Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Magazin für Theologie und Ästhetik


Annäherungen

Zum theologischen Umgang mit Kinowelten

Andreas Mertin

Kulturtheologie oder Kulturhermeneutik?

Es ist eine bis heute nicht geklärte Frage, ob es zur Wahrnehmung dessen, was in der Kultur und spezifisch in der Kinowelt vorgeht, einer besonderen theologischen Akzentuierung bedarf. Brauchen wir eine Kulturtheologie, d.h. brauchen wir mehr als nur kulturhermeneutische Anstrengungen? Hier scheiden sich immer noch die Geister und man wird vielleicht davon ausgehen müssen, daß zwei alternierende Modelle gegeneinander stehen. Ganz sicher ist das aber nicht.

Die entscheidende Frage lautet: läßt sich aus der Kultur etwas religiös/theologisch Relevantes erheben, das wir ohne sie nicht wahrgenommen hätten? Es geht nicht darum, ob etwa in der Kultur die gleichen Fragen und Antworten wie in der Religion oder in der Theologie auftauchen, sondern darum, ob das Kino/die Kultur religiöse(!) Einsichten bietet, die andere sind, als die, die wir im Rückbezug und in der Vergegenwärtigung der biblischen Überlieferung gewinnen würden.

Unstrittig ist, daß das Verstehen und die Auseinandersetzung mit der Kultur der Gegenwart für theologische Arbeit als Zeitansage und Zeitdiagnostik notwendig ist. Theologische Ansätze, die mehr wollen, als das Verstehen von Kultur als Teil des Verstehens von Gegenwart, müssen zeigen, was sie über diesen Aspekt hinaus an religiösen oder theologischen Erkenntnissen gewinnen. Was ist also der Mehrwert einer kulturtheologischen gegenüber einer kulturhermeneutischen Erschließung des Kinos?

Zur Zeit sehe ich bei allen Ansätzen immer nur theologische Applikationen auf die Kultur bzw. auf das Kino und einzelne Filme. Dagegen spricht an sich nichts, nur rechtfertigt das noch keine Begriffe wie Kulturtheologie, wenn es doch nur um eine religiöse Deutung auf hohem Abstraktionsniveau geht. Daß ein äußerst weit gefaßter Begriff von 'Erlösung' auf Filme des 20. Jahrhunderts angewendet werden bzw. in ihnen entdeckt werden kann, was bringt das theologisch ein?(1)

Was Thomas Erne für die Kunst festhält, gilt auch für das Kino: "Modem wäre Kunst, die sich einem vorgängigen Wissen entzieht. Modernes Formbewußtsein hätte seinen Sinn in der kontingenten Autonomie, die sich moderne Kunst dadurch erobert, daß die Thematisierung der Form selbst zum Inhalt der Darstellung wird. Diese moderne Autonomie der Kunst kulminiert aber in der Frage nach einer angemessenen Rezeptionsweise, die den ästhetischen Widerstand gegen ein vorgängiges Wissen nicht in den subjektiven Folgen unterläuft, die die Rezeption an den Kunstwerken freisetzt."(2) Kulturhermeneutik wahrt den ästhetischen Widerstand gegen vorgängiges Wissen, während ihn jede Form von Kulturtheologie unterlaufen muß, indem sie Kunst zur Ausdrucksform von Religion bzw. Religion als Substanz von Kultur festschreibt. Wenn es stimmt, was Jörg Herrmann im Blick auf die "Botschaft" von Pulp fiction sagt, daß nämlich Machtverhältnisse über Sichtweisen entscheiden,(3) dann geht es an dieser Stelle um Macht, es geht m.a.W. um Deutungshoheit.

Mein Verdacht ist also, daß jede Kulturtheologie weniger ein Diskurs um Erkenntnis, als vielmehr einer um Macht ist. Es geht darum, ob die Theologie etwas von der ihr durch den kulturellen Differenzierungsprozeß der Moderne verloren gegangenen Deutungshoheit wiedergewinnen kann. Denn daran leiden Kulturtheologen offensichtlich sehr: daß die Theologie weder im Blick auf die Kultur(4), noch auf die religiöse Lebensdeutung ihren ursprünglichen Einfluß behalten hat.

Man wird auf eine Theologie, die einen besonderen Begründungszusammenhang für die Auseinandersetzung mit der Kultur herstellen will, gut und gerne verzichten können. Insofern Kino und Kultur Gegenwart und Zeitgeschichte repräsentieren, kommt keine Theologie an ihnen vorbei.(5) Gegen ein starkes Begegnungsmodell favorisiere ich daher ein schwaches Modell, das sich am kulturhermeneutischen Ertrag der Theologie im Blick auf die Kultur orientiert.

Phänomenologie des Ortes

Kirche und Kino - was auf den ersten Blick zunächst so different aussieht, hat dennoch überraschende Ähnlichkeiten (freilich bei äußerst unterschiedlichem Zielpublikum).(6) Da ist zunächst der ausgeprägte Schwellencharakter, den wir nicht nur beim Kino und der Kirche, sondern auch beim Museum antreffen.(7) Mit dem Überschreiten der Schwelle betritt man eine neue Welt, im Kino noch besonders markiert durch die Cerberusse, die vor den Toren wachen (in Kirchen erfüllt diese Funktion oft ein Presbyter oder der Küster). Es gibt eine ausgeprägte Liturgie des Kinobesuchs: Getränke und Nahrungsmittel holen am Anfang (in der Kirche sind es die Gesangbücher), ein freundliches Geplauder mit dem Sitznachbarn, das Warten auf den Beginn mit dem verstohlenen Blick auf die Uhr. Vorprogramm (im Kino wesentlich kommunikativer als in christlichen Kirchen, aber das ist - wie das amerikanische Beispiel Willow Creek zeigt - nicht zwingend so), Werbung, Abkündigungen (demnächst auf dieser Leinwand/in diesem Hause). Noch eine Unterbrechung und das Hauptprogramm beginnt.

Im Gegensatz zur Kirche hat das Kino allerdings noch keine rechte liturgische Formel für den Ausgang gefunden. Häufig wird schon beim Abspann das Licht angemacht und es werden die Türen geöffnet und die Besucher taumeln nach draußen. Sie kompensieren das in der Regel dadurch, daß sie die nächste Kneipe aufsuchen und das Gesehene bzw. Erlebte kommunikativ verarbeiten. Das aber gehört schon zu den weniger liturgisch vorgegebenen Strukturen, als vielmehr zu den Ritualisierungen des Kinobesuchs. Analog zu diesem Kneipengespräch bieten manche Pfarrer Predigtnachgespräche an, die sich allerdings reger Unbeliebtheit erfreuen. Zu den Ritualisierungen gehört auch, daß manche Besucher nur kommen, wenn ein bestimmter Pfarrer / Schauspieler / Regisseur beteiligt ist oder ein bestimmtes Genre (Action/Komödie/Familiengottesdienst) zu erwarten ist.

Kino wie Kirchen sind durch Konfessionen und Religionen geprägt. Während die Kirchen dies durch unterschiedliche Kult-Orte kennzeichnen, verläuft die Konfessionsgrenze bei Cineasten räumlich unsichtbar. Ob man Science-Fiction oder Horror, Zeichentrick oder Roadmovies, Actionserien oder Gefühlsballaden mag, ist die Frage der persönlichen "Religion". Manchmal gibt es ökumenische Veranstaltungen, weil sich ein Science-fiction-Film als ausgesprochener Horrorstreifen erweist oder der Actionfilm auch ein Roadmovie ist. Konfessionen gibt es auch auf pragmatisch-lokaler Ebene, im Blick auf den Kult-Ort. Manche lieben das alte Kino aus Opas Zeiten ebenso sehr wie andere ihre Dorfkirche. Auch "religionsgeschichtlich" gibt es Parallelen. Es hat lange gedauert, bis das Kino aus den Katakomben heraus gekommen und im Stadtbild auffällig geworden ist. Noch später hat sich die erst in Ansätzen abzeichnende Kathedral-Architektur des Kinos entwickelt. Wer mit dem Zug aus dem Süden nach Köln fährt, blickt inzwischen nicht nur auf einen alles überragenden Kölner Dom, sondern auch auf einen hell illuminierten Medienpark, der zwar auch noch nicht das Stadtbild prägt, aber dem Dom im Blick auf die Alltagsbedeutung durchaus den Rang streitig machen möchte.

Und dennoch gibt es entscheidende Differenzen. Ich möchte dies an der Figur des Bettlers verdeutlichen. Bettler sind eine genuin religiöse Existenzform. Davon hat mich nicht zuletzt Henryk M. Broder überzeugt, der in einem Band über Jerusalem einen Bettler im Stadtviertel Mea Shearim beschrieb, der nur dort sitzt, um den Vorübergehenden eine Spende zu ermöglichen. Warum aber gibt es keine Bettler vor den Kinos, wenn diese doch religiöse Institutionen sein sollen? Es gibt in der Filmgeschichte zahlreiche, es gibt brillante Filme über Bettler. Aber es gibt keine Bettler vor dem Cinemax. Warum? Über welches Gespür verfügen Bettler, daß sie sehr wohl zwischen dem Kino und der Kirche zu unterscheiden wissen? Das ist ein Punkt, über den Cineasten angesichts ihrer vorschnellen Rede vom Kino als Ersatzreligion durchaus einmal nachdenken sollten.

Ausgespart blieb bis jetzt noch das jeweils organisierende Zentrum beider Institutionen, also der Film bzw. die Predigt. In beiden Fällen handelt es sich um eine bestimmte Art von offenen Kunstwerken,(8) die - von den formalen Vorgaben her - ergänzungsunbedürftig sind und doch erst mittels der notwendigen Gefühls- und Reflexionsinvestitionen der Besucher zur Geltung kommen. Die ihnen notwendig vorab unterstellte Stimmigkeit läßt das Wahrgenommene anschließend nach Sinn und Aussage befragen. Was sollte diese Predigt, was wollte dieser Film sagen? Es wäre kurzschlüssig - und vor allem einseitig protestantisch - die Differenz zwischen Film und Predigt auf den Gegensatz von Wort und Bild zu fixieren. Denn ein guter Teil der christlichen Kirchen ist ja äußerst bilderfreundlich und bildorientiert.(9) Und an den entscheidenden Stellen (Drehbuch, Storyboard) ist das Kino eben nicht nur Bild, sondern vor allem Wort.(10) Ebenso wie die Kirche ist das Kino eine Erzählgemeinschaft - zumindest eine Gemeinschaft, die Erzählen in Gang setzt: Hast Du gesehen, wie DiCaprio ...? Und es gibt Indizien, die plausibel machen, daß auch das, was das Kino zu erzählen hat, mit der religiösen Erzählung konstitutiv verwandt ist. Entsprechend argumentiert auch Georg Seeßlen: "Alle populären Filme sind, mehr oder minder deutlich, Ableitungen der 'großen Erzählung', der fundamentalen Geschichte in der Bibel."(11) Wobei natürlich auch die griechische Mythologie einen großen Anteil an den Grundschemata von Hollywood-Produktionen hat. Nicht die Bildpredigt steht im Zentrum von Hollywood, sondern die Umsetzung mythologischer Strukturen in immer neue Bilder - ähnlich wie die Predigt eine erzählerische Grundstruktur in immer neue Metaphern umsetzen muß.

Religiöse Kritik

Das Verhältnis der Kirche zum Medium Film kann über weite Strecken als überaus kritisch im Sinne einer Abwehrhaltung bezeichnet werden. "Wesentliche Leitfrage der Anfangsjahre war, ob es möglich sei, das Medium Film »in bewußter Weltoffenheit einem moralischen Ziel oder der christlichen Verkündigung dienstbar zu machen.«"(12) Deshalb war es in den seltensten Fällen die Angst vor einer institutionellen Konkurrenz, die das Verhältnis der Kirchen zum Kino bestimmte. Vielmehr war es vor allem moralische, ja moraline Kritik, die sich hier äußerte. So wie auch bei der Fotografie, beim Videorecorder und aktuell beim Internet gehört zu den Geburtswehen vieler neuer Medien die Versprechung der Befriedigung bisher tabuisierter Gelüste. Die Fotografie erlaubte Einblicke, die bis dahin nur Privilegierten möglich waren, das Kino machte bisher nicht gesehenes allgemein zugänglich, Videorecorder und Internet verlagern entsprechende Einsichten in den nicht mehr zu kontrollierenden privaten Raum. Aus diesem Grunde verstand sich die Kirche lange Zeit als in vorderster Front im Kampf gegen Pornografie und Unzucht stehend. Entsprechend war religiöse Kritik des Kinos Moralkritik mit dem Ziel christliche Werte hochzuhalten und durchzusetzen.

Man kann sehr gut an der Geschichte der Reaktionen auf Ingmar Bergmanns Film "Das Schweigen" diese von der religiös-bürgerlichen Moral bestimmte Medienkritik studieren.(13) Es war nicht so sehr die pessimistische Perspektive auf den gesellschaftlichen Zustand, die seinerzeit die kirchliche und gemeindliche Kritik herausforderte, sondern vor allem die angeblich schamlosen sexuellen Szenen und Ausschweifungen. Es wäre allerdings verfehlt, dies der Kirche allein anzulasten. Vielmehr hat ein großer Teil der Gesellschaft seinerzeit äußerst moralin reagiert.(14) Ähnliches wiederholte sich zuletzt bei Martin Scorseses "Die letzte Versuchung Christi", mit dem Effekt, daß der Film gerade durch die religiös-kirchlich inspirierte Kritik aufgewertet wurde.Die Zeiten, in denen sich die christlichen Kirchen vor allem durch die negative Kritik des Kinos profilierten, sind jedoch lange vorbei. So ist gerade auch in der evangelischen Kirche eine positive Kultur der Auseinandersetzung mit dem Kino und dem Film entstanden. Hingewiesen sei nur auf Periodika wie die Zeitschrift "epd-Film", oder die Fachzeitschrift "medien praktisch". Beides sind veritable Auseinandersetzungen mit der Medienwelt, gelesen auch von denen, die im Bereich des Films arbeiten. Eine Jury der Evangelische Filmarbeit hebt zudem jeweils einen "Film des Monats" hervor, den sie aus dem laufenden Filmangebot als lohnenden und interessanten Film auszeichnet.

Im neuesten Kulturpapier der evangelischen Kirche erscheint das Kino allerdings nur noch am Rande als Bestandteil der Konsum- und Medienwelten der heutigen Jugendlichen, in welchen glücklicherweise ab und zu noch religiöse Relikte auftauchen. Dort heißt es unter dem Stichwort Jugendkultur: "Jugendliche kommen mit religiösen Sinnangeboten und religiöser Praxis vor allem durch Fernsehen, Film und Musik in Berührung ... Viele der heutigen Jugendlichen sind Medien- und Konsumkinder, wichtige Bestandteile ihrer Kultur sind Musik, Mode, Sport, Kino, Medien, Computer, Kneipen und eigene Sprachformen ... Durch ihre Freizeitkultur werden Jugendliche im Alltag allerdings stärker mit Religion, Kirche und Glaube konfrontiert, als ihnen selbst bewußt ist. Oft genug sehen sie in Kinofilmen oder Fernsehserien kirchliche Trauungen, bei Beerdigungen ist meist noch der Pfarrer dabei."(15) Im Rahmen dieser restringierten Beschreibung scheint es, als hätten zumindest die offiziellen Institutionen der evangelischen Kirche das Medium Kino endgültig abgeschrieben. Jedenfalls wird das produktive Moment des Kinofilms als inzwischen gesellschaftlich anerkannter Generator von Antworten auf die Sinnfrage kaum realisiert bzw. nur geringschätzig (Medien- und Konsumkinder!) wahrgenommen.

Religiöse Motive

Es gibt - wie bereits angeklungen - vermutlich so gut wie keinen erfolgreichen Kinofilm, der nicht von religiösen und/oder mythischen Motiven getragen wird. Nicht immer ist das so offensichtlich wie in Terminator II, wo bis in die Namengebung der Handlungsfiguren die christliche Heilsgeschichte aufgegriffen wird. Aber auch andere Kinofilme referenzieren (nicht nur ironisch) die biblische Heilsgeschichte, etwa "Sieben", "Im Auftrag des Teufels", "Jesus von Montreal", "Das Leben des Brian" und viele andere mehr. Oftmals geschieht das Alles natürlich nicht im Sinne der expliziten Aufnahme biblischer Gestalten, eher im Sinne der Verarbeitung biblischer Konstellationen. Deutlich erkennbar ist auch die Vorliebe des Hollywood-Kinos für der religiösen Vorstellungswelt entnommene Fimtitel: Resurrection - Armageddon - Jugdement Day usw.

Jedenfalls ist das Vorkommen expliziter Motive der christlichen Erzählgemeinschaft mehr als auffällig. Man könnte dies vereinfacht damit erklären, daß die populären Filme für den Markt gemacht werden und daß sie deshalb Motive wählen und bearbeiten müssen, die von einem möglichst weiten Kreis von Menschen wiedererkannt und verstanden werden. Und das ist natürlich bei den einzelnen Motiven der Erzählwelt des Christentums der Fall. Ob dies aber eine hinreichende Erklärung für die Beliebtheit christlicher Stoffe ist, sei dahingestellt.

Religiöse Deutung und Exploration von Religion in der Alltagskultur

In der neueren praktisch-theologischen und theologisch-kulturhermeneutischen Diskussion herrscht weitgehend Einigkeit darüber, daß das eigentliche Ziel der theologischen und religionspädagogischen Beschäftigung mit Kinofilmen die Befähigung zu ihrer religiösen Deutung bzw. zur Reflexion der in ihnen enthaltenen Deutungskultur sein muß. Als Ausgangspunkt dieses Ansatzes kann die Erkenntnis gelten, daß die Religion nicht glaubwürdiger wird, wenn sie in der Gegenwartskultur vorkommt, aber auch nicht unglaubwürdiger wird, wenn sie nicht vorkommt. Aber ihre Glaubwürdigkeit und ihre Lebendigkeit erweist sich an der Fähigkeit, mit Gegenwartskultur umzugehen, d.h. diese auf den Deutungsrahmen der jüdisch-christlichen Erzähltradition zu beziehen.

Das ist aber zugleich auch die schwerste Umgangsform. Filme wie "Star Wars", "Jurassic Parc", "Man in Black" auf die jüdisch-christliche Erzähltradition zu beziehen, ohne das zu interpretierende Material zu vergewaltigen, ohne die biblische Botschaft zu trivialisieren, ohne hermeneutische Kurzschlüsse zu produzieren, ist eine große Herausforderung.

So steckt ein Problem z.B. in der klassischen Fiktionalisierung, die für das Kino weitgehend typisch ist, und die verhindert, daß "Erlösung" anders als als Simulation (im Film) oder als Katharsis (angesichts des Films) zum Tragen kommt. Das Christentum will ja gerade in seiner Erzählwelt deren fiktionale Struktur in Leben überführen, es begreift seine Erzählungen als von lebensweltlich unmittelbarer Relevanz. Erlösung ist im Rahmen der christlichen Erzähltradition kein Theaterstück, keine Simulation, kein Fall von "so tun als ob", sondern Zusage und performatives Geschehen.

Zur Annäherung an den Kinofilm

Kinofilme werden nicht für die kritische, sozusagen sezierende Analyse gemacht, sondern dienen zunächst und vor allem der Unterhaltung. Deshalb ist die Frage gestellt worden, ob die analytische Beschäftigung mit Kinofilmen nicht dem Gegenstand der Untersuchung derartig zusetze, daß eine "normale" Wahrnehmung der Films gar nicht mehr möglich sei. Analoge Argumentationen sind auch schon in der Auseinandersetzung um die historisch-kritische Bibelexegese vorgetragen worden. Verhindert die historisch-kritische Annäherung nicht die intentionale Lesart des Bibeltextes? Unbestritten ist jedenfalls, daß Spielfilme nicht für die wissenschaftliche Analyse, nicht einmal für die Interpretation gemacht werden, darin unterscheiden sie sich nicht von großer Literatur oder Musik. Die Interpretation oder Analyse von kulturellen Objekten ist immer epimeteischer Natur, d.h. eine Frage des Nachdenkens. Aber heißt das, daß der Film mehr ist als die Analyse?(16)

Einerseits ist das ganz offensichtlich wahr, insofern Bilder - und bewegte Bilder um so mehr - nicht restlos sprachlich erfaßt werden können, und daher immer ein ästhetisches Surplus bieten. Andererseits ist das offensichtlich falsch, insofern der Betrachter in der Regel nicht die gesamten Gehalte eines kulturellen Objekts realisiert und die Interpretation bzw. Analyse weitere Lesarten und damit weitere kulturelle Gehalte freilegt. Auch Goethes Faust kann zunächst einfach so rezipiert und genossen werden. Seine kulturelle Dichte erschließt sich aber desto mehr, je stärker man sich interpretierend und analysierend der Werkkonstruktion und -konstellation nähert. Es ist deshalb falsch und bedenklich, die spontane Wahrnehmung vor anderen nach-denkenden Zugangsformen auszuzeichnen. Dennoch ist sie der Ausgang und die Grundlage jeder anderen Annäherungsform.

Spontane Wahrnehmung

Im strengen Sinne gibt es so etwas wie die "spontane Wahrnehmung" natürlich nicht. Hier gilt Adornos Satz aus seiner "Ästhetischen Theorie": "Die menschlichen Reaktionen auf Kunstwerke sind seit undenklichen Zeiten aufs äußerste vermittelt, nicht unmittelbar auf die Sache bezogen".(17) Genau in diesem Sinne ist die subjektive Rezeption aber für die Bearbeitung sehr interessant. Die Reaktionen auf einen Film im Sinne gesellschaftlicher Vermittlungen zu studieren und zu reflektieren setzt voraus, diese Reaktionen thematisch werden zu lassen, d.h. die Rezeption explizit in den Blick zu nehmen. Hierzu kann man mit spontanen Äußerungen, Selbstbeobachtungen, Notizen, Gesprächsrunden und Befragungen arbeiten. Was hat man selbst am entsprechenden Film wahrgenommen, was haben andere gesehen und behalten, wie haben die Kino-Besucher reagiert usw.? Diese Beobachtungen bilden dann das Material weiterer Analysen und Auseinandersetzungen.

Interpretation und Analyse

Die nach-denkende Beschäftigung mit dem Kino-Film kann sich auf verschiedenen Ebenen artikulieren und sie kann sich unterschiedlicher Methoden bedienen. So kann sie sich zum einen mit der Wahrnehmung und Rezeption eines Films auseinandersetzen (Wirkungsforschung), sie kann zum anderen aber auch den einzelnen Konstruktionen und Gehalten eines Kino-Films nachgehen. Der Regelfall der Filminterpretation ist dabei die Auseinandersetzung mit den Gehalten eines Werks. Was enthält ein Film, das über die sogenannte spontane Wahrnehmung hinaus erarbeitet werden kann, an welche Traditionen knüpft er an, welche Erwartungshorizonte durchbricht er, welche filmtechnischen Innovationen zeichnen ihn aus und mit welchen konventionellen wie unkonventionellen dramaturgischen Mitteln arbeitet er?

Werner Faulstich hat in seinem Buch "Die Filminterpretation"(18) zwischen dem Spontan-Erleben eines Films, dem wissenschaftlich-analytischen Reflektieren des Films und dem Reflektieren des Reflektierens (als der Konsolidierung der verwendeten Reflexionsmethoden) unterschieden. Zugleich stellt Faulstich anhand verschiedener Kinofilme diverse analytische Annäherungsformen vor:

Der strukturalistische Zugriff fragt nach dem "Gerüst" eines Films, seinem Aufbau, seiner Komposition. Ausgehend vom Filmprotokoll kann so nach der Handlung, den Figuren, den eingesetzten Stilmitteln und den implizit vertretenen Werten bzw. der Ideologie des Films gefragt werden. Im Prinzip ist der strukturalistische Zugriff die Voraussetzung für alle anderen Interpretationsmethoden.

Die biographische Filminterpretation ordnet einen Film in den Werkkontext eines Regisseurs ein. Sie erarbeitet den 'Stil' eines Regisseurs anhand aller (bzw. möglichst vieler) seiner Filme. Natürlich ist dieser Ansatz vielen Vagheiten ausgesetzt, insofern das Material nicht nur aus den verbalen Bekundungen des Regisseurs bestehen kann, sondern durch komplexe Werkvergleiche erarbeitet werden muß.

Die literar- oder filmhistorische Filminterpretation beschäftigt sich mit der "Tradition". Sie betrachtet einen Film im Blick auf die Filmgeschichte, in die er sich einordnen läßt, aber auch mit den intertextuellen Verweisen auf andere Quellen. Ganz offensichtlich gewinnt - angesichts der heute so beliebten intertextuellen Konstruktion von Kinofilmen - diese Interpretationsform zunehmend an Bedeutung.

Die soziologische Filminterpretation behandelt die gesellschaftlichen Implikationen eines oder mehrerer Filme, das heißt, gesucht wird "das Gesellschaftliche an der Thematik und Struktur des Films, das Gesellschaftliche am Film als ästhetischem Werk, das Gesellschaftliche an Message und Ideologie".(19) So ergeben sich aus der diachronen oder der synchronen Betrachtung von populären Kinofilmen Einsichten über gesellschaftliche Stimmungen bzw. den Wandel gesellschaftlicher Verhältnisse.Die psychologische Filminterpretation fragt nach dem Unbewußten bzw. dem Latenten eines Films. Der Film wird betrachtet im Blick auf die Ängste, Wünsche, (Alp-)Träume, Phantasien und Verdrängungen, die in und mit ihm thematisch werden. Die Analyse sucht unter die Oberfläche eines Films zu kommen und das hervorzuholen, was mit ihm transportiert wird.

Die genrespezifische Filminterpretation untersucht Gattungsgruppen von Filmen (in der Regel in einem bestimmten Zeitraum), also etwa den Science-fiction-Film, den Horrorfilm, das Roadmovie etc. Erörtert wird dabei insbesondere, wie sich ein Film in seine Gattung einordnet und wo er die Gattungsgrenzen überschreitet. Kinofilme der Gegenwart gehören in der Regel mehreren Genres an, weshalb ihre Einordnung in ein bestimmtes Genre immer auch eine bewußte Beschränkung der Untersuchung darstellt.

Natürlich ist diese Aufzählung bei weitem noch nicht erschöpfend. Andere Gesichtspunkte fördern andere Erkenntnisse zutage. Zum Teil überschneiden sich auch einzelne Ansätze, andere wiederum schließen sich in ihrer Methodik aus. Zumindest hingewiesen sei noch auf den in den einzelnen Argumentationen ausführlich dokumentierten Methodenstreit zwischen der tiefenhermeneutischen und der intertextuellen Auslegung der Kinofilme "Terminator II" bzw. "Trainspotting" in der Zeitschrift "medien praktisch".(20)

Schließlich kann man im Sinne des vorstehend Ausgeführten auch einen religions-philosophischen und einen religions-pädagogischen Zugriff skizzieren:

Die religions-philosophische Filminterpretation könnte und müßte so nach der "Kultur der Symbolisierung letztinstanzlicher Sinnhorizonte alltagsweltlicher Lebensorientierung"(21) in Kinofilmen fragen. Zu erarbeiten sind also die filmimpliziten Aussagen darüber, welche Bedeutung "diese Welt letztenendes für die Menschen hat".(22) Fast jeder (populäre) Film transportiert Antworten auf Fragestellungen, die um die Sinnorientierung der Menschen und der Welt kreisen, m.a.W. darüber (kritisch) Auskunft geben, wozu wir überhaupt leben. Populäre Kinofilme geben zugleich Antwortmuster vor, die für manche Rezipienten lebensweltlich tragend werden. Diese Muster können dann im Blick auf traditionelle (institutionell-) religiöse Antworten erörtert und kritisch befragt werden.

Die religions-pädagogische Annäherung wird unterschiedliche Gesichtspunkte aufgreifen und ins Gespräch zu bringen suchen. Als pädagogische Bemühung geht es ihr ebenso um Medienkompetenz wie um Medienkritik, d.h. sie befähigt zum reflektierten Umgang mit dem Medium Kino-Film. Dabei wird auch nach lebensweltlichen Rollenmustern und Handlungsentwürfen gefragt werden. Zum anderen wird sie als religionspädagogische Bemühung jene filmischen Aspekte aufgreifen, die um Fragen der Lebensdeutung, der Sinnorientierung und der Religion kreisen. Besonderes Interesse werden die Filme finden, die Elemente der jüdisch-christlichen Erzähltradition aufgreifen bzw. sich auf sie beziehen lassen.

Zusammenfassung

Die Verwendung bestimmter Interpretationszugänge hängt in der Regel vom Untersuchungsgegenstand und -interesse ab. Die Bindung an nur eine Methode der Interpretation empfiehlt sich nicht. Deshalb kann ich mich nur Werner Faulstichs Plädoyer anschließen. Er votiert nach seinem Durchgang durch die verschiedenen Formen der Filminterpretation für einen Methodenpluralismus (und gegen den Methodenmix): "Nach dem bisher Gesagten kann es an der Notwendigkeit eines Methodenpluralismus keinen Zweifel geben: Es gibt mehrere Methoden der Filminterpretation, weil es mehrere Filmtheorien gibt, die ihnen jeweils zugrundegelegt sind; und 'die' (einzige, wahre, allein richtige) Filmtheorie, im Sinne einer Meta-Theorie, ist auch nicht vorstellbar. Perspektiven, Ausgangspunkte, Verwendungszusammenhänge, Interessen, wie sie sich bei der Auffassung vom Film unabdingbar niederschlagen, konstituieren unterschiedliche Gegenstände und lassen von daher auch unterschiedliche 'Brillen' aufsetzen bzw. unterschiedliche Dinge sichtbar werden"(23) Reflektierte Filminterpretation ist und bleibt das Interesse auch einer Auseinandersetzung mit Kinofilmen in theologischer Perspektive.


Anmerkungen

  1. "Das Kino als Ort gemeinsamer Anonymität, in dem man erlöst ist von etwas und gleichzeitig zu etwas hin. Erlösung heißt ja auch: etwas los sein. Man geht ins Kino, um sich selbst loszusein, um loszukommen vom spiralig-strudeligen Gedankenwirbel des Bewußtseins." Inge Kirsner: Erlösung im Film. Praktisch-theologische Analysen und Interpretationen. Stuttgart 1996, S. 31. Gerade an Inge Kirsners Arbeit "Erlösung im Film" ist gut erkenntlich, wie vorgängiges theologisches Wissen an die Filme herangetragen und dann mehr oder weniger treffend nach Analogien gesucht wird.
  2. Thomas Erne: Lebenskunst. Aneignung ästhetischer Erfahrung. Ein theologischer Beitrag im Anschluß an Kierkegaard. Kampen, 1994. S. 26.
  3. Jörg Herrmann, Theologie des Kinos? Anmerkungen zum Verhältnis von Film und Theologie; in: B. Heller (Hg.), Kulturtheologie heute? Arnoldshain 1997, S. 125-132, hier S. 130f.
  4. Gestaltung und Kritik. Zum Verhältnis von Protestantismus und Kultur im neuen Jahrhundert, EKD-Papier 1998.
  5. Vgl. dazu Günter Thomas: Medien - Ritual - Religion. Zur religiösen Funktion des Fernsehens. Frankfurt 1998.
  6. Vgl. auch Jörg Herrmanns Phänomenologie der unterschiedlichen Besuchformen von Kino und Kirche: Jörg Herrmann: "Kino und Kirche. Für die Annäherung zweier Erzählgemeinschaften"; In: Kirchen - Kulturorte der Urbanität. Hg. von H.W. Dannowski u.a. Hamburg 1995, S. 39-52, hier S. 40f.
  7. Susanne Natrup, Ästhetische Andacht. Das postmoderne Kunstmuseum als Ort individualisierter und impliziter Religion; in: Herrmann / Mertin / Valtink (Hg.): Die Gegenwart der Kunst. Ästhetische und religiöse Erfahrung heute. München 1998. S. 73-83.
  8. Vgl. Gerhard Marcel Martin: "Predigt als 'offenes Kunstwerk'? Zum Dialog zwischen Homiletik und Rezeptionsästhetik". EvTheol 44, 1984, S.46-58.
  9. Das gilt insbesondere für die Ostkirchen und die katholische Kirche, aber über weite Strecken auch für die evangelischen Kirchen.
  10. Vgl. Umberto Ecos Vergleich zwischen Mittelalter und Jetztzeit, der sich umstandslos auf Kino und Kirche übertragen ließe: "In beiden Epochen räsoniert die Bildungselite anhand der geschriebenen Texte mit buchgläubiger Mentalität, aber dann übersetzt sie die essentiellen Daten des Wissens und die Grundstrukturen der herrschenden Ideologie in Bilder." Umberto Eco: Über Gott und die Welt. München 1985, S. 29:
  11. Georg Seeßlen: Das Kino und der Mythos, Der Evangelische Erzieher 6/1992, S. 537-549, S. 545.
  12. Jörg Herrmann: Kino und Kirche, a.a.O., S. 42.
  13. Vgl. Augenblick 6. Marburger Hefte zur Medienwissenschaft: Wege der Filmanalyse. Ingmar Bergman: Das Schweigen. 1988. Darin u.a.: Heinz-Ulrich Schmidt: Eine theologische Filmdeutung. S. 6-16.
  14. Vgl. dazu auch Folker Hönge, Jugendschutz & Wertewandel. Die Kriterien der FSK und die Veränderungen in der Mediengesellschaft, medien praktisch 2/99, S. 10-13.
  15. Gestaltung und Kritik. Zum Verhältnis von Protestantismus und Kultur im neuen Jahrhundert.
  16. Ernst Szebetis, "Das Ganze und seine Teile. Anmerkungen zur Filmanalyse"; in: M. Künne (Hg.), Religionsunterricht und Film. Prophetische Aspekte im Film. Loccum 1994, S. 14-18, hier S. 18.
  17. Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt 5/1981, S. 339.
  18. Werner Faulstich, Die Filminterpretation, Göttingen 2/1995.
  19. Ebd. , S. 56.
  20. Vgl. dazu die umfassende und hier nicht zu referierende Debatte in der Zeitschrift medien praktisch: Hefte 1-3/94, 1/95, 2/95, 1/96, 4/96 sowie das Sonderheft I zu "Trainspotting".
  21. Wilhelm Gräb, Religion in der Alltagskultur; in: Barbara Heller (Hg.), Kulturtheologie heute?, Hofgeismar 1997, S. 97-108, hier S. 100.
  22. Ebd. (Kursivierung nachträglich eingefügt, A.M.)
  23. Werner Faulstich, Die Filminterpretation, a.a.O., S. 90.

© Andreas Mertin 1999
Magazin für Theologie und Ästhetik 3/1999
https://www.theomag.de/03/am11.htm