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Magazin für Theologie und Ästhetik


Idioten

von Heike Kühn

Karen könnte eine Hausfrau sein, die sich an einem schönen Sommertag vorstellt, wie es wäre, Urlaub von der Familie zu machen. Sie gönnt sich eine Kutschfahrt, sie bewundert die Sehenswürdigkeiten der Stadt, als sei sie zum ersten Mal in Dänemark. Sie steuert ein Restaurant an und schenkt dem Silber auf den Leinenservietten ein Lächeln. Der Kellner, dem sie gesteht, sich nichts leisten zu können, verwandelt sich unter ihren Augen vom Herold des gewissen Unterschieds zum Mitmenschen. Karen ist mittelalt, mittelschön, mittellos. Aber sie hat den Blick. Die Welt nimmt sie mit einer Verzückung wahr, die an ein langes, die Dinge und Gesichter liebkosendes Abschiednehmen erinnert. Da ist etwas, das die stille Karen zur Seelenverwandten einer anderen, gleichfalls aus der Bahn geworfenen Filmheldin des Dänen Lars von Triers bestimmt. Wie die Hauptfigur aus >Breaking the Waves<, wie Bess, die überall das Gute sieht, selbst wenn sie dafür tun muß, was Glaubensfanatikern und Anwälten der Ratio gleichermaßen als böse, respektive irre gilt, trägt auch Karen in ihren Augen einen Abglanz göttlichen Langmuts. Daß sie mehr sieht, als sie verstehen oder vermitteln kann, prädestiniert Karen für eine Helferrolle, als es in dem Restaurant zum Eklat kommt. Zwei sabbernde junge Männer in Begleitung eines überforderten Betreuers rauben den Gästen den letzten Nerv. Einer der Verwirrten schnappt sich Karens Hand. So bleibt die Dulderin an den Idioten hängen. Weil sich der Schreihals Stoffer nicht beruhigen will, läßt sich Karen in ein Taxi hineinziehen. Erst die Diskussion über die Rechnung, die sich die Störenfriede gespart haben, offenbart Karen, wem sie in die Hände gefallen ist: Stoffer ist der Anführer einer Gruppe junger Leute, die sich in der Öffentlichkeit als Idioten ausgeben.

>Idioten< experimentiert mit dem gezielten Kontrollverlust, das macht den Film zum gelungensten Exempel für das Dogma '95, das Lars von Trier, Thomas Vinterberg, Soren Kragh Jacobson und als "Keuschheitsschwur" unterzeichneten. So wie sich die selbsternannten Idioten aus dem Gesellschaftsvertrag entlassen, um die Grenzen einer Toleranz zu überschreiten, die jenseits des Heuchelcodes des Normativen die Ausgrenzung des Andersartigen meint, verzichten auch die Filme des Dogma '95, allen voran >Festen< von Thomas Vinterberg, auf die Wahrung des (filmischen) Scheins. Auf der Produktionsebene betrifft das den Einsatz von Filtern, von Requisiten, die nicht zum Drehort gehören, von Musik, die nicht Teil des Geschehens ist, von künstlichem Licht und gewaltsam forcierter Action. Auf der psychischen Ebene, die in allen Filmen des Dogma '95 von den Einsichten einer bald delirierend subjektiven, bald Identifikationen vereitelnden, sich selbst befremdenden Handkamera wiedergegeben wird, trägt die Sehnsucht der Idioten, außer sich zu sein wie Dogma-Filme außerhalb der Ordnung des Sehens, schon das Scheitern beider Projekte in sich. Die Austreibung der Dramaturgie mit den Mitteln der Dramaturgie erweist sich als eine Form filmischen Flagellantentums - paradox wie religiöse Dogmen es immer sind. Ebensowenig ist es den Idioten möglich, zur Unschuld des Nichtwissens, nicht Befähigtseins zurückzufinden, das sie in einem idyllisch gelegenen Landhaus so mühsam rekonstruieren wie die Theater-Schauspieler aus Jacques Rivettes strukturell verwandtem Film >Out 1< die Bedingungen der Spontaneität. Wie entgeht man beim Schauspiel der Fixierung auf das Bedeutungsvolle, fragte sich Rivettes Personnage, und Rivette antwortete, indem er seinen Film zu einem 13-stündigen, von Verschwörungstheorien und Beziehungskrisen grotesk durchlöcherten Diskurs über die falsche Bewegung ausdehnte: Nicht im Verzicht, sondern in der Überfülle der Spiele und Spekulationen, der Farben, Formen und Ideen suchte Rivette seine Zuflucht vor dem Terror des Authentischen, dem Diktat der Wahrhaftigkeit. 28 Jahre später glauben Lars van Triers Idioten ihr Heil darin zu finden, nicht länger mit ihrer Intelligenz spielen zu müssen. Die Gesellschaftskritik der Idioten erweist sich als Fassade. Jenseits der politischen Provokation genießen die anti-bourgeoisen Bürgerkinder ihre beschleunigte Regression. So es der Entfaltung "innerer Idioten" dient, sind Ekeleffekte erlaubt wie Gruppensex, zu dem einige Mitglieder mehr oder weniger gezwungen werden müssen. Was diesen Film auszeichnet, ist nicht der moralische Impetus der Idioten, die sich an der Demaskierung geschockter, mit Entsetzen oder Bestechungsgeldern reagierenden Normalbürgern weiden. Wirkliche Größe gewinnt der Film in der Konfrontation idiotischer Ideale mit der Realität der Gruppenmitglieder. Grandios ist die Szene, in der die Idioten als Bewohner einer buchstäblich irren Kommune Besuch bekommen. Angesichts der mongoloiden Invasoren, die ihnen die Grillwürstchen wegessen und die Frauen betatschen, auf die die männlichen Idioten Anspruch erheben, kommen den Gastgebern Zweifel an der Gnade der Geisteskrankheit. Eine Idiotin zückt zur Abwehr den Photoapparat: "Die sind doch lieb", sagt sie. Breiter könnte die Kluft zwischen Stoffers Philosophie einer göttlich gewollten geistigen Armut und dem bereichert-euch-Niveau seiner Gefolgsidioten nicht klaffen. So ist es auch nicht der tumultuarische Gruppensex, der dem selbstkritischen Film zum Skandal gerät, sondern die Stille danach. Jeppe, der Kleinkind-Idiot hat sich in Josephine, eine Angsthasen-Idiotin verliebt. Die zurückgezogene Zärtlichkeit der beiden jüngsten und unsichersten Gruppenmitgliedern kommt in ihrer Ahnungslosigkeit den Paradiesvorstellungen der Idioten am nächsten. Nur, daß Jeppe und Josephine ihre Unschuld nicht wiedergewinnen, sondern erstmal verlieren müssen. Der Zauber dieser Szene erweist sich als besonders brutale Illusion. Josephine leidet an Schizophrenie und wird von ihrem Vater, der für die Provokationen der Wahlidioten nur das resignative Schweigen eines lebenslang Mitleidenden übrig hat, nachhause geholt. Daß die anderen sich zum Idioten machen, um vogelfrei vögeln oder sich kaum weniger selbstverliebt im Geist an Van Gogh oder Nietzsche anschmiegen zu können, verrät sich dem Betrachter in pseudo-dokumentarischen Passagen, die den Film als historische Bestandsaufnahme und Selbstvergewisserung der Einzelnen durchkreuzen, während ihre Geschichte in der Gegenwart (des Zuschauers) weiterläuft und die abgeklärte Haltung der zehn Idioten Lügen straft. Dreh- und Angelpunkt dieser beängstigend wirklichkeitsgetreuen Verdrängungtaktiken ist Karen. Was die kunstbeflissenen Lehrer und Ärzte, den Familienvater mit Machoallüren oder Stoffer, den fanatischen Prediger des weltverbessernden Idiotentums umtreibt, bleibt Karen als Maskottchen der Idioten ein Rätsel. "Was wollt ihr nur", sagt sie," es ist so schön hier". Als die Gruppe auseinanderfällt, weil das luxuriöse Ambiente und die Sommerfrischensorglosigkeit nicht verhehlen können, daß Frau und Kind, Arbeit und Pflichten auf die Idioten warten, ist es ausgerechnet Karen, die mit dem Spiel ernst macht. Damit nicht alles "umsonst war", will sie sich zuhause als Idiotin beweisen, als Mensch, der frei genug ist, um sein Ansehen in den Augen anderer zu zerstören


© Heike Kühn 1999
Magazin für Theologie und Ästhetik 3/1999
https://www.theomag.de/03/hk1.htm