Museen, in den Varietés und in den öffentlichen Parks. Der Kampf gegen das Spitzenschuhwerk beginnt.

Der freie Tanz in all seinen Spielarten Rückt schnell in den Rang des heimlichen Leitmediums der noch jungen Moderne. Im freien Tanz reflektiert sich eine durch Bewegung definierte Epoche, bevor das Kino erfunden ist. Der Tanz ist die Kunstform, in dem sui generis erscheint, was Baudelaire als die dreifache Signatur der ästhetischen Moderne beschreibt: Der Wandel, das Flüchtige, das Zufällige (le transitoire, le fugitif, le contingent).(3)

Loie Fuller ist zu ihrer Zeit die exponierteste Vertreterin dieses neuentdeckten Mediums Tanz. Und sie ist zugleich eine in der Tanzgeschichte immer noch marginalisierte Figur. An ihr sollen die "Grenzen des Ästhetischen" gleich mehrfach thematisch werden. In der Schwellenzeit der jungen Moderne werden die Grenzverläufe auf der ästhetischen Kartographie immer wieder neu gesteckt. Demarkationslinien verwandeln sich in grüne Grenzen. Traditionelle Sperren werden einfach übersprungen. Neue Grenzübergänge müssen eingezeichnet werden.

Die Linie zwischen Kunst und Moral, zwischen Ästhetik und Politik ist um 1900 eher Zonenrandgebiet. Scharf bewachte Schwellenräume: der durchlässige Grenzverlauf zwischen der Kunst und dem massenkulturelle Terrain. Und der Übergang in das neue Reich der Technik.

Premiere: Eine Tänzerin verschwindet

Am 5. November 1892 avanciert Loie Fuller nach einem spektakulären Debüt im Folies-Bergère zum Star des Art Nouveau und des Symbolismus. Ihr Serpentinentanz macht Furore. Sie hüllt sich in einen überdimensionierten weißen Umhang aus Crepe de Chine, der aus lauter Dreiecken zusammengenäht ist. Den Bewegungsradius der Arme verlängert sie künstlich mit langen, sehr leichten Aluminiumstäben. Die Stäbe werden im Innern des Mega-Schleiers befestigt. So können die Arme die Stoffmassen bewegen. Das Publikum sieht weit mehr als eine choreographische Variante. Es sieht eine Revolution. Loie Fuller räumt die naturalistische Bühnendekoration zur Seite. Ein Beleuchtungsprogramm tritt an die Stelle des gemalten Bühnenbildes. Ihr Tanzraum ist ein klaffendes schwarzes Loch. Sie schafft das Rampenlicht ab. Vom Proszenium und von den Kulissenwänden kommt indirektes Licht. Über dem Zuschauerraum gehen die Kronleuchter aus. Man sitzt in einem völlig abgedunkelten Raum. Das hatte es zum ersten Mal bei den Festspielen Richard Wagners in Bayreuth gegeben.

Loie Fuller befreit den Tanz vom Erzählauftrag. Sie befreit ihn von der Rolle des Gebärdentechnikers unter dem Diktat der Musik und des Plots. Die Tänzerin ist nicht mehr in Bewegungsförmchen gegossene Narration, präzise, vorhersagbar, grazil. Tanz ist jetzt einfach Tanz. Der Tanzleib ist nur noch sich selbst mimetisch.

Torsionen: Femme fatale verweigert Spitzenschuh

Der vom Spitzenschuh befreite Tanzkörper bewegt sich anders. Eine virtuose Beinarbeit ist unter der Stoffhülle nicht möglich. Das normative Körper-Achsen-Kreuz ist abgelöst durch den Rumpf als neuralgisches Zentrum der Körperarbeit. Loie Fuller arbeitet immer an der Grenze der Balance. Der Oberkörper fällt nach vorne, richtet sich langsam wieder auf, um plötzlich nach hinten zu stürzen. Aus der Mitte, dem Solarplexus und dem Becken, erhebt sich die Spirale des Körpers. Torsionen und Rotationen, konvulsivische und konkave Krümmungen des Rückrads zeichnen Amorphien in den Raum. Die strenge Gebärdensprache des Ballett ist nicht nur außer Kraft gesetzt. Sie wird verhöhnt

Die tänzerischen Innovationen liegen aber gerade nicht in der Entwicklung einer neuen Kunstsprache des Leibes. Das leistet der Reformtanz, der einige Jahre später entsteht. Dort ist der Tanzkörper über die "Natürlichkeit" des Leibes codiert.

Bei der Uraufführung im Folies-de-Bergère im Herbst 1892 hat niemand im Publikum einen bewegten Frauenkörper gesehen. Weder einen klassisch Geschnürten noch einen reformiert-Befreiten. Die zuschauen, sehen ein schimmerndes Phantom immenser Draperien. Sie sehen fließende, wirbelnde, wallende Stoffbahnen. Eine auf Dauer gestellte Szenographie aus Licht und Textil, das in Bewegung ist. Jeder Bewegungsgraph wird durch den folgenden ausgelöscht. Jede Zuckung, jeder Körperimpuls erscheint Sekunden später erst auf der Gewebeoberfläche und breitet sich als Faltenwurf aus, zeitverzögert durch die meterlangen Kunstarme. Er ist als solcher ein immer schon vergangener. Irrisierende Endlosschleifen, buchstäblich. Der Schleier wird zum räumlichen Material. Die Farben des Spektrals wechseln mit gleißendem Weiß. Licht-Farb-Reflexe, zerstäubt in Funkenschwärme auf Metern flirrender Stoffbahn. Vertigo, getanzt. Der Tanzkörper löst sich auf ins Amorphe, wird schon von den ersten Textilwirbeln verschlungen. Das sieht der Besucher des Folies-Bergère: Wenn Loie Fuller tanzt, verschwindet die Tänzerin.

Metamorphosen: Pariser sahen Goethe tanzen

Statt der Tänzerin sieht der Besucher der Fuller-Premiere die Ornamente des Jugendstils, die in Bewegung geraten. Die linea serpentinata verwandeln sich aus der Zweidimensionalität der Fläche in die Stereometrie des Raumes und der Zeit. Das Decorum erscheint dreidimensional und wird fluid. Schlangenwelle, Kreis, Spirale und Trichterform verwandeln sich in rhythmische Schwingungen. Die auf Dauer gestellte Aneinanderreihung der Bewegungsfiguren ermöglicht die Erfahrung eines pulsierenden Zeitflusses. Der élan vital, sichtbar gemacht. Der vitalistische Geist der wird zum retinalen Ereignis.(4)

Die Serpentine, und damit die Spirale, ist das vitalistische Symbol des Energetischen schlechthin. Die Spirale, im esoterisch-monistischen Lehrgebäude als "Urform des Lebens" verstanden, ist die Raumfigur makrokosmischer und mikrokosmischer Naturformen. Sie erscheint im Rang einer metaphysischen und biologischen Kategorie zugleich. Die Spirale bildet das Gesetz der Metamorphose ab. Die räumlich und szenisch gewordene Auflösung und Verdichtung und Neuauflösung der Form bestimmt die Bewegungsgestalt des Tanzes. Das Gesetz dieser tänzerischen Metamorphose aber ist das Gesetz eines medialen Vorgangs in actio. Die Metamorphose unendlicher Bewegungszeichen erscheint als work in progress. Das Werk des Tanzes ist es, daß es sich, hic et nunc, von Moment zu Moment vollzieht. Der Inhalt des Tanzes ist der Prozeß selbst. Der Leitsatz Henry van de Veldes für die Ornamentik des Jugendstils wird in Loie Fullers Tanz im Folies-Bergère in Bewegung eingelöst: "Sie muß die Freiheit haben, nichts darzustellen."

An diesem Leitsatz wird die Amerikanerin in den kommenden Jahren weiter arbeiten. Noch sind es vor allem Formen der Natur, die sie faszinieren. Blütenkelche, Schmetterlinge, Riedenvögel, Windrosen. Der Subtext dieser tänzerischen Experimente findet sich in naturwissenschaftlichen Publikationen. 1899 erscheint Ernst Haeckels "Kunstformen der Natur", drei Jahre früher Wilhelm Bölsches "Entwicklungsgeschichte der Natur" (1896). Goethes Metamorphosenlehre reüssiert in der Relektüre bedeutender Biologen.

Fee de l'Electricité - die Tänzerin als Ingenieurin

Die eigentliche Innovation Loie Fullers liegt in der Technisierung ihrer Performances. Die Demarkationslinie zwischen Technik und Ästhetik verwandelt sich unter ihrer Choreographie in einen Schwellenraum. "Fee de l'Electricité" nennt man sie in den neunziger Jahren in Paris. Eine Zauberin im beginnenden Medienzeitalter ist sie, die in die Geheimnisse physikalischer Maßeinheiten eingeweiht ist. Ihre Leidenschaft ist das "kalten Licht" der Elektrizität. Gegen diese Lichtkälte setzt noch Walter Benjamin im Passagenwerk die Aura der flackernden, warmen Gaslampen. Der Trainingsraum der Fuller ist in den folgenden zwanzig Jahren ein Labor, das sie sich im Garten ihrer Hauses einrichten läßt. Mit mehreren Ingenieuren und Technikern arbeitet sie dort an immer ausgefeilteren Lichtchoreographien.

Die technische Revolution des Lichtes bringt die Verwendung der Kohlenfaden- Glühlampe, die auf Thomas A. Edison zurückgeht. Die Metropolen werden elektrifiziert. 1881, auf der ersten Elektrizitätsausstellung zeigen 19 Firmen ] 59 verschieden Glühlampen.(5) Bis in die dreißiger Jahre herrscht die Verzauberung durch die Elektrizität. Bis zur großen Kunstgewerbeausstellung in Paris, die mit dem gewaltigen Wandgemälde von Raoul Dufys "La Fee Electricité" als alles überstrahlende Allegorie des kulturtechnischen Fortschritts die "Lichter der Großstadt" präsentiert. Die Aufklärung als Illuminatio scheint endlich ins Technologische übersetzt. Das enthält - hier haben wir eine der üblichen Paradoxien der Moderne - mythologisches Potential. In der Tat war auch der künstlerische Umgang mit dem Licht meistens eine allegorischer. Denkwürdig zuerst 1881 an der Mailänder Skala mit dem gigantomanischen Ballett "Excelsior", das den titanischen Kampf des Fortschritts gegen den finsteren Obskurantismus als Kampf zwischen Lucia und Tenebrae deutet.(6) Bei einer Aufführung nähte man den Elevinnen Glühbirnen ins Tutu. Die Nüchternen unter den Bühnenelektrologen funktionalisieren die Lichttechnik für noch suggestivere Bühnenbilder. Waldgeister stieren jetzt mit rotenleuchtenden Augen. Und die Berghütten auf der Leinwand leuchten wirklich des Nachts dem Wanderer heim.

Loie Fuller geht einen anderen Weg. In ihrem Labor entstehen die Bedingungen für die fulleresken Lichtskulpturen, die sie in den kommenden Jahren in Paris und auf Gastspielreisen durch Europa und Amerika optimiert. Die Tänzerin als Ingenieurin. Sie arbeitet mit Projektoren, über denen farbige Glasplatten, ständig bewegt, kaleidoskopartige Farbeffekte zu erzielen. Sie benutzt fabrikmäßig gefertigtes Strukturglas und verfeinert den Effekt der Farbfilter. Überhaupt zählen alle transparenten Werkstoffe zu ihrem bevorzugten Material. Sie beschäftigt einen Chemiker, der mit unterschiedlichen Colorierungen probt. Sie entwickelt eine gelatineartige Masse, die, auf Glas gestrichen und angestrahlt, irisierende Lichtflächen erzeugt. Bei manchen Aufführungen beschäftigt sie über 40 Beleuchtungstechniker . Später können die meisten durch eine Art Lichtorgel ersetzt werden, mit der die komplizierte Lichtregie gemeistert wird. Loie Fuller arbeitet auch mit Diapositiven und mit Fotografien von Strukturoberflächen. Für ihr Stück "Nuages" projiziert sie eine Fotografie der Mondoberfläche auf die durch sie selbst bewegten Stoffmassen.

Exklusiv: Marie Curie als Kostümbildnerin

Loie Fuller nimmt mit Wissenschaftlern Kontakt auf. Als Popikone kann sie sich das leisten. Sie ist mit dem Astronomen Camille Flammarion befreundet, der die der Wirkung von Farben auf das organische Leben und die menschliche Psyche erforscht. Edison persönlich erklärt ihr die neusten Ergebnisse auf dem Gebiet des künstlichen Lichts: Die Beleuchtung mit Calcium, fluoreszierende Stoffe, Glüh- und Leuchtphänomene, die Strahlung und die Lichtbrechung verschiedener Werkstoffe. Sie hört von der Forschungen Becquerels, der mit fluoreszierenden Uransalzen arbeitete, um mehr über die Röntgenstrahlung zu erfahren. Das Ehepaar Curie wird daran anknüpfen und die Radioaktivität entdecken.(7) Die Fuller lanciert einen Briefwechsel mit dem Forscherpaar. Eine Freundschaft entsteht. Sie tanzt nicht nur auf der Feier zur Verleihung der Nobelpreise 1903 und 1911. Die Curies helfen ihr auch bei der Entwicklung einer Methode, mit der sich aus den Rückständen der Pechblende fluoreszierende Substanzen gewinnen lassen. Mit dieser Leuchtfarbe behandelt sie ihre Stoffebahnen. Es entsteht der "Radium Dance"(1904).(8)

Das Licht bekommt die Rolle. Der Körper verschwindet noch einmal.

Für Loie Fuller ist das elektrische Licht mehr als special effect oder Allegorie des Fortschritts. Die Elektrizität ist Medium ihrer Kunst. In ihrer den Körper transzendierenden Inszenierung kommt das Licht als Medium zweckfrei zu sich selbst. Der Dichter und Zeitgenosse Stéphane Mallarmé beschreibt ihre mediale Lichtkunst als "crudité électrique", in der die industrielle Revolution als ästhetisches Ereignis aufscheint.(9) Licht ist nichts mehr als Licht. Fuller erkennt in der Elektrizität das inhaltslose Medium schlechthin. "Je sculpte de la lumière" - "Ich forme das Licht" , so überschreibt die Tänzerin programmatisch ihr Schaffen. Die Paradoxie ihrer Tanzkunst ist hier auf dem Punkt gebracht: Nicht die Materie sondern die Welle formt sie, und zwar die Welle des Stoffes und des Lichtes. Nicht die Form sondern ihr Gegenteil, den Raum modelliert sie. Das Licht wird zum "Mimen der Verwandlung" (Carl Einstein). Es steigert sich vom Effekt zum bewegten Double der Tänzerin. Das Licht ist nun selbst der Tanzkörper. Die Grenzen des Ästhetischen verschieben sich. Das Technologische ist nicht mehr das Andere der Kunst. Die Kunst wird eine andere.

Tänzerin auf der Bühne skandiert

Loie Fuller konzeptionalisiert die Bühne. Sie erfindet neue Tanzräume und verwirft sie wieder. Ihr Bühnenraum ist nicht mehr der zufällige, fixe Ort des tänzerischen Experiments. Er wird zum dynamischen Umraum, der im Prozess des Tanzes als Raum erst räumlich wird. Programmatisch für die Reform am klassischen, toten Bühnenraum ist wiederum das Transparente und das Transitorische. Sie tanzt auf durchsichtigen Böden, die von unten beleuchtet werden. Sie tanzt zwischen hintereinander gehängten Gazevorhängen. Sie tanzt im Spiegelkabinett. Eine durchsichtige Glaswand trennt den Zuschauerraum von der Bühne und bildet zusammen mit zwei dahinter winkelig zugeordneten Spiegelflächen einen dreieckigen Raum. In die Winkel sind weitere Spiegelflächen eingelassen. Der Raum erscheint nun in viele Facetten zerlegt. Das Publikum erlebt eine multiplizierte Tänzerin im Inneren eines Kaleidoskops. Ist der Zuschauerraum hell ausgeleuchtet und der Bühnenraum finster, wechseln Publikum und Künstlerin die Rollen. Jetzt spiegelt sich im Glas der Zuschauer.(10)

In anderen Tanzexperimenten tanzt sie auf einer Spiegelfläche, die durch einen horizontal gehängten Gegenspiegel über ihrem Kopf zurückreflektiert wird. Dem Zuschauer verschwimmen die Kategorien von Oben und Unten. Zwischen den Spiegeln inszeniert sich ein wunderlicher Gravitationsverlust. So ermöglicht der "Mirror Dance" den Eindruck von Schwerelosigkeit. Die Szenographie der Schwebens transformiert das Elevationsprinzip des klassischen Balletts.

Andere Tänzerinnen entdecken wenig später die Lust am Fall. Ihr ästhetisches Prinzip ist der Erdboden. Das Grave und die permanente Sturzgefährdung im Kampf mit der Balance prägt die Körperrethoriken des frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Erst dem Futuristen Marinetti wird der Tänzer als martialischer Flugmensch zum anderen Ikarus (Danse de I'Aviateur).

Die Fuller reizt das Antigrave. Ihr Tanz soll aviatorisch sein. Schwebemächtigkeit statt Sturzgefährdung ist ihr Manifest. Das Verschwinden des Tanzkörpers in der Kinesphäre der permanent verschwindenden Lichterfiguren hat auch ohne das Spiegelspiel ein Moment von Schwerelosigkeit. Das ist eine konsequente Folge ihres Willens zur Abstraktion.(11)

Gesamtkunstwerk gestohlen

Die bühnentechnischen Innovationen zu Anfang dieses Jahrhunderts verbinden sich übrigens nie mit dem Namen Fuller. Neben den reformerischen Arbeiten von Adolphe Appia, Edward Gordon Craig und Max Reinhardt ist von ihrer Pionierleistung nicht die Rede. Bei Reinhardt lassen sich immerhin direkte Einflüsse von Fullers Tanz nachweisen. Nur Carol-Berard, einer jener Verfechter der theatralischen Synästhesie von Musik, Bewegung, Licht und Raum, zu denen auch Srijabin und Kandinsky gehören, rühmt Loies Lichtkunst. Sie ist ihm die bislang einzige Realisierung dessen, was er für seine "Chromophonie" als Vision des Gesamtkunstwerks postuliert.(12)

Daß der Name Fuller im Register der "Geschichte der Beleuchtungsreform" fehlt, hat einen einfachen Grund. Das gefeierte Idol der Pariser Kunstszene, der von Toulouse-Lautrec über Rodin zu Mallarmé und dem Futuristen Servenni alle applaudieren, ist doch nur die "Varietekünstlerin aus dem kulturlosen Amerika". Es ist vermutlich gerade die qua Biographie verkörperte Verschmelzung von elitären Avantgardemomenten mit der modischen Volkskunst des Entertainments, die die Fuller inspiriert. Aber an dieser Grenze des Ästhetischen wird immer schon scharf geschossen.

Die Impulse des Unterhaltungstanzes sind zahlreich. Eine auf Multimedialität angelegte Show, der Einsatz neuester Technik, das formale Segmentierungsprinzip der Nummernrevues. Das kalkulierte Spiel mit Improvisation und Parodie. Eine Tanzkultur, in der nichts erzählt wird. In der der Tanzkörper selbst attrahiert. Die Gebärdensprache der Tänzerinnen gleicht eher dem Italienischen als dem Latein. Sie ist lebendig und verändert sich ständig. Hier liegt ein Affekt gegen das klassische Ballett. Es sind wiederum die Futuristen um Marinetti, die gerade in der Herkunft der Fuller aus der Welt des Spektakels und der Performances vom Fließband ihre spezifische Modernität erkennen.(13)

Der Schleier als Leinwand

In der Version des synästhetischen Gesamtkunstwerks aus Licht, Raum, Geschwindigkeit, Farbe und Klang wandelt sich auch die Funktion des Tanzkleides. In der Kunst des Fin-de-siècle, auch in der langsam aufkommenden freien Tanzkunst, ist der Schleier, der Schal und die Robe ein zuweilen recht strapazierten Emblem des Erotischen und des Exotischen. Der Schleier als verhüllendes Versprechen auf Mehr wird zum sehr durchsichtigen Gewebe festgeknüpfter Weiblichkeitsmuster . Er ist Spielzeug der femme fatale ebenso wie der Stoff enigmatischer Poetologien. Für den exotischen Tanz der Salomé, für die Pathosformeln der Elektra, der Medusa, wie er sich mit dem expressiv leibzentrierten Tanz einer Ruth St. Denis oder Isadora Duncan verbinden, wird der Schleier zum Symbol der Körperrepräsentation. Der Schal, meist durchsichtig, aus Seide oder feiner Mousseline, erscheint als ein bewegtes Gewebe im erotischen Spiel des Zeigens und Verhüllens, des Markierens und Verschleierns. "Der durch die Stofflinie textierte Körper der Tänzerin wird zum Vexierbild des Begehrens."(14)

Der Stoff markiert dagegen bei Fuller den Übergang vom Körper in den Raum. Aus der Demarkationslinie zwischen Körperkontur und Um-raum wird eine vager Einzugsbereich, der die Kontur löst in die Amorphie. So entfaltet schon die Draperie den transitorischen Akt des Tanzens selbst. Der Körper verbirgt sich erst und verschwindet dann. Hinter diesem Textil ist es nicht nackt sondern leer. Der Stoff fließt um ein verborgenes Zentrum, das leer, ohne Bedeutung ist. Der Schleier erhält so immer mehr die Funktion einer Projektionsfläche des Lichts. Das Tanzkleid wandelt sich zur Leinwand.

Von der Kinästhetik der Loie ist es nur ein kurzer Weg zur Kinematographie. Aber erst 1919, im Alter von 57 Jahren wendet sich Fuller sich dem Kino zu. Sie ahnt, daß die auf Zelluloid gebannte Inszenierung aus Licht und rasanter Bewegung ihre Performance ablösen wird. Ihren ersten Film, "Le Lys de la vie", zählen Cineasten zum "cinema pur", wie es von Marcel Duchamps, Man Ray und Rene Clair propagiert wurde. Rene Clair spielt die Hauptrolle in der ersten Regiearbeit der Tänzerin.(15)

Danse Mystique: Kunsthistoriker kam immer zu spät

Loies Bühnenkunst entwickelt sich von den Metamorphose der Formen der Natur in den 90er Jahren immer stärker hin zur Abstraktion. Suggerierte das Metamorphotische ihrer Aufführungen mit seiner internen Gesetzmäßigkeit noch eine Art zwingenden, rhythmischen Bewegungsablauf, gewinnt ihre Show jetzt immer mehr die chaotische Raumfigur des Mobile. Auch die Gesetzmäßigkeit des Motorischen selbst dynamisiert sie. Still und motion charakterisiert ihre Szenographie. Sie arbeitet mit Verlangsamungen und Beschleunigungen, mit Zeitraff- und Zeitlupeneffekten. Das Cineastische amalgamiert zunehmend das Tänzerische.

Ihr Drang, das Sichtbare unsichtbar und das Unsichtbare sichtbar zu machen, kulminiert in jenen Darbietungen, in denen das Licht Gegenstand und Medium, Thema und flüchtiger Tanzkörper ist. Die Tänze heißen jetzt "Lumiere et tenebre" (1899) oder "Danse ulta- violette" (1911), In einer Aufführung läßt sie in dem üblich schwarzen Bühnenraum einen Lichtkegel tanzen. Das Tänzeln des Lichtstrahls durchkreuzt sie immer wieder in wellenflügelartig rotierenden Seidenbahnen. Lemurenhaft verwandelt sich der Seidenschwindel in eine zuckende Lichterscheinung. Dann taucht sie wieder in das Nichts zurück. Das geschieht nicht im Takt der Musik.

Der Kritiker und Kunsthistoriker Julius Meier-Graefe schreibt im Jahr 1900: "In einem der tollen Tänze, wo man kaum noch den Farben und Linien zu folgen vermag und man wieder mit der Sehnsucht dahinterherhetzt, um einmal nichts mehr von ihr zu sehen, nur dieses Steigen und Fallen der Schleier, da verschwindet sie plötzlich, löscht aus. Es ist ganz dunkel, aber in dem Dunkel bewegts sich, es sind glühende Punkte, die tanzen, es ist wie ein Tanz von Glühwürmchen, wie von Sternen. Sie ziehen weite, feurige Kreise, stellen sich in leuchtenden Bergen nebeneinander, durchschlängeln sich, nur Punkte; kein Atom von menschlichen Bewegungen, von etwas Körperlichem, Ornamente von einer Kühnheit, einer Reinheit, einer Mystik. La Danse Mystique."(16)

Der Tanz mündet bei Loie Fuller in die tänzerische Erforschung der Medien und der Materialität der Zeichen. Nicht Zeichensetzung sondern permanente Zeichenlöschung, nicht Gestaltsetzung sondern Gestaltlöschung - die emphatische Markierung der Zeichen-Leere wird zum Inbegriff ihrer tänzerischen Poiesis. Und der Zuschauer hastet mit dem Auge hinterher, er kommt immer zu spät und sucht nach Bildern für das was er gesehen hat. Der Übergang zwischen Nicht-Mehr und Noch-Nicht ist immer schon vergangen.(17)

Zauberlehrling trifft auf Geister

Der technologische Subtext des Tanzes der Loie entpuppt sich als Palimpsest. Ist die Prima-Vista-Schrift des Naturwissenschaftlichen abgetragen, erscheint die Geheimschrift der Spirituellen. Das Wort Zeitgeist auf der letzten Jahrhundertschwelle noch nicht verweltlicht. Dieses Phänomen nennt der Kunsthistoriker Beat Wyss den "doppelten Boden der Moderne".(18) Auf diesem Boden tanzt die Loie. Ihr Interesse ist das Interesse ihrer Zeitgenossen: - das Unsichtbare sichtbar zu machen. Vom Materialisieren, Messen und Methodologisieren unsichtbarer Phänomene ist ihre Generation besessen. Das fluidale Gewölk dieser "Mentalität" dringt in die Labors und die Ateliers. Es prägt die Kunst und die Wissenschaft. Der Schub des Fortschritts geht einher mit der Ausbreitung esoterischer Gemeinschaften. Die Theosophie von der Stange ist Mode in den Metropolen Europas. Ihr Designist eine szientifische Rhetorik. Rutherfords Entdeckung 'Kernstruktur der Atome" von 1897 wird hymnisch begrüßt. Die Ersetzung der Materie durch Kraft liegt ganz im Trend der neuen Zeit. Im Geistkosmos ist der Mensch als Leib nichts anderes als ''ein Verdichtungsphänomen" der Weltseele. Für Helen Blavatsky ist die Elektrizität eine Emanation des "Life of the Universe". Ihr junger Assistent heißt Rudolph Steiner.

Loie Fullers selbst ist geprägt vom Transzendentalismus Thoraus und Emersons, als sie Amerika verläßt. In Paris trifft sie auf die europäische Spielart pantheistischer Welterklärung mit naturwissenschaftlichen Mitteln. In den neunziger Jahren versucht der Pariser Arzt und Parapsychologe Baraduc, mit technisch-experimentellen Mitteln den Nachweis der Seele zu erbringen. Er erfindet einen "Biometer", der die Strahlung menschlicher Lebensenergie messen soll.

Eine wichtige Rolle in der Geistertechnik erhält die Fotografie. Mit unbestechlichem Okular fixiert die Kamera, was dem Gesichtssinn entgeht: Den Bewegungsablauf des Vogelflugs, die Strahlung des Radiums, die Energie einer Tänzerin. Auf der Weltausstellung 1900 präsentiert sich die Chronomatographie auch mit einer Studie des Serpentinentanzes. Fasziniert blickt jeunesse duree der Jahrhundertwende auf die Transzendentalphotographie . Auf dem Fotokarton zeigen sich Astralkörper, Geister von Verstorbenen, den Lichtnebel einer Wahnsinnigen - der Schauer ist schick. Er vervielfältigt sich über die moderne Reprotechnik. Einschlägige Journale, z.B. "Die übersinnliche Welt" prägen eine ganze Generation. Auch Kandinsky gehört zu den Lesern.(19)

Das Vakuum, die Strahlung, die Schwerelosigkeit, das Licht, alles hat eine Bedeutung ad usum hermeticum. Alle Topoi der Tanzperformances Loie Fullers lassen sich exoterisch und esoterisch lesen. Technikbegeisterung und Geistertechnik. Das Experiment im Labor versteht sich auch als Versuch, spirituelle Energie mit Hilfe der captatio lucis zu materialisieren.

Traumtänzerin Madeleine G. in M. - Nietzsche für Sie immer dabei

Eine "positivistische Larve" (Beat Wyss) des Spiritualismus, genährt von der Lebensphilosophie, ist die Psychiatrie. Hier, in den Kliniken, triff man auch die ersten Bacchantinnen der Moderne. Aus dem Patientenzimmern schickt man sie auf die Bühne. Die ekstatischen Bewegungen der Traumtänzerin Madeleine G., die 1904 in München aufsehenerregende Séancen präsentiert, werden als dionysische Tänze interpretiert.(20) Hysterie und Hypnose - Ein anderer Grenzübergang des Ästhetischen öffnet sich - nicht nur in Wien. Im Somnambulen, im ekstatischen Moment des totalen Kontrollverlustes, werde die Energie des Unterbewußten sichtbar, schreiben begeisterte Kritiker. Tanz sei endlich wieder Bewegungsrausch, jubeln die Ursprungsmythologen und blättern in Nietzsches Geburt der Tragödie. Der Orgiasmus dieser unbeabsichtigten Bewegungsform und der rituelle Charakter der reinen Expression prägen zukünftig den freien Tanz von Mary Wigman über Hans Brandenburg bis zu Gret Palucca.(21)

Der Übergang vom Individuellen zum Transpersonalen, der Moment der Überschreitung in den Bereich anonymer Energie, das ist es, was Loie Fuller an der Hypnose interessiert. Sie interessiert sich für die geheime Ordnung des Informellen. Zu regelmäßigen Teilnehmern von spiritistischen Sitzungen gehört übrigens auch das Ehepaar Marie und Pierre Curie. Die letzte Jahrhundertwende ist noch in einem ganz anderen Sinne ein Medienzeitalter.

Flucht aus dem Purgatorium des Körpers

Das frühe medienästhetische Projekt avant la lettre, der Tanz der Fuller, läuft darauf hinaus, aus der materiellen Welt eine Bilderwelt zu machen.(22) Eine energetische und synästhetische Welt, die ihre Stofflichkeit getrost verlieren kann. Mediatisierung hat aber nicht nur technischen, sondern religiösen Charakter. Fuller nimmt nicht nur die ästhetische Form des Kinos vorweg sondern greift auch auf die uralte Form der Kontemplation zurück. Ihre Telematisierungsversuche in Lichtskulptur und Bewegung sind auch Purifikationen. Der doppelte Boden der ganz frühen ästhetischen Moderne verläuft über die uralte Unterscheidung von Rein und Unrein. Das Reinheit ist Stofflosigkeit.(23) Der dreckige Fleck des Körperlichen ist ausgerieben. Das Verschwinden des Körpers in der visalisierten Bewegung ist nicht nur subjektkritisch, es ist auch mystisch aufgeladen. Das Reine am Tanz der Fuller hatte Julius Meyer-Graefe bei seinem Anblick beschworen. La Danse Mysthique hatte er ausgerufen. Ob auch hier gelten darf, daß das Spirituell-Religiöse ins Ästhetische aufgehoben ist, bleibt eine offene Frage. Eine diesem Kreis vertraute Grenze des Ästhetischen tut sich auf.

Tänzerin als Simulacrum

An ganz anderem Ort schlägt die Tänzerin Fuller im Grenzstreifen des Ästhetischen erstaunliche Kapriolen. Die Tänzerin verfaßt keine Manifeste. Sie entwickelt keine Tanztheorie wie Mary Wigman oder gar eine Tanzschrift wie Rudoph Laban. Sie meldet jede ihrer Erfindungen beim Patentamt an. Die Patentnummer ist für sie Sicherungsmöglichkeit der Authentizität künstlerischer Produktion unter den Bedingungen der Moderne. Loie Fuller beantwortet damit die Frage nach der Kunst im Zeitalter technischer Reproduzierbarkeit auf ihre Weise, gänzlich unemphatisch, bevor die Frage für den Kunstbegriff überhaupt virulent wird. Folgerichtig sprechen nun auch Rezensenten und Kritiker davon, eine Fuller, nicht die Fuller, gesehen zu haben. Die Karriere der Fuller sekundieren viele Plagiatinnen. Bereits zwei Monate nach Loies Debüt in Paris führt Marie Leyton im Londoner Tivoli einen Serpentinentanz auf. In Paris waren teilweise bis zu drei Nachahmerinnen zu sehen. In der Zeitschrift Le Theatre von 1898 ist auf einer Doppelseite die Fuller abgebildet und daneben, in identischer Pose, ihrer Imitatorin Madame Montalbert.(24) So wie ihr individueller Körper im Tanz in überindividuelle Lichtchoreographie verschmilzt, verschmelzen auch Erfindung und Reproduktion, Original und Imitat. Die Fuller erscheint als Simulacrum.(25)

Endlich: Tanz und Text inflagranti

Suchte man nach einem paradigmatischen Tanz, einem Symbol der Tanzkunst der Loie Fuller, so wäre wohl der Feuertanz Inbegriff ihres tanzästhetischen Programms. Die Flamme als Kippfigur zwischen Geist und Materie symbolisiert den Prozeß der Bewegung. In ihr verdichtet sich die äußerste Konsequenz der Aufführung, ja der Löschung des Körperlich-Materiellen. Eine Inszenierung dieser Eliminierungsmetamorphose zeigt sich in Loie Fullers Solo "Danse du Feu" 1894. Zum "Walkürenritt·' Richard Wagners tanzt sie auf einer großen Glasplatte, die in den Bühnenboden eingelassen ist. Von unten schicken die Lampen und Projektoren rotes, orangenes und weißes Licht. Die Lichtkaskaden fließen über das rhythmisierte Kleid in XXL. Vor den Augen des Zuschauers entsteht die frenetische Bewegung des Elements selber. Auch in diesem Sinne könnte der Tanz als heimliches Leitmedium der frühen Moderne verstanden werden:

"Prototypisch für die Kunstwerke ist das Phänomen des Feuerwerkes, das um seiner Flüchtigkeit willen und als leere Unterhaltung kaum eines theoretischen Blicks gewürdigt wurde; einzig Paul Valery hat Gedankengänge verfolgt, die zumindest in seine Nähe führen. Es ist eine apparition (eine Himmelserscheinung) kat'exochen: empirisch Erscheinendes, bereit von der Last der Empirie als einer Dauer, Himmelszeichen und hergestellt in eins, Menetekel, aufblitzende und vergehende Schrift, die noch nicht ihrer Bedeutung nach sich lesen läßt. Die Absonderung des ästhetischen Bereichs in der vollendeten Zweckfreiheit eines durch und durch Ephemeren bleibt nicht dessen formale Bestimmung. Nicht durch höhere Vollkommenheit scheiden sich die Kunstwerke, sondern gleich dem Feuerwerk dadurch, daß sie aufstrahlend zur ausdrücklichen Erscheinung sich aktualisieren. Sie sind nicht allein das Andere der Empirie: alles in ihnen wird ein anderes."(26)

Zugegeben, ein heikles misreading der Passage aus Adornos ästhetischer Theorie, so ganz zum Schluß. Ich zitiere eine Passage, die sich nicht auf den Tanz bezieht. Aber es ist jener Paul Valery, von dem Adorno spricht, der seine Poetologie an Tanzereignissen genau dieser Loie Fuller schärft und weiterentwickelt. Valery greift einen Reflex Mallarmés auf den absoluten Text im absoluten Tanz auf. Er entwickelt am Tanz eine ganze Medientheorie im "Laboratorium der Zeichen". Aber das ist ein anders Thema. Eine neuer Grenzgang deutet sich an.(27)

Mallarmé, der Zeitgenosse, erkennt im Tanz der Fuller die endgültige Absage an das Mimesisprinzip in der darstellenden Kunst. In einem poème critique aus den divigations interpretiert er Loies Tanz als ästhetisches Pendant zu seiner Konzeption einer "poesie pure."(28) In ihrem Tanz liest er eine écriture corporelle, eine körperliche Schrift im Raum. Die Bewegung um ein verborgenes Zentrum, das "leer" ist, produziert für ihn eine absolute Arabeske, die sich nur noch aus sich selbst fortrankt, ohne Referenzbezug. Seine Tanz-Lektüre findet das absolute Kunstwerk. Das Werk, der Tanz und die Dichtung, begründet sich nicht mehr durch den Autor oder die Tänzerin - beide verschwinden in den Spiralen ihrer Gewebe. Der eine verschwindet in der Textur, die andere in der Textilie.

Valéry paraphrasiert Mallarmé: "Die Tänzerin ist keine Frau, die tanzt: denn erstens ist sie keine Frau und zweitens tanzt sie nicht"(29)


Anmerkungen
  1. Vortrag, gehalten vor dem Arbeitskreis für Theologie und Ästhetik in Arnoldshain, Juni 1997. Der Vortragsstil wurde beibehalten.
  2. Zur Biographie c.f. Loie Fuller: Fifteen Years of a Dancer's Life, Boston 1913 (Reprint: New York 1977).
  3. "La modernite, c'est le transitoire, le fugitif, le contingent"- Charles Baudelaire: Le peintre de la vie moderne" (1863). In: Ders: Oevres completes, hrsg. v. Y.-G. Le Dantec, Paris 1954, 892.
  4. C.f. Gabriele Brandstetter/Bygida Maria Ochaim: Loie Fuller. Tanz. Licht-Spiel. Art Nouveau, Freiburg 1989, 107ff. Zum Zusammenhang zwischen Jugendstilornamentik und der Biologie um 1900: Siegfried Wichmann: Jugendstil Floral Funktional in Deutschland und Österreich und den Einflußgebieten. Katalog. Hrsg. vom Bayrischen Nationalmuseum München, Herrsching 1984.
  5. Wolfgang Schivelbusch: Lichtblicke. Zur Geschichte der künstlichen Helligkeit im 19. Jahrhundert, München 1983.
  6. C.f. Brandstetter/Ochaim, a.a.O., 118.
  7. Zum Paradigmenwechsel in der Naturwissenschaft um die Jahrhundertwende c.f. Kàroly Simonyi: Kulturgeschichte der Physik, Frankfurt a.M. 1990, 393-497.
  8. Sylvia Beach, die 1919 ihren berühmt gewordenen Buchladen "Shakespeare and Company" in Paris eröffnete, lemte Loie Fuller in dieser Zeit kennen. Sie beschreibt die Begegnung mit der Tänzerin: "Ich weiß noch, daß sie wie ein dralles, ziemlich gewöhnliches Mädchen aus Chicago aussah, ein Lehrerinnentyp mit Brille, und daß sie von den Experimenten erzählte, die sie im Zusammenhang mit ihrem Beleuchtungssystem gerade mit Radium anstellte". Sylvia Beach: Treffpunkt - ein Buchladen in Paris. München 1963, 10f.
  9. "L'exercice, comme invention, sans l'emploi, comporte une ivress d'art es, simultané un accomplissement industriel." Stéphane Mallarme: Ballets. In: ders.: Oevres complètes. Paris 1974, 303f.
  10. C.f. Brandstetter/Ochaim, 33.
  11. Zur Schwerelosigkeit als verstecktes Motiv der Moderne c.f. Jeannot Simmen (Hg.): Schwerelos. Der Traum vom Fliegen. Ausstellungskatalog, Stuttgart 1991.
  12. C.f. Carol Berard: La couleur en mouvement decor rationnel de la musique. In: La Revue musicale III, 147-161. C.f. auch Brandstetter/Ochaim, 108.
  13. C.f. Giovanni Lista: "Nieder mit dem Tango und Parsival". Die Futuristen und der Tanz. In: Karin Adelsbach (Hrsg.): Tanz in der Moderne. Von Matisse zu Schlemmer. Austellungskatalog der Kunsthalle Emden, 1996, 54-62.
  14. Gabriele Brandstetter: Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantegarde, Frankfurt 1995, 128.
  15. Brandstetter/Ochaim, 125.
  16. Julius Meier-Graefe: Loie Fuller. In: Die Insel, III, 1900, 105.
  17. Karl-Heinz Bohrer erkennt in der auf Dauer gestellten "Abschiedfigur" die Reflexionsfigur der ästhetischen Modeme. Cf. : Ders.: Der Abschied. Theorie der Trauer, Frankfurt a.M. 1996.
  18. Beat Wyss: Ikonographie des Unsichtbaren. In: Jürgen Stöhr (Hrsg.): Ästhetische Erfahrung heute, Köln 1996, 360-380;360.
  19. C.f. Wassily Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst, Bem 1952. C.f. dazu Beat Wyss: Der Wille zur Kunst. Zur ästhetischen Mentalität der Modeme, Köln 1996, 157ff.
  20. C.f. Pia Witzmann: "Dem Kosmos zu gehört der Tanzende". Der Einfluß des Okkulten auf den Tanz. In: Okkultismus und Avantgarde. Von Munch bis Mondrian 1900-1915, Schirm Kunsthalle Frankfurt, Frankfurt a.M. 1995, 600-645.
  21. Inge Baxmann: "Die Gesinnung ins Schwingen bringen". Tanz als Metasprache und Gesellschaftsutopie, in: Hans Ulrich Gumbrecht/ K. Ludwig Pfeiffer (Hrsg.): Die Materialität der Kommunikation, Frankfurt a.M. 1993.
  22. Zum Tanz in medientheoretischer Perspektive c.f. Judith B. Alter: Dancing and Mixed Media. Early Twenty Century Modem Dance Theory in Text and Photography, (New Studies in Aestethics 17), New York 1994.
  23. C.f. Mary Douglas: Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu, Frankfurt a.M. 1988; Dies.: Ritual, Tabu und Körpersymbolik, Frankfurt a.M. 1986.
  24. C.f. Abbildung 16-18 in Brandstetter/Ochaim, 130.
  25. Cf. Gabriele Brandstetter: "La Destruction fut ma Beatrice" - zwischen Modeme und Postmodeme: Der Tanz Loie Fullers und seine Wirkung auf Theater und Literatur, in: Erika Fischer-Lichte/ Klaus Schwind (Hrsg.): Avantgarde und Postmodeme. Prozeßstrukturelle und funktionale Veränderungen (Stauffenberg Colloquium 19), Tübingen 1991, 197ff.
  26. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, 13. Aufl. Frankfurt a.M. 1995, 125f.
  27. C.f. Paul Valéys Studie "Tanz, Zeichnung und Degas", Frankfurt a.M. 1996; das Kapitel "Tanz und Dichtung in der symbolischen Ästhetik: Mallarmé - George - Einstein - Valery - Rilke. In: Gregor Gumpert: Die Rede vom Tanz: Körperästhetik in der Literatur der Jahrhundertwende, München 1994, 149-198.
  28. Cf. Stephane Mallarmé: "Autre Etude de Danse". In: Ders.: Oevres Completes, hrsg. v. H. Mondor und G. Jean-Aubry, Paris 1945, 307-312. Die erste deutsche vollständige Übersetzung von Hans-Walter Schmidt. In: Brandstetter/Ochaim, 202f.
  29. Paul Valery: Tanz, 19.

© Petra Bahr 1999
Magazin für Theologie und Ästhetik 2/1999
https://www.theomag.de/02/pb1.htm