Plötzlich sind wir im Paradies. Aus einem See, in dem sich die Pflanzen spiegeln, taucht ein nackter schwarzer Mann auf, dann, ebenso nackt, eine weiße Frau. Wenn Adam und Eva einen Fisch fangen, so ist das nur ein neuer Anblick und ein Geruch, wenn sie sich berühren, ist es nur ein Tastgefühl. Wir kennen die Geschichte. Nur daß neben dem Baum mit der Schlange bereits ein gekreuzigter Christus hängt. Und daß das vertriebene Paar vor dem Tor, daß sich hinter ihnen schließt, von einem Blitzlichtgewitter aus zahllosen Kameras überfallen wird. In "The Loss of Sexual Innocence" von Mike Figgis werden Adam und Eva in die Mediengesellschaft verstoßen. Es ist ein Film der verbotenen und verstohlenen Blicke, der in enigmatischen, nur lose verbundenen Erinnerungsfragmenten die Biographie des Filmemachers Nic erzählt. Schon der Beginn, den Figgis ins koloniale Kenia des Jahres 1953 verlegt, setzt eine obszön vergiftete Blickerfahrung in Szene. Als blonder Knabe sieht Nic durch die Ritzen einer Holzbaracke ein bis auf die Unterwäsche entkleidetes schwarzes Mädchen, das einem alten Mann, einem Missionar vielleicht, Verse aus dem Hohelied Salomos vorliest. Aus anderen Blickwinkeln wiederholt sich die gleiche Konstellation: Wenn Nic und seine Freundin beim Fummeln auf dem Boden des Wohnzimmers von deren Vater überrascht werden; oder wenn der freudlose Akt zwischen Nic und seiner Frau, in der Küche ihres Cottages, von ihrem kleinen Sohn beobachtet wird. Auch die Blutstropfen, die vor den Augen des kleinen Nic aus dem Ohr eines Unfallopfers sickern, gehören bei näherer Betrachtung in den gleichen Bann- und Themenkreis. Ein Kreis, in den zuletzt auch die Geschichte eines Filmprojekts in der nordafrikanischen Wüste mündet. Nach einem von Nics Team verschuldeten tödlichen Unfall mit einem Tuaregkind fällt die Freundin des Tonmanns Luca, die auch von Nic begehrt wird, der Vergeltung des Stammes zum Opfer. "Justice", so hat Figgis diese Episode seines durch Schwarzblenden und Zwischentitel gegliederten Films genannt. Ohne den Titel und ohne die Paradieserzählung würde sich das Sujet des Films, oder vielmehr: sein Problem kaum erschließen. Denn die alltäglichen und die intimen Momente, die er ohne Rücksicht auf die Chronologie aneinanderreiht, bleiben ohne Vorher und ohne Danach. In der Wiederholung wird allein ein Gefühl des Unbehagens spürbar, der Frustration, des scheiternden Verlangens, das in die Bilder gefahren ist wie ein Schlangenbiß - bei aller visuellen Schönheit, um die Figgis sich bemüht. Das Begehren, das dem Sehen entspringt, findet in den Medien seine technische Vollendung - und ist zugleich mit einer Schuld beladen, die mit dem Verlust des Naturzustandes ihren Anfang nimmt. Bei Figgis, der mythisch-religiöse Symbolik und filmische Selbstreflexion zusammenschließt, wiederholt jeder Film den Sündenfall. Gewiß, dieser Kurzschluß erklärt nichts. Aber er artikuliert ein Unbehagen in der Filmkultur, das in den Debatten um die Grenzen des Kamerablicks periodisch wiederkehrt, gerade dann, wenn es um Sexualität geht - oder um Tod. Der Dokumentarfilm "Megacities" von Michael Glawogger bringt noch eine andere, allgemeinere Grenze ins Spiel. Sein kaleidoskopisches Porträt des Überlebenskampfes in den Metropolen Mumbai/Bombay, Mexico City, New York und Moskau provoziert das soziale Schamgefühl eines Publikums, das sich vor den Zumutungen der Armut in Sicherheit weiß. Ungewöhnlich genug für einen Film über das Elend in den großen Städten will "Megacities" weder Anklage noch Appell an das Mitgefühl sein. Er fordert weder die Veränderung der Verhältnisse noch Barmherzigkeit. Im Gegensatz zu Figgis macht Glawogger Kino ohne Skrupel, hemmungslos voyeuristisch, und wenn er für etwas eintritt, dann für das Recht seiner Protagonisten, nicht übersehen und nicht bemitleidet zu werden. Für ihr Recht auf Aufmerksamkeit. Unmengen von Hühnerfüßen kocht Modesto aus Mexico City - Krallen abschneiden, Haut abziehen, in den Topf werfen - und verkauft sie in Plastikbechern, mit oder ohne Brühe. Babu Khan siebt stundenlang und Tag für Tag Farben in Bombay, wird im Farbstaub selbst zur Farbe, blau, rot, gelb, grün - eine Freude für jeden Fotografen, Gift für seine Lungen. In Moskau leiden Alkoholiker, bis auf die Unterhose entkleidet, in Ausnüchterungszellen, und in der Metro halten sich die Passagiere an Büchern fest. Der Junkie Toni, "der Trickser", vermittelt in New York für 65 Dollar Prostituierte, die es nicht gibt, ein hartes Geschäft mit den Begierden seiner Kunden. Bekifft, sabbernd, erschöpft schläft er vor der Kamera ein. Supermann Gomez, wieder in Mexico, beraubt seine Opfer, indem er ihnen den Hals zudrückt - gewaltsamere Mittel verschmäht er. Clipartig wechseln die Eindrücke und Perspektiven, verschwimmen Inszenierung und Authentizität. Im Zeitraffer und in "loops", in Zeitschlaufen, erfahren wir von einem Bäcker, einem Schneider, einem Friseur in Bombay, wir sehen Abfallsammler durch die Kloaken waten und, zurück in Mexico, Müllkippen durchsuchen. Zweimal läßt sich die Kamera Zeit. Einmal zappeln geschlachtete Hühner in einem Bottich, verspritzen Blut, endlos scheint dieses Sterben. Und später sehen wir die Stripteasetänzerin Cassandra in ihrer Show, gestreichelt, betastet, angestarrt, verschlungen von der Männermenge. Sex und Tod, das sind die beiden Extreme von Glawoggers Film, mit denen er unseren Blick strapaziert. Er folgt dabei, auch in seiner Bilderfülle, in fast klassischer Manier der Idee eines barocken Welttheaters. Das fragt bekanntlich nicht nach Sozialprogrammen, sondern nach Himmel und Hölle. In "Megacities" ist die Medienrealität von Filmen und Talkshows, Reality TV und Videoclips eine Voraussetzung und nicht eine Mißbildung des Sehens - eine Realität, von der sich Glawogger freilich durch ein kinogeschultes ästhetisches Gewissen unterscheidet, durch die Sorgfalt, die er an seine Bilder wendet, durch die Dichte und Intensität, die ihnen seine Montage verleiht. Am Anfang zeigt er uns den Bioskopmann aus Mumbai, der Filmstreifen, Bilderabfall der indischen Traumfabrik, mit Nadel und Faden zusammennäht und damit den Kindern der Slums ihre Heldenerzählungen schenkt. Und am Ende hören und sehen wir die Anrufer einer nächtlichen Radioshow in New York, die von ihren Zukunftsvorstellungen sprechen. Mit diesen Selbstkommentaren demonstriert der Film einen Gebrauch der Medien "von unten", der von den Skrupeln der Medienkritik keine Notiz nimmt. Auch der Purismus und die Selbstbeschränkungen des dänischen Kinomanifests "Dogma 95" lassen sich als Versuch verstehen, die Mechanismen unserer medialen Bilderproduktion in Frage zu stellen und ihr zugleich eine neue Realitätswahrnehmung abzugewinnen. Inzwischen hat mit "Idioten" von Lars von Trier auch der nach Dogma-Regeln entstandene Film des Inspirators der Gruppe unsere Kinos erreicht. Wir sind zurück im Kino des Unbehagens, in der Hamlet-Welt unaufhörlicher Selbstbefragung. Der Film macht uns zum Zeugen eines sozialen Experiments, das keine geringere Absicht als die Wiedergewinnung der Unschuld verfolgt. Eine Gruppe von jungen Leuten spielt in der Öffentlichkeit die Idioten und provoziert im Schutz dieser Rolle das soziale Regelsystem. Und es ist keine Frage, daß sich vor diesem praktizierten living theatre, in dem die Trennung von Inszenierung und Wirklichkeit, von Schein und Sein verschwindet, die Welt der Normalität mit ihrer verinnerlichten Disziplin blamieren muß. Dennoch predigt uns Lars von Trier nicht die Utopie. Wir mögen gelegentlich mit den Verlockungen der Regression spielen, wir können auch den Gestus der Provokation genießen und den Zweifel an der Verbindlichkeit unserer Normen pflegen - in ihnen unser Heil zu suchen, käme uns nicht in den Sinn. Deshalb wird "Idioten" zu einer bewegenden Kinoerfahrung und mehr als ein Spektakel erst dann, wenn Lars von Trier vom Scheitern des Experiments erzählt und die Grenzen des ästhetischen Kalküls offenbart. Sie zeigen sich weniger in der Beziehung zur Außenwelt als an den Rissen, die innerhalb der Gruppe entstehen - wenn der Gruppensex zum Gruppenzwang wird; wenn die psychisch kranke Josephine, eine der Jüngsten, von ihrem Vater rigoros zum Verlassen der Gruppe gezwungen und nach Hause gebracht wird; oder wenn die Versuche mißlingen, sich nicht nur in der Anonymität, sondern auch im Familienkreis oder am Arbeitsplatz als "Idiot" zu verhalten, wie Stoffer, der ideologische Kopf der Gruppe, es verlangt. So paradox es klingt: Lars von Trier ist nicht an der Versuchsanordnung, sondern an der Suche nach der wahren Empfindung gelegen. Er hat sie einer Figur anvertraut, die immer etwas abseits bleibt, die an den Spielen der anderen nicht teilnimmt und doch bei ihnen eine Zuflucht gefunden zu haben glaubt. Karen, eine etwas ältere, schon leicht verblühte Frau, ist durch Zufall an die Idioten geraten. In einem Restaurant hat sie den lärmenden Stoffer zu beruhigen versucht und sich von ihm mitziehen lassen, freundlich verwundert und unfähig, einen Hilflosen zu kränken. Und sie bleibt auch dann, wenn sich die Szene als Theater erwiesen hat. Erst am Schluß des Films erfahren wir ihre Geschichte. Karen hat ihren Sohn verloren, am Tag der Beerdigung hat sie ihre Familie verlassen, zu der sie nach der Auflösung der Gruppe zurückkehrt. Kaffee und Kuchen stehen vorwurfsvoll bereit, die Verwandtschaft straft die Heimgekehrte mit Nichtachtung. Und dann, zum ersten Mal, verletzt Karen das Ritual. Unverständliches stammelt sie, läßt den zerkauten Kuchenbrei aus dem Mund quellen. Wir sehen ihre Verstörung. Wir sehen einen Schmerz, der unsere vereinbarte Fassung zerbricht. Und die versteinerten Gesichter ringsum. Unter den "Idioten" war Karen weit besser aufgehoben. Auch wenn es Falschspieler waren. |
||||
|