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Magazin für Theologie und Ästhetik


Si non vis bellum para pacem

Kultur, Kirche und Kulturpolitik im 21. Jahrhundert

Olaf Schwencke

Kürzlich hat die EKD eine kleine Schrift mit aktuellen Überlegungen zu Kultur und Kirche vorgelegt: "Gestaltung und Kritik. Zum Verhältnis von Protestantismus und Kultur im neuen Jahrhundert". Olaf Schwencke kommentiert und kritisiert sie, um seinerseits mit seinen Fragestellungen ein aktuelles Panorama der Lage der nationalen und europäischen Kulturpolitik am Ende des Jahrhunderts zu skizzieren.

I.

"Kirche und Kultur" hieß Paul Tillichs viel beachtete und innerhalb wie außerhalb des Protestantismus intensiv diskutierte Schrift von 1924, mit der er - als Gegenposition zu Karl Barths dialektischer Theologie - die "gesamte Kultur" in die theologische Arbeit einzubeziehen versuchte: außer der Philosophie im engeren Sinne auch die Wirtschaft, die Politik, die Soziologie, die Geschichte, die Literatur, die Kunst sowie Erziehung und Ethik. Ihm ging es in bezug auf ein so breites Kulturfeld primär darum, liberal-humanistisches Denken in Kirche und Theologie zu legitimieren, seit sich namentlich Karl Barth vehement entschieden von der liberal-positivistischen Position Harnack-Troeltschschen Denkens im deutschen Kulturprotestantismus abgesetzt und die "reformatorische Kraft des Wortes der Offenbarung Gottes" radikal gesetzt hatte. Barth hatte aufgrund seiner Exegese des Römerbriefs (1919 und 1922) den "unendlich qualitativen Unterschied" von Religion und Glauben konstatiert; danach galt ihm "Religion" schlechthin als Unglaube (während Tillich Religion als das bezeichnet hatte, "was uns unbedingt angeht"). Aus dem christologisch-theologischen Selbstverständnis Barths erwuchs die Grundlage der Bekennenden Kirche gegen den nationalsozialistischen Führerstaat: "Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Wort Gottes in Jesus Christus noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen" (Barmer Erklärung von 1934). Tillichs kulturprotestantisches Denken war damit vorerst theologisch erledigt; kommt es nun wieder?

II.

"Protestantismus und Kultur" lautet das Impulspapier der Ev. Kirche in Deutschland (EKD und VEF) zum Verhältnis "zwischen Kirche und Öffentlichkeit, Kirche und Kultur"; der Titelanklang an Tillichs 75 Jahre zurückliegende Schrift wird beabsichtigt sein.

Die Autoren bestimmt "die Überzeugung, daß die Kultur auf die prägenden und kritischen Kräfte des christlichen Glaubens bleibend angewiesen ist und daß der christliche Glaube seinerseits nur im lebendigen Austausch mit der gegenwärtigen Kultur verständlich und zugänglich wird" (Vorwort). Die Protestanten, die, anders als für die meisten vorausgegangenen "Gemeinsamen Erklärungen" mit den Katholiken, für diesen gesellschaftspolitisch offenen Konsultationsprozeß souverän evangelisch argumentieren und ausdrücklich an ihre beachtliche Demokratie-Denkschrift "Christentum und politische Kultur" von 1997 anknüpfen, stellen sich und der säkularen pluralen Gesellschaft grundlegende Fragen künftiger Wertorientierung; damit greifen sie mit eigener Position ein in die gegenwärtige kulturpolitische Debatte: "Welche Bedeutung hat das Christentum im nächsten Jahrhundert für Kultur und Gesellschaft? (Gewinnen) die Prägekräfte des Christentums ... angesichts der bedrängenden Fragen danach, was die Gesellschaft zusammenhält, erneut Relevanz?" (Vorwort) .

III.

Das bemerkenswerte Verdienst des Impuls-Papiers ist es, nicht innerkirchliche Wegweisungen geben zu wollen, sondern Fragen nach dem Stellenwert von Kultur in der Gesellschaft von morgen unter Einbeziehung kirchlicher Traditionen, evangelischer Werte und christlicher Zukunftshoffnung exakt zu stellen. Es wird darin - auch für säkulares Denken nachvollziehbar - offen, zum Teil auch bewußt zu Ungunsten der Kirche argumentiert. Wer über kulturpolitische Perspektiven im neuen Jahrtausend nachzudenken gewillt ist, wird folglich durch das Studium dieser Schrift bereichert.

"Die Protestanten entdecken die Kultur wieder", befand die FAZ (Heike Schmoll, vom 3.3.99); war das richtig bemerkt? Hat nicht namentlich die evangelische Kirche einen ständigen Anteil am öffentlichen Kulturleben, vor allem in Deutschland: Die vielen kirchenmusikalischen Veranstaltungen, auch außerhalb der Gottesdienste, fallen jedermann sofort ein; auch Kunstausstellungen in Kirchen und Gemeindehäusern zählen dazu und schließlich, vor allem im Blick auf die kirchliche Arbeit in der ehemaligen DDR, waren es Literaturlesungen, die in Gotteshäusern stattfanden. Und hat nicht die Kirche erheblichen Anteil an der Architektur der Nachkriegsepoche in der Bundesrepublik? Kurzum: Der Protestantismus hat seine singuläre Affinität zu Kultur und Bildung bewahrt. Die Arbeit der Evangelischen Akademien ist sicherlich neben den großen Themen-Kirchentagen seit den 60er Jahren intensivster Ausdruck dieser Kultursymbiose von Protestantismus und kritischer Bürgergesellschaft.

Stringent den weiten Kulturbegriff anwendend, heißt es zu Gestaltung und Kritik: "Unter Kultur wird ... die Gesamtheit des gesellschaftlichen Lebens und Handelns verstanden, sofern es durch menschliche Zeichenbenutzung bestimmt und durch symbolische Kommunikation reproduziert wird" (S. 18). Ihre "Leitmedien" sind "Sprache und Ausdruckshandeln" - gegenüber den anderen Leitmedien, dem der Wirtschaft "Geld" und dem von Staat und Recht "Macht". Aus diesem Kontext kann man nicht herauslesen, daß christliche Kultur im Selbstverständnis der Verfasser des Impulspapiers als Leitkultur unserer Gesellschaft begriffen wird; vielmehr wird ausdrücklich konstatiert, daß in unserer kulturellen Demokratie unterschiedliche Wertvorstellungen neben anderen existieren, sich befruchten und das bunte Bild von multikultureller Gesellschaft prägen.

Selbst wenn der "Wirtschaftsfaktor Kultur" ins Blickfeld rückt, so doch nicht allein der Homo oeconomicus, sondern das Kulturwesen Mensch: "Der Anspruch jedes Menschen, aufgrund seiner unveräußerlichen Würde als Rechtsperson anerkannt zu werden ... (gilt)"; denn die "humane Qualität menschlichen Zusammenlebens entscheidet sich nicht an der wirtschaftlichen Entwicklung und ihren politischen Rahmenbedingungen allein; vielmehr wird immer deutlicher, wie stark sie auch von kulturellen Voraussetzungen abhängt". Allerdings muß an ihrem Niveau gearbeitet und um ihren Status gerungen werden (S. 68).

In dieser grundlegenden Frage des künftigen Verhältnisses von Christentum, Kultur und Gesellschaft, die an Sachgebieten ("Begegnungsfeldern") u.a. von Kunst, Medien, Bildung und Wissenschaft durchdekliniert wird, schwingt immer auch protestantische Selbstkritik mit; etwa: Haben wir es bei der Kirche vielleicht nicht doch mit einem "Auslaufmodell" zu tun, und ist es gar "fromme Fiktion", von einer dauerhaften Bedeutung der Kirche für die kulturelle Existenz in unserer Gesellschaft auszugehen?

Um das Ergebnis meiner Analyse vorweg zu nehmen: kulturpolitisch ist die kleine Schrift "Gestaltung und Kritik. Zum Verhältnis von Protestantismus und Kultur im neuen Jahrhundert" (EKD-Text 64, 1999) auch für solche Zeitgenossen von Belang, die sich selber als kirchenfern verstehen, aber über die Zukunft der Kultur nachdenken wollen - etwa im Sinne eines Kulturverständnisses wie bei Jean-Paul Sartre: "Die Kultur vermag nichts und niemanden zu erretten; sie rechtfertigt auch nicht. Aber sie ist ein Erzeugnis des Menschen, worauf er sich projiziert und wiedererkennt. Allein dieser kritische Spiegel gibt ihm ein eigenes Bild".

IV.

Wer heute, selbst aus dem Blickwinkel einer Ev. Kirche in Deutschland (EKD), über die Zukunft unserer Gesellschaft nachdenkt, kann es in einer globalisierten Welt nicht mehr allein nationalbezogen tun. Er muß zumindest die europäische Dimension einbeziehen; das geschieht bedauerlicherweise in der vorliegenden Schrift nicht. Es geht heute im Europäisierungsprozeß ja nicht primär mehr um die Bändigung des massiven Einflusses der Wirtschafts- und Währungsunion mit dem einheitlichen EURO auf die Gesellschaft, sondern, wenn von Europas Zukunft die Rede ist, um die "Wertegemeinschaft Europa"; längst hat sich die ursprüngliche EWG-Interessengemeinschaft politisch dahin inhaltlich weiterentwickelt. Sollte solche Weltlichkeit der Welt etwa keinen bedenkenswerten theologischen Bezug haben? Darüber konstruktiv nachzudenken, ist schon deswegen wichtig, weil sich die Kulturentwicklung künftig weniger auf eine national bestimmbare Gesellschaft, sondern auf Europa insgesamt und schließlich auf die ganze Welt beziehen wird.

Für Europa, das "geistige" wie auch das institutionelle, stellen sich solche Gestaltungsfragen, im christlichen Rahmen wie auch im säkularen, immer dringlicher. Welche grundlegenden Werte, Überzeugungen und Interessen verbinden die Europäer? Was hält uns im innersten zusammen? Die gemeinsame, für das neue Jahrtausend notwendige europäische Identität muß diskutiert werden. Es gibt sicherlich keinen Zweifel, daß das Christentum neben Aufklärung und Humanismus dafür die Grundlage bildet; doch wie kann sie gestaltet werden? Europas geistige Grundlage zu festigen, das wäre eine adäquate Aufgabe auch für theologisch-kirchliches Nachdenken! Dafür sollte in Europa eine protestantische Kirche, die zu unterscheiden vermag zwischen Glauben und Kultur -Tillich und Barth im Sinne -, ihr Wart einbringen. "Gerade weil das Evangelium mehr ist als ein bloßer Kulturfaktor, kann es sich auf die Kultur gestaltend und verändernd auswirken" (S. 67).

V.

Als vor fast dreißig Jahren in der Evangelischen Akademie Loccum in Folge von und im Kontext des Willy-Brandt-Mottos "Mehr Demokratie wagen" Impulskolloquien für eine neue Kulturpolitik begannen - "Plädoyers für eine Neue Kulturpolitik" (1974) -, hat keiner der damaligen Akteure nach der theologisch-kirchlichen Begründung dafür gefragt. Doch konnte sie auf dem "protestantischen Prinzip" basieren, das keiner treffender als Paul Tillich so formuliert hatte: "Es ist noch immer die erste Aufgabe gegenwärtiger Theologie, den protestantischen Protest auszusprechen, grundsätzlich und eindringlich ...". Und ihn, wenn es denn darauf ankommt, auch konkret gesellschaftspolitisch umzusetzen !

Zur Entwicklung und Festigung einer politischen Kultur in der Bundesrepublik Deutschland haben entscheidend die großen evangelischen Kirchentage und intellektuell die gesellschaftspolitischen Kolloquien der Evangelischen Akademien beigetragen. Die vor allem in diesen Gremien und Institutionen entwickelte "Streitkultur" gewann zunehmend auch ihre "zivilreligiöse" Dimension, nämlich als Integrations- und Legitimationselemente unseres demokratisch-parlamentarischen Gemeinwesens. Nun steht auch die protestantische Ethik vor der Herausforderung, europapolitisch zu reagieren - in "Gestaltung und Kritik"!

VI.

Die Politik-Bereiche, die in der Schrift "Gestaltung und Kritik" als "Begegnungsfelder" behandelt werden, sind thematisch wohl eher zufällig als gezielt ausgewählt worden. Selbst wenn ihre Autoren Überschneidungen mit der vorherigen Demokratie-Denkschrift vermeiden wollten, so fällt doch auf, dass gerade in diesem Kontext wichtige Aktionsfelder aus dem kirchlichen Leben der Gegenwart fehlen. Vermißt werden theologische Reflexionen über den Komplex Frieden: In welcher Weise hat die Sicherung gerade heute in der "Werte-Gemeinschaft Europa" möglicherweise auch völkerrechtliche, ggf. unfriedliche Konsequenzen als ultima ratio? Wenn Franz Mehring, der Theoretiker der frühen Sozialdemokratie, im Blick auf den Ersten Weltkrieg meinte, daß "unter Waffen die Musen zu schweigen" hätten, so denke ich, daß aufgrund unseres politischen Lernprozesses das Gegenteil richtig ist. Aus unserer eigenen Geschichte haben wir gelernt, daß Kulturarbeit gerade unter aggressiven Vorzeichen wichtiger denn je ist, daß sie dialogfähig zu machen hat, damit Friede und Kultur die beiden Seiten einer Medaille sind: damit es einen "Kampf der Kulturen" (Huntington) nicht geben wird ! Dafür kommt Kulturpolitik ohne ethische Begründung nicht aus.

VII.

Protestantismus und Kultur - Tillich oder Barth? Die Alternative ist im Blick auf das Verhältnis von Kirche, Religion und Kultur heute nicht mehr relevant. Religion ist ein Element jeder Kultur, und Kultur ist nicht a priori religionsfremd. Der Theologe und Berliner Bischof Wolfgang Huber, der für das Impulspapier federführend verantwortlich ist, hatte ein doppeltes Ziel für seine Überlegungen vor Augen: seiner (unserer) Kirche und der Gesellschaft wertorientierte Zukunftsperspektiven zu eröffnen und zugleich unsere kirchliche Vergangenheit für die Gegenwart des neuen Jahrhunderts relevant zu machen. Seine Vorlage gibt nicht nur wichtige, über kirchliche Positionen hinausreichende Anstöße, sondern eröffnet einen Horizont multikulturellen Denkens, der für das größere, nach Osten hin zu erweiternde Europa taugt. "Ohne Utopie wären wir Lebewesen ohne Transzendenz" (Max Frisch).

Hoffnungszeichen zu setzen, wie es in der vorliegenden Schrift geschieht, ist allemal wichtiger (und schwieriger), als Werteverfall-Szenarien auszumalen und zu beklagen. Zusammen mit dem neuen Grundsatzpapier der Kulturpolitischen Gesellschaft (1998), das in seiner Nüchternheit neben dieses Schrift seine Bedeutung bekommt, gibt es gute Argumente für die Zukunftsgestaltung einer kulturellen Demokratie in Europa im neuen Jahrhundert.

Wird es nun bald ein ganzes Europa des Friedens unter Wahrung der Menschenrechte geben? Es wird - anders als das zu Ende gehende grausame - dann friedvoll und demokratisch sein, wenn es gelingt, mit der Vielfalt seiner Ethnien und Religionen dialogisch umzugehen. Das muß noch gelernt werden zwischen Christentum sowie den moslemischen und orthodoxen Völkern, denn ohne Religionsfrieden wird es keinen Frieden in der Welt geben.

Si non vis beIlum para pacem - in der Umkehrung eines antiken kriegsverherrlichenden Spruches - Der Krieg ist der Vater aller Dinge (Heraklit)- hat Karl Barth sein humanes Gegenteil formuliert: Wenn Du den Krieg nicht willst, gestalte den Frieden!


© Olaf Schwencke 1999
Magazin für Theologie und Ästhetik 4/1999
https://www.theomag.de/04/osch1.htm