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Magazin für Theologie und Ästhetik


Vergegenwärtigung

Peter Roth u.a. (Hg.), Die Anwesenheit des Abwesenden.
Theologische Annäherungen an Begriff und Phänomene von Virtualität

Eine Rezension von Andreas Mertin

Pro-Log

Julio Cortázars Buch "Rayuela" beginnt mit einem Wegweiser, auf welch unterschiedlichen Pfaden sein Buch lesend erschlossen werden soll: genossen werden kann es linear wie nicht-linear. Denn ein Nachteil des gedruckten Buches ist, dass man es in der Regel ganz intuitiv von vorne nach hinten liest. Im Internet aber ist das zum Beispiel anders, es ist eben nicht-linear. Dem Leser des hier zu rezensierenden Buches "Die Anwesenheit des Abwesenden" empfehle ich, es sich wie Cortazars "Rayuela" bzw. wie das Internet zu erschließen, also nicht-linear. Einsteigen sollte man mit dem letzten Text des Buches, der ziemlich präzise die zu bewältigende Herausforderung erkennbar werden lässt, nämlich Theologie in den virtuellen Welten zu vergegenwärtigen. Denn nicht weniger als das haben sich Mitglieder des akademischen Mittelbaus der katholischen Fakultät an der Universität Augsburg vorgenommen. Das abschließende Kapitel "Katholizität und Multimedia" stellt unter der Überschrift "Himmel Heilige [Hyperlinks]" ein CD-Projekt vor, das "virtuelle Streifzüge durch den katholischen Kosmos" vermitteln soll. Ich bin kein Experte für den katholischen Kosmos und insofern der ideale Adressat dieses Projekts.

Ausgangspunkt ist die Basilika Ottobeuren, die dem Rezipienten umfassend theologisch wie kultur- und kunsthistorisch erschlossen werden soll. Über fünf Textebenen (von der reinen Benennung über Kurzerläuterungen bis zu Hintergrundartikel) soll sich der Nutzer die Basilika und die sie tragende Ideenwelt erschließen. "Grundlegende Idee des Projektes ... ist es, katholische Traditionen neu aufzuschlüsseln und im Blick auf heutige Lebbarkeit auszulegen."[200] Ziel ist es dabei, "katholische Kultur fürs digitale Zeitalter anschlussfähig zu halten."[201] Der Nutzer erfährt so etwas über Kunst, den Glauben, die Geschichte und die konkrete Praxis der Kirche und wie dies alles zusammenhängt, m.a.W. "verlinkt" ist.

Um all das auch verantwortet vorstellen zu können, bedarf es vielfältiger Reflexionen. Einen Beitrag dazu sollen die vorangestellten Aufsätze leisten. Sie handeln z.B. über die Frage des religiösen Raumes [Manfred Riegger: Ein virtueller Raum in der religiösen Erwachsenenbildung? Aspekte zum Aufbau eines Raumes durch Imagination für biblisches Textverstehen; S. 135-156]. Unter besonderer Berücksichtigung anthropologisch-psychologischer Zugänge zum Raumverständnis wird nach der Möglichkeit der Vermittlung und Aneignung des religiösen Raumes gefragt. Ein anderer Beitrag widmet sich der Funktion der Bilder für den Glauben [Stefan Simons: Urbild und Abbild. Formen des Umgangs mit religiösen Bildern; S. 121-134]. Nicht immer ist ersichtlich, wie der Brückenschlag von der theoretischen Besinnung zur praktischen Anwendung funktionieren und vor allem gelingen soll. Wie zum Beispiel gelangt man von der barocken Bildfrömmigkeit zur zeitgenössischen Bildgläubigkeit, ohne allzu Unvergleichbares miteinander zu verbinden? Am leichtesten ist der Transfer vielleicht noch bei der Frage: Was ist eigentlich Virtualität? Dieser Fragestellung geht Manfred Negele in seinem Beitrag "Prothesen. Philosophische Annäherung an den Begriff von Virtualität" [15-32] nach. Dass Virtualität kein neues Phänomen ist wird nicht nur in diesem Aufsatz, sondern auch in Peter Roths "Virtualis als Sprachschöpfung mittelalterlicher Theologen" [33-41] deutlich. Auch bei Johann Hafners "Gottes Benutzeroberfläche. Zur Funktion religiöser Versprechen"[57-75] geht es um Virtualität als theologische Kategorie. Schwieriger scheint mir die Übersetzung schon bei Michael Kreuzers "Mysterium oder Virtualität. Die katholische Rede von der Gegenwart Gottes in der Welt"[43-53], der selbst ausdrücklich konstatiert, dass es "bei näherem Hinsehen" zwischen der virtus dei und den virtuellen Welten doch gravierende Unterschiede gibt, da es "um eine ganz andere Verbindung" geht. Auch bei anderen Aufsätzen stellt sich die Frage, ob sie nicht noch zu sehr der akademischen Welt und viel zu wenig der genuinen religiösen Erfahrung einzelner Menschen verpflichtet sind.

Manche Literatur habe ich ehrlich gesagt vermisst. Das gilt z.B. für Hans-Ulrich Gehrings "Textbegängnis als Kategorie biblischer Textrezeption" [in: B. Heller (Hg.), Kulturtheologie heute? Hofgeismar 1997, S. 49-53]. Oder auch elementare Literatur zur Kirchenpädagogik, die doch schon seit Jahren ein ähnliches Konzept im realen Raum erarbeitet hat [Vgl. etwa Th. Klie (Hg.), Der Religion Raum geben. Kirchenpädagogik und religiöses Lernen. Münster 1998.] Und nicht zuletzt wäre eine Auseinandersetzung mit Hartmut Böhmes interessantem Aufsatz "Die technische Form Gottes. Über die theologischen Implikationen von Cyberspace" [Praktische Theologie 31 Jg., Heft 4, 1996, S. 257-261.] weiterführend gewesen. Aber man kann natürlich nicht alles berücksichtigen.

Dennoch kann das Buch als interessanter Anstoß verstanden werden. Es zeigt zumindest den Graben auf, welcher überwunden werden muss, um von der traditionellen theologischen Arbeit zur Präsentation im virtuellen Raum zu gelangen. Von den vorgelegten Überlegungen hin zur Realisation eines Hypertextprojektes, das auch die Nutzer fasziniert (und nicht nur belehrt), ist es freilich noch ein weiter Weg. Gespannt sein darf man auf erste Umsetzungen, auf den darin sich offenbarenden theologischen Mehrwert im Vergleich etwa zu den bereits existierenden CD-ROMs und Internetquellen z.B. über den Kölner Dom usw.

Den Fortschritt des CD-ROM-Projekts: Der Himmel auf Erden. CyberRokoko zum Katholischsein. (Virtuelle Basilika Ottobeuren) von Johann Ev. Hafner - Rupert Scheule - Stefan Siemons kann der interessierte Leser im Internet verfolgen. 


© Andreas Mertin 2000
Magazin für Theologie und Ästhetik 7/2000
https://www.theomag.de/07/am18.htm