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Magazin für Theologie und Ästhetik


"Erneuerung der Schöpfung" 
im und durch das Kino

Hans Werner Dannowski

I.

Im Jahre 1994 hat der britische Dokumentarfilmer Patrick Keiller einen Film über London gedreht. Der Privatgelehrte Robinson, der neben einem kleinen Lehrauftrag an der Universität im wesentlichen über die Stadt London arbeitet, ruft seinen Freund aus dem Exil nach London zurück. Er wolle ihm die Stadt noch einmal zeigen, ehe sie ganz verschwindet. Beide, Robinson und sein Freund, bleiben im Film unsichtbar. Der Freund führt als Sprecher im Off die Zuschauer durch den Film.

Auf mehreren Exkursionen ziehen die beiden durch die Stadt. Eine Wallfahrt zum Ursprung der englischen Romantik machen sie und andere Gänge. Nie kommen sie an. Das eine Mal werden sie durch einen Bombenanschlag der IRA gehindert, beim nächsten Mal kommt die überraschende Wahl von John Major zum Premierminister Englands dazwischen. Die Kamera zeigt, was sie sehen: Plätze, Straßen, Häuser, Türme, Menschen. Alsbald wird klar: London ist unsichtbar geworden. Die Kräfte, die die Stadt bestimmen und definieren, lassen sich von außen nicht mehr erkennen. Die wahre Identität Londons besteht im Fehlen einer Identität. London existiert als Stadt nicht mehr, ist eine Metropole, die sich selbst verloren gegangen ist.

So streifen die beiden durch die Stadt und entdecken: Was London ist, muß im Grunde neu geschaffen werden. Eine neue Schöpfung steht vor der Tür. Aus den Bildern der Vergangenheit und Gegenwart, aus den Resten der Erinnerung, aus den subjektiven Phantasien und Träumen ist ein neues Bild der Stadt zu entwerfen. So rekonstruieren die beiden den Leicester Square als ein Denkmal für Laurence Sterne, den Autor von "Tristram Shandy" und machen einen Fernsehturm zum Erinnerungszeichen der leidenschaftlichen Liebe von Rimbaud und Verlaine in ihrem Londoner Exil. Aus der Stadt des Privatlebens und dem Schwund von Öffentlichkeit entstehen die imaginären Bilder einer anderen Stadt, die nicht weniger sichtbar ist als jene, die voller Geschichte und Bedeutung ist. Im Verlauf des FiIms wächst aus Bedeutungsruinen des alten London eine neue Stadt.

II.

Der Film fügt dem Tagesthema des Kirchentags in Stuttgart, der Verheißung eines neuen Himmels und einer neuen Erde, nach Jesaja 65 eine interessante Variante neu hinzu. Die Stimme der Sehnsucht, einer unendlichen Sehnsucht spricht aus jenem alten Bibeltext. Gott spricht: "Denn siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, daß man der vorigen nicht mehr gedenken und sie nicht mehr zu Herzen nehmen wird" (Jes.65,17). Die Stimme des Weinens und Klagens wird man nicht mehr hören. Die Menschen werden alt und lebenssatt sterben. "Sie sollen nicht umsonst arbeiten und keine Kinder für einen frühen Tod zeugen." Wolf und Schaf werden beieinander wohnen. Gott wird ganz nahe sein, sozusagen um die Ecke wird er wohnen. Noch ehe man ihn ruft, wird er antworten. Heiles, ganzes, blühendes, kraftvolles Leben in der Gegenwart Gottes wird es sein. Bilder der Endzeit malt Jesaja, der dritte Jesaja, die wir erhoffen. Bilder der Erde, dieser Erde sind es, die Gott als gut, ja als sehr gut geschaffen hat. Endzeit und Urzeit entsprechen einander, das kommende Reich Gottes wird wie die erste Schöpfung sein. "Siehe, ich mache alles neu": Das meint nicht, daß das Reich Gottes, das Christus schafft, ein totaliter aliter, etwas ganz anderes ist. Die Durchsetzung des Schöpferwillens in der Überwindung allen Widerstandes, das ist die eschatologische Blickrichtung der biblischen Prophetie. Nicht nach oben werden wir aussteigen aus einer Welt des Scheins und der Vergänglichkeit, wie in den asiatischen Hochreligionen, im Buddhismus beispielsweise. Nein, hier in der biblischen Eschatologie, in der biblischen Lehre von den letzten Dingen geschieht ein Transzendieren dieser erfahrbaren Welt nach vorne. Die Kritik am gegenwärtigen Zustand der Welt ist nicht ihre Verneinung (etwa in der Form des Verlassens dieser Erde), sondern zugleich ihre Bejahung als Schöpfung. Die Welt, der Mensch ist jetzt durch das Widerfahrnis von Sünde, Leid und Schuld seinem eigentlichen Wesen entfremdet.. Aber dank der Treue des Schöpfers gehen wir unserer Eigentlichkeit, unserer wahren Schöpfungsidentität entgegen. Die Welt als Schöpfung ist der Boden, auf dem sich die Wahrheit Gottes realisiert. Der neue Himmel und die neue Erde, das ist der Kosmos, wie Gott ihn in seinem unvergleichbaren Handeln gewollt und und den er so heraufführen wird. Natur und Geschichte als Darstellungsraum Gottes in der Welt, als welthaftes Gleichnis Gottes: Das wird in einem neuen, in einem zweiten Schöpfungshandeln Gottes angesagt.

Aber damit beginnen nun auch meine Probleme mit diesem Schöpfungshandeln Gottes, und Ihre Probleme werden es auch sein, denke ich. Als Bilder der Sehnsucht, als Ausdruck meiner Träume kann ich einen solchen Text wie Jesaja 65 gut verstehen. Ach ja, das Neuwerden, wenn das Alte immer spürbarer wird. Daß das Weinen und Klagen und Kriegführen endlich aufhört, daß das Leben prall und erfüllt und rund ist und Menschen lebenssatt sterben können. Aber die Naherwartung, daß der neue Himmel und die Erde und damit das erfüllte Leben sozusagen vor der Tür stehen, die Naherwartung, die diese biblischen Texte geformt und noch einem Martin Luther beispielsweise selbstverständlich war, die trägt uns nicht mehr. Wenn die Welt zu Ende geht, dann wird es die große Endkatastrophe, der große Weltuntergang sein. Wann diese Gewißheit eines bevorstehenden neuen Himmels und einer neuen Erde uns abhanden gekommen ist, ist schwer auszumachen. Das hat sicher mit dem Verlust von Gotteserfahrung in unserer Zeit zu tun. Ich kann das jetzt nicht lange ausführen, ich will nur ein paar Thesen in den Raum stellen, und Sie werden es unmittelbar nachempfinden können, ob sie stimmen oder nicht. Der Prozeß der technisch-industriellen Revolution, der unser Leben bis in die kleinsten Dinge hinein bestimmt, und die geschichtlichen Erfahrungen dieses Jahrhunderts haben mit dem unmittelbaren Verlust von Naturerfahrung auch das Vertrauen in die Geschichte zerstört. Schöpfung meint ja, wie man es an den biblischen Schöpfungsberichten sehen kann, immer beides: Das Vertrauen auf die Güte von Natur wie von Geschichte. Die Menschheit hat sich in die Lage gebracht, das Ganze, die Einheit des geschaffenen Kosmos in Natur und Geschichte, nicht mehr erfahren zu können. Sie hat sich deshalb auch den Zugang zu der Erfahrung Gottes verrammelt. Sie ist aber weithin gleichzeitig entschlossen, sich dies nicht einzugestehen.

Ich will nur ein Beispiel dafür nennen. Wir haben am Sonntag gerade die Europawahl hinter uns gebracht, und das Seufzen über die geringe Wahlbeteiligung ist allgemein, stärker natürlich bei den Verlierern als bei den Gewinnern. Dabei macht man sich aber zu selten klar - der Kosovo-Krieg hat es wieder einmal an den Tag gebracht -, wie tiefgehend die Krise Europas als Krise der jüdisch-christlichen Zivilisation ist. Die Ausrottung des Judentums im Dritten Reich hat die Glaubwürdigkeit des Christentums in der Tiefe beschädigt und das Vertrauen auf eine unmittelbare Gotteserfahrung massiv ins Wanken gebracht. Gotteserfahrung scheint überhaupt nur noch möglich zu sein als Erfahrung des gedemütigten und verletzten Gottes, eines auf Gnade und Ungnade unserem Gewissen ausgelieferten Gottes. Die Rettung Europas, so hat es einmal der polnische Schriftsteller Andrzej Szczypiorski ausgedrückt, sei die Rettung Gottes in uns selber.

So ist also mit dem Thema "Erneuerung der Schöpfung" massiv die Gottesfrage angesprochen. Meine Schlußfolgerung aber aus dieser Verunsicherung der unmittelbaren Gotteserfahrung lautet so: Führte im Alten Testament wie auch im Neuen Testament der Weg der Erfahrung und der Erkenntnis von Gott zur Entdeckung der Welt, so führt heute umgekehrt der Weg von der Wiederentdeckung der Welt zu Gott. Gottes Handeln kann nicht einfach mit Selbstverständlichkeit vorausgesetzt und zum Prinzip der Welterkenntnis gemacht werden.. Vielmehr: Auf den Spuren der Welterkenntnis suchen wir nach den Spuren der Gotteserfahrung in dieser Welt.

Damit bin ich aber nun wieder beim Film angelangt. Denn es ist die Faszination des Films, im Sinne Siegfried Kracauers als "Errettung der äußeren Wirklichkeit", diese Welt in einem zweiten Schöpfungshandeln zu durchpflügen und nach dem Sinn des Ganzen zu suchen. Auf den Spuren Gottes sehe ich viele Filme, die aus den Elementen unserer Welterfahrung in Natur und Geschichte diese unsere Welt noch einmal wieder neu gestalten. "Erneuerung der Schöpfung" meint gerade hier die Suche nach dem, was diese Welt zusammenhält und was in der alten, vergehenden Welt die Konturen des Neuen sehen und erleben läßt. Das Feld einer unendlichen Suche und Beschreibung ist damit eröffnet, und ich will es meinerseits an drei Beispielen versuchen: An dem Film, den wir heute morgen hier gesehen haben, am GOLEM; an dem Film der heute nachmittag und abends noch zweimal läuft, an ALPHAVILLE und an einem Film von Andrzej Tarkowskij, der hier nicht läuft, aber den vielleicht einige von Ihnen kennen: NOSTALGHIA.

III.

1920 hat Paul Wegener das Drehbuch zu dem Film DER GOLEM, WIE ER IN DIE WELT KAM geschrieben und ihn, zusammen mit Carl Boese und mit ihm selbst als Golem realisiert. Die Geschichte kreist um den berühmten Rabbi Löw, der 1512 in Worms geboren, 1609 in Prag gestorben und auf dem so eindrucksvollen Prager Jüdischen Friedhof liegt. Eine berühmte Talmud-Schule hat er in Prag gegründet, pädagogische Schriften sind von ihm bekannt. Aber unvergänglich ist er geworden durch die Geschichten, die sich um seine Person ranken: Er habe den Golem (zu deutsch: Erdkeim) geschaffen, durch geheime magische Praktiken den ersten künstlichen Menschen ins Leben gerufen. Die Erschaffung des Adam also, nun die neue Schöpfung des Menschen nicht durch Gottes, sondern durch Menschenhand.

Um die Erschaffung des Golem kreist Wegeners Film. Rabbi Löw hat in den Sternen vom großen Unheil gelesen, das über die Juden Prags hereinbrechen wird. Das Unheil läßt nicht auf sich warten: Der Kaiser erläßt ein Dekret, daß alle Juden Prag vor dem Neumond verlassen müssen. Inzwischen hat Rabbi Löw die Zauberformel gefunden, die dem Koloß aus Lehm, dem Golem, Leben einhaucht. Bei einer Audienz vor dem Kaiser holt der Rabbiner eine Prozession biblischer Gestalten herauf, darunter den ewigen Juden, Ahasver, der sich anschickt, den kaiserlichen Palast zu zerstören. Der Golem bewahrt den Palast vor dem Einsturz; aus Dank widerruft der Kaiser den Ausweisungsbefehl. Die Spur der Verwüstung, die der Golem anrichtet, will ich nicht im einzelnen nachzuzeichnen versuchen. Am Ende, nachdem er sich sogar gegen seinen eigenen Meister, seinen Schöpfer erhoben hat, macht ihn ein kleines Mädchen unschädlich. Er findet das süße, weißgekleidete Mädchen, hebt es hoch. Das Kind spielt an ihm herum, nimmt ihm den glitzernden Stern, das Geheimnis seines Lebens, von der Brust. Der Koloß sinkt in sich zusammen, wird wieder Lehm, und die jüdische Gemeinde singt ihrem Gott, der hier Jehova genannt wird, einen großen Lobgesang.

Die neue Schöpfung, der Golem - mag er nun ein Sinnbild der Technik sein oder den uralten Menschheitstraum eines unendlichen Lebens bedeuten - ist kein sehr erfolgreiches Unternehmen. Der antizivilisatorische Akzent, der den ganzen Expressionismus später begleiten wird, ist schon deutlich zu spüren. Das eigentlich Neue, der Frühlingsmorgen, ist die gute alte, von Gott geschaffene Schöpfung: Das Kind, das in seiner Schönheit und Unschuld dem Lehmkoloß unendlich überlegen ist. Das Geheimnis des Lebens, Gott, ist hier noch in dem Geheimnis des Menschen umittelbar erfahrbar. Aber das Wichtige liegt hier, wie so oft in der Kunst, nicht in den Inhalten, sondern in der Form. Die Dingwelt steht auf einmal auf. Sterne glitzern auf einem Samthimmel, vom Herd des Alchimisten lodert das Feuer, Miriams Gestalt, die Tochter des Rabbiners, wird von einer kleinen Ölfunzel beleuchtet, in der Synagoge huscht das Licht des siebenarmigen Leuchters über die niedergesunkenen Beter. Hans Poelzig hat die Architektur des Films geschaffen. Eine "rhythmisch gefühlte Architektur" hat Rudolf Kurtz die Schöpfungen Poelzigs genannt. Steile, enge Giebelhäuser, die qualvolle Enge spiegelt das Eingeschlossensein des Ghettos. Die spitzen Judenhüte stehen in Korrespondenz zu den spitzen Giebeln. Die fiebernde Unruhe der Juden, die lange Schlange am Schluß des Films, bei dem sich die Handlung aus der Bewegung des Films heraus entwickelt. "Phantastik in härtester Manier", hätte Kandinsky diesen Stil genannt. Aus der visuellen Erfahrungsebene wächst die Erscheinung der Dingwelt heraus. Nicht auf das Ganze der Natur oder der Stadt oder der Geschichte richtet sich der fragende Blick. Als reines Bildzeichen tritt das Sichtbare auf, auf dem isolierten Ding liegt die ganze Aufmerksamkeit. Die Dinge in ihrer Isolation werden zum magischen Gegenüber. Der Zuschauer, der auf den Film blickt, sieht, wie das stumme Dasein der Dinge eine andere Atmosphäre um sie herum schafft. Etwas Fremdes, Geheimnisvolles, Magisches tritt auf einmal auf. Der betrachtende und sinnende Geist nimmt diese Anschauung auf, entwickelt seine Antwort, die den in ihm entstehenden seelischen Zustand ausdrückt. Angst kann dies sein, Beklemmung, auch Ironie. Auch das Gefühl einer tiefen Zugehörigkeit zu den Dingen. Die eigentliche neue Schöpfung, die ein Film wie GOLEM erkennbar macht, ist die magische Dingerfahrung, die die Welt sowohl in ihrer Zerstückelung wie in ihrer harten Konkretheit erlebt. Die Erfahrung des transzendenten Sinnes stellt sich gerade in dieser Fremdheit ein. Daß solch ein Ding in seiner feierlichen Fremdheit bis zum Menschen herüberreicht, erfüllt mit Angst, läßt aber auch erahnen, daß es noch ganz andere Dimensionen gibt als die, von denen unsere Schulweisheit so sicher zu wissen meint.

IV.

1965, ein Jahr nach UNE FEMME MARIÉE und im gleichen Jahr wie PIERROT LE FOU, dreht Jean-Luc Godard ALPHAVILLE (une étrange aventure de Lemmy Caution). Kurz der Inhalt dieses Films: Eines Nachts kommt Iwan Johnson (Eddie Constantin), Reporter des Figaro-Pravda, nach Alphaville. Er ist auf der Suche nach seinem Vorgänger, Henri Dickson. Er entdeckt Henri Dickson kurz vor seinem Tod, erfährt, daß Professor von Braun einen Mega-Computer entwickelt hat, der in Alphaville jede Bewegung und jeden Gedanken lenkt. Iwan Johnson erlebt eine Schauexekution: Die Todeskandidaten sind Liebende, Poeten, Individualisten - das genügt zum Todesurteil. Eddie Constantin nimmt den Kampf auf, verwirrt den Computer durch unerwartete Antworten. "Was verwandelt Nacht in Tag?", fragt Alpha 60. "Die Poesie", antwortet Lemmy Caution. Er lehrt die Tochter von Brauns, Natascha, die Begriffe der Poesie und der Liebe. Ein Show-down am Ende und das stockende Bekenntnis Nataschas "Ich liebe dich".

Auch hier ist der Inhalt des Films fast zweitrangig. Die totale Technisierung der Welt ist vorausgesetzt, und Poesie und Liebe werden dagegengestellt. Die Form des Films ist viel interessanter; die Ästhetik des Surrealismus dominiert den Film. Godard macht aus dem Paris des Jahres 1965 die Phantomstadt Alphaville. Er seziert das nächtliche Paris und setzt es neu zusammen. Das Verwaltungsgebäude der Esso, das Gebäude des Rundfunksenders, das Flughafengebäude in Orly erscheinen überdimensional, werden ins Gigantische gesteigert. Das Vertraute ist auf einmal weg. Ein Ventilator in einer Lüftungsklappe wird zum Computer Alpha 60, die Stadt wird zu einem ganzen Stadtsystem. Im Süden der Stadt scheint die ewige Sonne, im Norden Alphavilles fällt der weiche Schnee. Aus den Versatzstücken gegenwärtiger Erfahrung schafft Godard ein synthetisches, überdimensionales, beängstigendes Utopia, das der Superstadt "Metropolis" von Fritz Lang durchaus das Wasser reichen kann. Spielerisch leicht ist das alles, und die creatio ex nihilo des Schöpfers ist dem Filmregisseur nahe. Allerdings doch nicht ex nihilo: Aus den Bruchstücken augenblicklicher Erfahrung wächst der neue Himmel und die Erde.

Die Botschaft des Surrealismus hält sich allerdings auch auf der positiven Seite durch, auch wenn sie in der Gestaltung weitaus schwächer ist. Im Verblüffenden, im Extravaganten, im Außer-Ordentlichen, im Wunderbaren ist die Wahrheit. Gerade das Nichtverrechenbare und Absurde ist das Indiz für die Anwesenheit einer neu sich anbietenden Realität. Das Leben als ein dem Menschen zufallendes Geschenk und als anfallende Gabe, in dem Zustand einer offenen, wartenden Empfängnis: Das ist die Gestalt der Poesie wie die der Liebe. Das Leben als ein fait gratuit. Nicht in der Gigantonomie der immer noch größeren Errungenschaften, nein, in dem unerwarteten Geschenk des Einfalls und der Liebe offenbart sich Sinn und Wahrheit. Schöpfung ist hier verstanden als Offenheit, die sich nicht gleichschalten und nicht manipulieren läßt. Das sich herstellende Spontane, das Wunderbare, die "absurdité immédiate" ist dem Unbewußten und dem Traum verwandt, und aus diesen Tiefen steigt denn auch die Gotteserfahrung auf, wie man später in Godards JE VOUS SALUE, MARIE, erleben kann.

V.

Als drittes Beispiel wähle ich einen Film von Andrzej Tarkowskij. Ich könnte jeden der sieben großen Filme Tarkowskijs nehmen; ich entscheide mich heute für NOSTALGHIA (1982/83), seinen zweitletzten Film und den ersten, den er in der Fremde drehte. NOSTALGHIA ist die Geschichte des russischen Schriftstellers Andrzej Gortschakow, der nach Italien fährt, um Nachforschungen über das Leben eines vor 200 Jahren nach Italien ausgereisten Landsmannes anzustellen, über den er ein Opernlibretto schreiben will. Eine schöne italienische Dolmetscherin, Eugenia, begleitet ihn. Sie fahren zu dem berühmten Gnadenbild der Madonna del Parto von Piero della Francesca, das Andrzej immer schon sehen wollte; aber jetzt geht er nicht in die Kapelle hinein. Sie landen in einem Hotel in Bagno Vignori, dem Badeort in der Toskana. Andrzej ist angewidert von dem leeren Geschwätz der Badegäste in den Solebädern. Sie lernen den Mathematiker Domenico kennen, der im Ort als verrückt gilt, weil er sich und seine Familie sieben Jahre lang in seinem Haus eingesperrt hat, um auf das Ende der Welt zu warten. Die Verrückten sind näher an der Wahrheit als die Normalen, meint Andrzej. Die beiden Männer freunden sich langsam an. Eugenia reist nach Rom ab, als sie merkt, daß ihre Liebe zu Andrzej von diesem nicht erwidert wird. Domenico vertraut Andrzej seine geheimen Pläne an: Man müsse Ideen haben, um die ganze Welt zu retten. Und dann fährt er nach Rom, hält neben dem Reiterstandbild Marc Aurels auf dem Capitol eine flammende Rede über die Irrwege der modernen Zivilisation, übergießt sich mit Benzin und stirbt durch Selbstverbrennung. Währenddessen erfüllt Andrzej die letzte Bitte Domenicos: Mit einer brennenden Kerze durch das der heiligen Katharina geweihte Solebad zu gehen (das inzwischen abgelassen ist). Dann folgt das berühmte Schlußbild des Films: Andrzej kauert mit dem Hund Domenicos vor einem Tümpel, in dem als lichte Schatten drei helle Säulen sichtbar sind. Im Hintergrund ist ein russisches Bauerngehöft zu sehen am Rande eines Waldes. Dann fährt die Kamera zurück und man entdeckt, daß Andrzej und der Hund und das russische Bauernhaus und der Wald im Inneren der Ruine einer riesigen italienischen Kathedrale sind, die man von früher kennt.

Die Wege Andrzejs und Domenicos, auch und gerade in der Enttäuschung an der Außenwelt, sind ein einziger Weg nach innen. Aber dieser mystische Weg der Gottsuche vollzieht sich in der harten und direkten Begegnung mit der Außenwelt. Der schwedische Schauspieler Erland Josephson, der die Rolle des Domenico spielt, hat in einem Interview seine Beobachtungen mitgeteilt, wie er Andrzej Tarkowskij bei den Dreharbeiten zu NOSTALGHIA erlebte: "Er war immer auf der Jagd. Lange stand er vor einer Mauer, die eine Geschichte hatte, er versuchte, sie zu entschlüsseln. Immer suchte er nach etwas, ich weiß nicht, was. Ständig stellte er Forschungen an, und zugleich gelang es ihm, etwas zu schaffen. In seiner Gegenwart kam man dem Wunder der Gegenwart sehr nahe. Er hatte eine besondere Zärtlichkeit, gerade auch den Dingen gegenüber". Besonders in den langsamen Kamerabewegungen tritt einem die Materialität der Welt massiv entgegen. Das Wasser spielt in NOSTALGHIA eine große Rolle. Häufig regnet es, und es ist mir, als hätte ich Regen - auch in natura - noch nie so intensiv erlebt. Das fließende Wasser, man sieht den Untergrund, auch die Verschmutzungen. Der Dampf, der von dem heißen Wasser hochsteigt und alles nur undeutlich erkennen läßt. Nachdem Andrzej in dreimaligem Versuch endlich das Bad durchquert hat: In Großaufnahme wird die Hand gezeigt, die die brennende Kerze schützt, und in dem Stein dahinter ist jede Maserung zu sehen. Die Natur hat ihre Geschichte, und die Geschichte hat ihre erdhafte Materialität, und beides ist in einem intensiven Durchdringen zu transzendieren zu einem letzten Sinn, der darin und dahinter liegt. Dichterische Paraphrasen einer Wirklichkeitsempfindung sind das, die sich nur in bildnerischer Metaphorik ausdrücken lassen. Es ist genau die Herstellung des Abstandes und der Entfremdung, die Tarkowskij an den Naturformen, an dem Naturraum und an der Atmosphärik festhalten läßt. In dieser Entfernung aber verwandelt sich das Naturbild in ein mythisches Gleichnis. Und so wird das gewagte Schlußbild in der Ruine der Kathedrale sowohl zu einer Metapher der russisch-italienischen Begegnung wie auch zu einer im Gleichnis geschauten Wahrheit des letzten Sinnes. Die Offenbarung Johannis kommt mir wieder in den Sinn: "Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen. Und er selbst wird bei ihnen wohnen, und er wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein, denn das erste ist vergangen. Siehe, so spricht der Herr, ich mache alles neu".

VI.

"Denn siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen". Die neue Schöpfung senkt sich nicht wie Goldregen vom Himmel herab. Vielleicht ist uns auch nur der Glaube daran abhanden gekommen, das hat mit unserer Gotteserfahrung zu tun. Aber gerade in der Konkretheit der Weltwirklichkeit, in unserer täglichen Erfahrung ist die neue Schöpfung zu entdecken. Es kann herausgelebt und herausgeliebt werden, was Christus als der große Schöpfungsmittler in diese Erde hineingesenkt hat. Filme sind gerade in ihrer Betonung der äußeren Realität hervorragende Spurensucher auf den Wegen, die zur Begegnung und Erfahrung Gottes führen. Und da wird es sich hier und da ereignen, daß die Last von Natur und Arbeit und Geschichte, die pressura dieser Welt, nicht einfach abfällt, aber daß wir ihrem Druck nicht ausgeliefert werden, sondern uns diesem Druck zu entheben scheinen. Die Welthaftigkeit von Welt zeigt sich auf einmal nicht als Last, sondern als Transparenz. Die Welt und das Leben werden durchsichtig, und das ist Glück, und schließt mich und alle Anderen ein.

Eine universale Dimension hat diese Erfahrung. Das ist die Gestalt meiner Gotteserfahrung im Augenblick, und ich denke, die Gotteserfahrung vieler. Darin liegt auch die Wahrheit dieses gewaltigen und schönen Prophetenwortes von dem neuen Himmel und der neuen Erde. Eine Verheißung für alle, die fest auf dieser Erde stehen.

(Vortrag auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag in Stuttgart am 17.06.99)


© Hans Werner Dannowski 1999
Magazin für Theologie und Ästhetik 3/1999
https://www.theomag.de/03/hwd1.htm