Understanding MediaEin Sampler zur Geschichte der MedienreflexionAndreas Mertin |
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"Texte aus der Geschichte der Medienanalyse" macht Detlev Schöttker in seinem Sampler "Von der Stimme zum Internet" in kommentierter Form zugänglich. Das Buch bietet in 7 ½ Kapiteln 33 chronologisch angeordnete Schlaglichter auf grundlegende Reflexionen zur Mediengeschichte.
Vorläufer der MedienanalyseDie Geschichte der Medienreflexion beginnt, so schreibt Detlev Schöttker, sehe man einmal von Platons Phaidros ab, mit einem essayistischen Kapitel aus Victor Hugos "Glöckner von Notre Dame" (1831/82). Dort entwickelt Hugo den Gedanken, dass die Entwicklung des Buchdrucks in der Mitte des 15. Jahrhunderts die Architektur als kulturelles Leitmedium abgelöst hat: "Das Buch wird das Gebäude töten". Der Buchdruck ist nach Hugo die "Mutter aller [mediengeschichtlichen] Revolutionen". Weitere Punkte der Vorgeschichte der Medienanalyse sieht Schöttker in Gedanken von Ludwig Schorn und Eduard Kolloff zur Daguerreotypie (1839) und Karl Kraus' Kritik der Zeitungssprache (1910). Die Entdeckung der MassenkulturMit dem Telefon, dem Phonographen und dem Grammophon beginnt die Geschichte der "akustischen Speicher- und Übertragungsmedien". Den Eindruck, den das Grammophon auf die Zeitgenossen machte, zeigt Schöttker am Beispiel von Thomas Manns Zauberberg (1924). Der Wendung zurück vom Wort zum Visuellen, die mit dem Film eingeleitet wird, geht Béla Balázs, die Beobachtungen von Victor Hugo aufgreifend, nach: Der Mensch wird wieder sichtbar werden. Das Kino, so seine These, entwickle eine neue internationale Sprache: die der Mienen und Gebärden (1924). Siegfried Kracauer geht dem Spiegelcharakter des Films nach: um die heutige Gesellschaft zu erforschen, hätte man also den Erzeugnissen ihrer Filmkonzerne die Beichte abzunehmen (1927). Der illustrierten Zeitung widmet sich im Folgenden Siegfried Kracauer (1927), der Reklame Walter Benjamin (1928), sowie abschließend Rudolf Arnheim der Entwicklung vom Stumm- zum Tonfilm, also der Rückkehr der Wortes ins optische Medium (1932). Analyse und Kritik der MassenmedienRudolf Arnheims "Rundfunk-Theorie als Theorie der Wahrnehmung von Stimmen und Klängen" wird als nächstes vorgestellt: "Rundfunk ist Hörkunst" (1936). Arnheim stellt die besondere Bedeutung der akustischen Phänomene in den Vordergrund. Und dennoch klingt seine Beschreibung teilweiser schon wie eine vorweggenommene Beschreibung des Internet: "Das ist das große Wunder des Rundfunks. Die Allgegenwärtigkeit dessen, was Menschen irgendwo singen und sagen, das Überfliegen der Grenzen, die Überwindung räumlicher Isoliertheit. Kulturimport auf den Flügeln der Welle, gleiche Kost für alle, Lärm in der Stille." Nur Letzteres trifft für das Internet allerdings nur bedingt zu. Dass sich der Kunsthistoriker Erwin Panofsky auch mit dem Kino auseinandergesetzt hat, überrascht nur auf den ersten Blick. Er versucht, sein Modell der Ikonologie auf den Film zu übertragen (1936/1947). Panofsky bestimmt die spezifischen Möglichkeiten des Films als "Dynamisierung des Raumes" und als "Verräumlichung der Zeit." Seine These: Der Film ist das "moderne Äquivalent einer mittelalterlichen Kathedrale". Walter Benjamins "Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" (1936/ 1955), Max Horkheimers "Neue Kunst und Massenkultur" (1941) und Siegfried Kracauers "Von Caligari zu Hitler" (1942/1947) bilden weitere Stationen der Reflexionsgeschichte. Erweiterungen der Kritischen TheorieKracauers "Theorie des Films" (1960) ist dann der Einstieg in die Nachkriegszeit. Theodor W. Adornos "Ohne Leitbild" (1967) fasst die Kritik der Kulturindustrie zusammen: "Das Wort Massenmedien, das für die Kulturindustrie sich eingeschliffen hat, verschiebt bereits den Akzent ins Harmlose. Weder geht es um die Massen an erster Stelle, noch um die Techniken der Kommunikation als solche, sondern um den Geist, der ihnen eingeblasen wird, die Stimme ihres Herrn. Kulturindustrie missbraucht die Rücksicht auf die Massen dazu, ihre als gegeben und unabänderlich vorausgesetzte Mentalität zu verdoppeln, zu befestigen, zu verstärken. Durchweg ist ausgeschlossen, wodurch diese Mentalität verändert werden könnte." Hans Magnus Enzensberger plädiert in seinem "Baukasten zu einer Theorie der Medien" (1970) für einen "emanzipatorischen Mediengebrauch". Dieter Prokop geht in "Massenkultur und Spontaneität" (1974) dem Einfluss der Wirtschaft auf die Medien nach. Die Entdeckung von Stimme und SchriftUnabhängig von der kritischen Theorie Frankfurter Prägung haben andere Wissenschaftler die Theorie der Medien vorangetrieben. Dazu gehört ebenso Marshall McLuhans "Die magischen Kanäle" (1964) mit seiner Unterscheidung von 'heißen' und 'kalten' Medien, wie auch Jacques Derrida mit seiner "Grammatologie" (1967): "Derrida kritisiert die Fixierung der Philosophie auf Geist und Stimme als Logozentrismus bzw. Phonozentrismus. Er selbst bemüht sich dagegen um eine Aufwertung des geschriebenen Textes. Stimme wie Schritt verlieren damit ihre Selbstverständlichkeit und kennen in ihrer je besonderen Medialität zum Gegenstand der Reflexion werden." Der Entwicklung der Schriftformen von der Vorzeit bis zur phonetischen Schrift gehen Jack Goody und Ian Watt nach (1963/ 1968); Eric A. Havelock dem Verhältnis von Mündlichkeit und "Schriftlichkeit" (1982). Theorien der Bildmedien: internationale EntwicklungenMit Jean Baudrillards "Der symbolische Tausch und der Tod" (1976) kommen wir dann zu den elektronischen Medien. "Zeigen möchte Baudrillard, dass es in einer Welt des Fernsehen und des Computers eine reproduzierbare Realität nicht mehr gibt. An die Stelle der ursprünglichen Wirklichkeit sei vielmehr eine künstlich geschaffene Welt getreten, die als Realität ausgegeben werde. Baudrillard bezeichnet dieses Prinzip der simulierten Realität als 'Hyperrealismus' und dessen medial erzeugte Formen als 'Simulacra'. Durch die Ausbreitung digitaler Bilder seit Ende der achtziger Jahre hatte seine Theorie, die er in Büchern und Aufsätzen vertiefte, eine große Wirkung auf die Medienanalyse." Mit dem Fernsehen und seinem Einfluss auf die Gesellschaft setzt sich Neil Postmann in seinem Buch "Wir amüsieren uns zu Tode" (1985) auseinander. Paul Virilio sucht "aktuelle Entwicklungen der Kommunikation und Medientechnik zu analysieren." Abgedruckt ist ein Ausschnitt aus dem Buch "Die Sehmaschine" (1988): "Der Text erörtert die Möglichkeit des 'künstlichen Sehens' durch computergesteuerte Videokameras, die öffentliche Räume grundlegend verändern können." - ein Thema, das gerade in der aktuellen politischen Diskussion kontrovers behandelt wird. Mit Vilém Flusser stoßen wir schließlich auf jenen Theoretiker, der sich "so vorbehaltlos wie kein anderer den elektronischen Bildern zugewandt und ihnen denselben kommunikativen Status zugesprochen [hat] wie Stimme und Schrift." Das "medienanalytische Potenzial" seiner Schriften - abgedruckt ist ein Ausschnitt aus "Bilderstatus" (1991) - bezeichnet Schöttker als "bis heute kaum ausgeschöpft." Neue Medientheorien in DeutschlandFriedrich Kittler "verbindet Diskursanalyse und Medienanalyse. Er fragt nicht danach, wie Medien in der Literatur dargestellt oder wie literarische Texte durch Medien verbreitet werden, sondern wie Medien als technische Konstrukte und Diskursformen literarische Texte prägen. 'Elementares Datum ist', so Kittler, 'dass Literatur Daten verarbeitet, speichert, überträgt'. Mit dem Wandel der Medien müsste sich demnach auch die Struktur literarischer Werke verändern. Kittler ist diesem Wandel in seiner 1985 erschienenen Habilitationsschrift Aufschreibesysteme 1800/1900 nachgegangen." Michael Giesecke setzt sich dann mit dem "Buchdruck in der frühen Neuzeit" (1991) auseinander. Der anscheinend unvermeidliche Norbert Bolz leitet über zum Medium Internet. "Wer hat Angst vorm Cyberspace?" (1993) fragt er ironisch und seine Antwort lautet: "Bei Licht betrachtet, steckt hinter der Angst vor Computern aber nichts anderes als die Angst der humanistisch Gebildeten, mathematische Analphabeten zu sein". Also ob man heute beim Computergebrauch noch mathematische Kenntnisse bräuchte. Der Cyberspace - das Wort wurde ausgedacht von einem humanistisch Gebildeten, der lange Zeit nicht einmal einen Computer besaß - ist eher eine Imaginationsmaschine Die Angst vor dem Cyberspace wird vor allem von denen gepflegt, die auch Angst vor dem Medium Fernsehen haben. Mit Mathematik hat das natürlich wenig zu tun. Florian Rötzer widmet sich mit "Telepolis" (1995) dem "Cyberspace als Lebensraum" und Hanno Kühnert geht den durch Pornografie und Rechtsradikalismus im Internet entstehenden "Fragen der Kontrolle und Kontrollierbarkeit des Datenangebots" nach: "Wenn das Internet sich nicht ändert, wird es zerfallen" (1997). Epilog: Medien und Dritte WeltDer notwendige Epilog des Buches besteht aus einem Text des polnischen Journalisten Ryszard Kapuscinski über die Bedeutung der Medien im Blick auf die dritte Welt. "Die große Reporterarmee" (1999), so Kapuscinski, gaukelt uns eine Telepräsenz vor, die aber allenfalls für "zehn oder zwanzig Prozent der Bewohner der Erde" real ist. Und selbst diejenigen, die von den Medien erreicht werden, bekommen Material geliefert, das gegenüber seinem Wahrheitswert frei fungibel geworden ist. In den Worten eines Kameramanns: "ich film's bloß und schick' mein Material an die Zentrale, die machen damit, was sie wollen". Kapuscinskis Fazit: "Wir leben in einer paradoxen Welt. Einerseits heißt es, die Entwicklung der Kommunikationstechnik habe unseren Planeten zu einem einzigen Organismus gemacht, wir lebten im globalen Dorf. Andererseits spielen die großen internationalen Fragen in den Medien eine immer geringere Rolle - verdrängt durch lokale Sensationsberichte, Klatsch und alle möglichen sogenannten 'News you can use'." FazitDetlev Schöttker hat mit diesem Buch eine höchst interessante Sammlung von Texten zur Medienreflexion vorgelegt. Sicher wird man eine gewisse - aber auch gut begründete - Bevorzugung von Texten der Literaturgeschichte feststellen können. Das schmälert den Nutzen aber nicht. Dieser ist für jeden gegeben, der nicht nur eine Geschichte der Medienreflexion lesen will, sondern die Reflexionen selbst nachlesen will. Für Seminare verschiedener Fachrichtungen der Kulturwissenschaften eignet sich das Buch vorzüglich als Seminarreader. Aber auch darüber hinaus ist es eine höchst inspirierende Lektüre, eine komprimierte Übersicht über die Erfahrungen, Befürchtungen und Hoffnung, die die Menschen in den letzten 150 Jahren im Blick auf die Medien umgetrieben haben. |
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