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Magazin für Theologie und Ästhetik


Die Wahrnehmung geht der Gestaltung voraus!

Wer Kultur gestalten will, muss zunächst genau hingesehen und hingehört haben
- Anfragen an die Stellungnahme der EKD "Gestaltung und Kritik -
Zum Verhältnis von Protestantismus und Kultur im neuen Jahrhundert"
aus filmkultureller Perspektive

Werner Schneider-Quindeau

Dass der Film als eigenständige kulturelle Praxis der Moderne in der EKD-Stellungnahme nicht vorkommt, hängt wahrscheinlich nicht so sehr mit seiner Einordnung in die Bereiche Jugendkultur und Medien zusammen, sondern mit der grundsätzlichen Beschreibung des Verhältnisses von Protestantismus und Kultur. Die kulturellen Begegnungsfelder sind für den Protestantismus deshalb von Interesse, weil sich auf ihnen kirchliche Gestaltungs- und Einflussmöglichkeiten bieten, die sich durch eine kritische Unterscheidung der kulturellen Geister (positive Zustimmung hier - Hinweis und Abwehr von Gefahren dort) legitimiere. Nach einer knapp skizzierten Situationsbeschreibung, einer dogmatischen Grundlegung und einer historisch-begrifflichen Klärung wird das Verhältnis von Protestantismus und Kultur als eine Frage der Einflussmöglichkeiten des Protestantismus auf dominante kulturelle Prozesse verhandelt.

Öffentlicher Einfluss ist allerdings nur eine Seite des Verständnisses von Gestaltung. Bevor ich überhaupt gestalten will, muss ich zunächst meine eigene Wahrnehmung bilden und belehren lassen, muss ernstnehmen, was es alles im Bereich der Kultur zu entdecken und zu finden gibt, muss mich auch selber kulturell so beeinflussen lassen, dass ich selber kritischen Fragen in meinem Selbstverständnis ausgesetzt werde.

Dass der Glaube in seiner geschichtlichen Ausprägung kulturell vermittelt erscheint, ist eine Binsenweisheit. Zur Debatte steht hingegen die Frage nach den unterschiedlichen Gestaltungen des christlichen Glaubens im 21. Jahrhundert und wie sich die christliche Tradition auf die autonomen kulturellen Formen einlässt, die ihm eine neue Sprachfähigkeit und Deutungsmacht verleihen könnten.

Im Film werden die Mythen und Träume, die Visionen und die Schreckensbilder, die Bildergeschichten unserer Zeit erzählt, in denen sich Menschen millionenfach wiedererkennen, ohne dass sie sich dabei selber besser kennenlernen. Wenn der christliche Glaube von Liebe und Hoffnung spricht, dann assoziieren unzählige Kinobesucher "Titanic" oder "Casablanca".

Vielleicht wäre es für kirchliche Stellungsnahmen heute angebracht, statt sich eines weiten und sehr unspezifischen Kulturbegriffs zu bedienen, der auf öffentliche Einflussmöglichkeiten zielt, die Wahrnehmung einzelner spezifischer kultureller Praxisfelder zu befördern, in denen Kirche selber zur Schülerin des Hörens und Sehens wird.

Bildende Kunst, Musik, Theater, Literatur und Film, also die Kunst als Suche nach Ausdruckformen für gegenwärtige Erfahrungen wären in ihrer eigenen inneren Dynamik und Differenzierung wahrzunehmen statt sie einem allgemeinen Kulturbegriff zu subsummieren, in dem schliesslich gerade das Spezifische der Wahrnehmung verschwindet. Auch Religion, Bildung und Wissenschaft, die Medien und der Sport verdienen eine je eigene Wahrnehmung und differenzierte Stellungnahme, die durch die Richtigkeiten eines allgmeinen Kulturkommentars verhindert wird. Warum hat man eigentlich in die Reihe der Begegnungsfelder nicht die Wohn- und Baukultur, die Mode und die gastronomische Kultur aufgenommen? Werden die protestantischen Einflussmöglichkeiten auf diesen Gebieten von vornherein zu gering veranschlagt, so dass diese zweifelos bedeutsamen Kulturformen noch nicht einmal der Erwähnung wert sind?

Mein Vorschlag für die weitere Beschäftigung mit Kultur: auf die Weitwinkelperspektive und die Totalansprüche verzichten und sich in schärferer Focussierung den Formen der Kultur zuwenden, die für kirchliches Wahrnehmen, Reden und Handeln nicht den grössten Einfluss, sondern höchsten Lerngewinn bedeuten. Eigenständige Kultur fordert Kirche zunächst zur Selbstbesinnung und zur inneren Neugestaltung heraus. Die Vorstellung, Kirche wüsste immer schon, wie zu gestalten und zu kritisieren sei, ist zu verabschieden. Denn sie zehrt immer noch von der Vorstellung eines überlegenen Wissens, das der Welt nur noch mitzuteilen sei. Eben dieser Haltung widerspricht moderne Kultur, die jedes umfassende Wissen suspendiert zugunsten stets partikularer und perspektivischer, sich ergänzender und miteinander konkurrierender Selbst- und Weltdeutungen. Kirche kann sich an diesem diskursiven Prozess mit ihrem Zeugnis von der christlichen Wahrheit beteiligen - und sie wird dabei vor allem wahrnehmungs-, sprach- und argumentationsfähig sein müssen.

Für die Wahrnehmung unserer Zeit wäre schon viel gewonnen, wenn sie hin und wieder ins Kino gehen würde, damit die Jugend und die Medienfachleute nicht mehr allein unter sich sind. Als "kritische Gegen-Öffentlichkeit" und als "Anwälte für Menschenwürde und verantwortete Freiheit" werden Vertreter der Kirche dann ernstgenommen, wenn sie mit den nichtkirchlichen Kulturkritikern und Engagierten zusammen ihre Stimme in der Öffentlichkeit erheben, ohne dass immer sofort die kirchliche Stimme besonders laut erkennbar sein muss. Wer mit der Wahrnehmung der je spezifischen kulturellen Gestaltungen beginnt, der ist in den eigenen Urteilen zunächst zurückhaltend, vernimmt die Erfahrungen, Beobachtungen und Bewertungen anderer, übt sich in Bescheidenheit und lässt sich im Blick auf die Ausdrucksmöglichkeiten der eigenen Botschaft immer wieder überraschen. Ästhetische Bildung im weitesten Sinne würde zu einer Kirche passen, die mit geöffneten Augen und Ohren die Eigenwilligkeit und je eigene Gestalt des kulturellen Phänomens ins Zentrum ihres Welt- und Menschenverstehens rückt.


© Werner Schneider-Quindeau 1999
Magazin für Theologie und Ästhetik 4/1999
https://www.theomag.de/04/wsq2.htm