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Magazin für Theologie und Ästhetik


"Es klingelt, also bin ich"

Vom Handy als Fetisch

Anna Teichert

Wenn mir bis vor kurzem nach Versenkung war, ging ich in den Untergrund. Während die U-Bahn mich sanft schaukelnd zu irgendeinem Zielort geleitete, schloss ich die Augen und beruhigte meine Gehirnströme. Mit erfrischten Synapsen gelang es dann leichter, den Anfechtungen des Alltags standzuhalten und aus den permanenten Reizen der Großstadt vorwiegend die erquicklichen zu selektieren.

Ich sage: bis vor kurzem. Denn seitdem es Handys gibt, ist diese Art der Sammlung nicht mehr möglich. An allen Enden klingelt es in den bizarrsten Melodien, und wer eben noch unscheinbar vor sich hin stierte, wird nun zum Akteur. Er tut so, als säße er unter einer Glasglocke, auf dass keiner der vermeintlich weghörenden Beifahrer ihn vernähme. In Wahrheit inszeniert er für die Dauer des Gesprächs sein Privatleben in der Öffentlichkeit, taucht aus dem anonymen Inkognito hervor und scheint dieses Spiel sogar noch zu genießen.

Vielleicht bedürfte es für mich keiner Meditation mehr, wenn ich das Prinzip der Handys besser verstünde. Denn tatsächlich spaltet sich die Welt mittlerweile in zwei Lager: jene, die ihren Fetisch überall dabeihaben und jene, die ihn nicht brauchen oder wollen, fast möchte man sagen: die out-group. Natürlich gibt es dazwischen auch die Ambivalenten, die zwar eine Art Hassliebe zu ihrem mobilen Objekt hegen, gleichzeitig aber nicht davon lassen können.

Wie gehe ich indes als purer Beobachter mit dem Phänomen um, wenn es soviel Unbehagen weckt?

Kulturpessimistisch mit Sätzen wie: Im Zeitalter der Kommunikation ist jedes Mittel recht, um zu kaschieren, dass kaum noch wirklich kommuniziert wird?

Oder ökologisch bewusst: Wer achtet darauf, was der Elektrosmog alles anrichten wird, welche Degeneration steht unseren Kindern ins Haus?

Oder psychologisch herablassend, wie etwa mit der Behauptung, über die seelische Obdachlosigkeit helfe sich nicht hinweg, wer permanent erreichbar überall Dependancen seiner selbst errichtet?

Aus welchen Paradiesen wir auch vertrieben sein mögen, mit der reinen Ausschlusslogik, die sagt, was gut oder böse sei, kommen wir im Beispiel Handy nicht weiter. Bei aller Abneigung gegen die Chemie dieser Geräte, bin ich ständig gefordert, mich mit ihnen auseinander zusetzen. Dabei haben wir in Deutschland - im Vergleich zu Italien oder Japan etwa - noch recht gemäßigte Verhältnisse. Dort breitet sich diese Vernabelungstechnologie schon viel epidemischer aus. Und glaubt man den Prognosen der Internetexperten, wird in Zukunft fast alles über sie möglich sein. Ob Einkauf von Lebensmitteln, Abwicklung der Bankgeschäfte, Partnersuche oder -tausch. Der Zugang zum Netz entscheidet, inwieweit sich das Ich mit dem Drumherum verlinkt.

1. Das Handy als Verschmelzungsmodell

Vielleicht folgt solche Entwicklung einer Ursehnsucht des Menschen nach ozeanischer Verbundenheit. Sigmund Freud war der Meinung, dass im Erwachsenenleben immer wieder Versuche der Regression, des Zurückkehrens ins kindliche Einssein mit der Welt, aufgenommen werden. "Der Säugling sondert noch nicht sein Ich von der Außenwelt als Quelle der auf ihn einströmenden Empfindungen. Er lernt es allmählich auf verschiedene Anregungen hin. Es muss ihm den stärksten Eindruck machen, dass manche der Erregungsquellen, in denen er später seine Körperorgane erkennen wird, ihm jederzeit Empfindungen zusenden können, während andere sich ihm zeitweise entziehen - darunter das Begehrteste: die Mutterbrust - und erst durch ein Hilfe heischendes Schreien herbeigeholt werden. Damit stellt sich dem Ich zuerst ein 'Objekt' entgegen, als etwas, das sich 'außerhalb' befindet und erst durch eine besondere Aktion in die Erscheinung gedrängt wird."

"Ursprünglich enthält das Ich alles, später scheidet es eine Außenwelt von sich ab. Unser heutiges Ichgefühl ist also nur ein eingeschrumpfter Rest eines weit umfassenderen, ja - eines allumfassenden Gefühls, welches einer innigeren Verbundheft des Ichs mit der Umwelt entsprach."(1)

Selbst wenn Freud als Atheist die Sehnsucht nach dem Ozeanischen nicht teilt, sieht er sie doch an vielen Orten wirken. Sie äußere sich nicht nur in den verschiedenen Formen der Religiosität, etwa in fromm-ekstatischer Verzückung oder mönchischer Askese. Auch im Drogen- und Alkoholrausch oder im Kunstgenuss ginge es darum, sich in die Urgeborgenheit zurückzubegeben und Unlust in Lust zu verwandeln. Obwohl selbst Freud durchaus seinen ozeanischen Ort fand, nämlich in Form von gelegentlich eingenommenem Kokain, würde er das Motiv der Mystiker sicherlich regressive Weltflucht nennen.

Denn in der Mystik aller Zeiten und Kulturen ist immer wieder die Rede vom All-Einheitsgefühl, in dem sich der Unterschied von Ich und Welt auflöst. Was bleibt ist die pure Schau, das Tat tvam asi, wie es im Sanskrit heißt. "Ich bin Das". Ich bin das Andere, das Andere ist Ich - nicht als narzisstische Ausstülpung meiner selbst, sondern völlig und ohne Differenz. Was vorher als Individuelles wahrgenommen wird, erscheint plötzlich als Schimäre, als künstlich zusammengeraffte Mischung an Eigenschaften, derer im Grunde keiner bedarf. Diese Erkenntnis ist aber erst möglich, nachdem man aus dem kommentarlosen Zustand des Säuglings in die Sprache gegangen ist und sich die Welt mit ihren Attributen wahrnehmungstechnisch angeeignet hat. Das Zur-Welt-und Zur-Sprache-Kommen bietet erst das Entree für die mystische Sprachlosigkeit. In diesen Kontexten wird oft auch vom Verlust des Egos gesprochen, ein Akt, bei dem sich dem aufgeklärten Abendländer gemeinhin das Nackenhaar sträubt. Das, woran er innerhalb seines Erwachsenwerdens und seiner Individuation so sorgfältig gearbeitet hat, nämlich zu einem unverwechselbaren Ich zu werden, soll nun als Grund für Einsamkeit und Abtrennung gelten? Das, was ihn vom Rest der Welt unterscheidet, soll den eigentlichen Schmerz hervorrufen? Eine befremdende Behauptung und doch führt sie zur ersten These:

Das Handy verhilft zu ozeanischer Verbundenheit, ohne dass das Ego aufgegeben werden müsste. Es schenkt sozusagen mystische Momente, weil es die isolierten Phasen des Einzelnen mit kleinen Anrufen zu illuminieren weiß. Und dieser Weg von der Geworfenheit in die Erreichbarkeit erfordert nicht einmal, sich aus der Sprache herauszubewegen. Im Gegenteil: Sprache wird hier zum Vehikel in die Seinsfülle.

"Es klingelt, also bin ich" - diese Paraphrase auf den Leitsatz Descartes' spielt darauf an, dass das Handy eine völlig neue Daseinsberechtigung für jeden Telefonierer kreiert.

Doch die Negation des Satzes drängt sich ebenso auf: Was ist, wenn es nicht klingelt? Wohlgesonnene mögen sagen, am Handy könne man sehen, wie sich die Menschen wieder eifriger aufeinander zu bewegen. Glaubt man ihnen, säumen nicht partikulare Egoismen meinen Heimweg, denen mein Mithören einerlei wäre, sondern junge Vernetzungswillige, die mutig bereits den Fortschritt praktizieren, während unsereins noch miss-mutig in Theorien verharrt.

Ich befrage eine überzeugte Handy-Besitzerin, Mutter einer vierjährigen Tochter und Frau eines viel Verreisten zum Thema Anwesenheit. "Das Handy bringt dir täglich multi-tasking bei", lächelt sie mir mit triumphalem Timbre entgegen. "Das heißt, dass du mehrere Aufgaben gleichzeitig erledigst. Kinder fordern z.B., immer mit einem Auge beobachtet zu werden. Da bleibt dir gar nichts anderes übrig, als multi-tasking zu betreiben. Komm mir nicht mit deinen yogisch altbackenen Idealen, von wegen, man müsse immer ganz und gar an einem Ort sein. An mehreren Orten gleichzeitig sein - darin besteht doch gerade der Kick. Es verleiht dir quasi Omnipräsenz."

Wir sitzen im Cafe und ihr Gerät klingelt. Ohne die leiseste Vorwarnung hat ihr Mann unser Gespräch unterbrochen und erhält nun die volle Aufmerksamkeit. Sie flötet ins Telefon, bestellt zwar gleichzeitig beim Ober einen Cappuccino und gibt mir mit Blicken zu verstehen, dass sie sich kurz fassen wird. Aber ich bin außen vor. Von einer gerechten Verteilung ihrer Anwesenheitsprozente kann nicht die Rede sein.

Das führt zur Modifizierung der These von der Mystik des Mobiltelefons. Es geht den Usern nicht um Verschmelzung mit dem anwesenden Sein, sondern allein um Kontaktaufnahme mit dem abwesenden. Die Stimme aus dem Anderswo birgt mehr Magie als jene des Gegenübers. Man muss kein Theologe sein, um hinter diese Erkenntnis die berühmten drei Punkte zu setzen. ...

2. Das Handy als Abwesenheitssyndrom

Inwieweit die Stimme aus dem Anderswo Nähe zu erzeugen vermag, zeigt der neue Wim Wenders-Film "The Million Dollar Hotel". Mel Gibson ist als Kommissar über eine Art virtuelle Standleitung mit seiner Freundin verbunden. Er präsentiert hier übrigens die Folgegeneration der jetzigen Handys, bestehend aus Knopf im Ohr und nach vorn klappbaren Mikrobügel. Regelmäßig klingelt es in seinem Ohr und seine Freundin kann ihm nah sein, obwohl er von den Recherchen am Tatort nicht abkömmlich ist. Irgendwann ist ihr dieses Surrogat jedoch zuwenig. Sie will endlich wieder den realen Mann und kündigt ihm darum fernmündlich die Liebe auf. Er klappt resignativ den Mikrobügel wieder nach oben, die ganze vorherige Vernetzung mündet in erneute Verkapselung. Gottverlassen blickt er mit seinen stahlblauen Augen die Straße hinunter. Das Spiel seiner Wangenmuskeln lässt Emotionen erahnen.

Interessant ist hierbei, dass Technik, besonders Kommunikationstechnik, in den Filmen von Wenders oft im Zusammenhang mit dem Scheitern der Helden steht. Trotz der Faszination für futuristische Ästhetik, die er in seine eigenwillige Symbolik der Zeichen einwebt, zelebriert er dieses Scheitern geradezu. Und obwohl er product placement betreibt, indem er Firmenlogos und Geräte deutlich ins Blickfeld rückt, was ihm natürlich Sponsoren sichert - am Ende scheint die erhobene Zeigefinger-Aussage zu stehen: Vergesst nicht, euch zu begegnen!

Die Liebenden eines anderen Wenders-Films, "Bis ans Ende der Welt", drohen einander ebenso zu verpassen. Ausgerüstet mit kleinen watchmen, die ihre nächtlichen Träume tagsüber in Wärmebildern wiedergeben, werden sie süchtig nach diesen Projektionen und unfähig, miteinander zu kommunizieren. Der Traum, gedacht, die Erlebnisse des Tages zu verarbeiten, erhält hier einen Selbstzweck und wird in seiner schemenhaften Flüchtigkeit als realer empfunden denn Realität. Erst die gewaltsame Entscheidung, den watchman in die Wüste zu werfen, bringt Besserung. Hier sinnt das Medium Film nicht nur über seine eigene Fragwürdigkeit nach, sondern macht sich auch Gedanken zur Unmittelbarkeit.

Hat Unmittelbarkeit tatsächlich einen geringeren Attraktionswert als das über Monitor, Computer oder Handy Vermittelte? Ist der virtuelle Charakter der dazwischen geschalteten Medien für so viel wahrer zu nehmen, als das "wirkliche" Geschehen? Dann geht es hier nicht nur um die Anziehungskraft des räumlich Abwesenden, wie zuvor besprochen, sondern auch um die des zeitlich Abwesenden, des in jeder Hinsicht Anderswoseins. Die Sucht nach dem Traum der letzten Nacht hindert die Protagonisten in Wenders' Film daran, am Tage etwas zu erleben, das in der nächsten Nacht symbolisch umgesetzt werden könnte.

Die Suche nach dem vergangenen Moment behindert die Ankunft im Gegenwärtigen. Dieses zweite Motiv, die watchman-Süchtigen, kommt mir regelmäßig in den Sinn, wenn ich jene Handyisten sehe, die kurze Nachrichten, short message service, SMS genannt, in ihr Gerät tippen und versenden. Gebannt starren sie auf ihre Displays und sind ein weiteres Mal nicht vor Ort. Aber müssen sie es denn sein? Bin ich zu streng, wenn mir die Suggestivkraft ihrer kleinen Freunde suspekt vorkommt? War ich denn authentischer und anwesender, als mir das Meditieren in der U-Bahn noch gelang? Meine nächste These ist daher ein Appell an Toleranz und lautet:

In welcher An- oder Abwesenheit sich jemand befindet, bleibt ihm selbst überlassen. Ob vermittelte oder unvermittelte Wahrnehmung die echtere ist, scheint allein eine Frage der Perspektive.

Die einzige Einschränkung zu dieser These bildet allerdings die Lärmbelästigung, die Handys verursachen und die es wagt, sich in meine Entscheidung zur Präsenz oder Absenz einzumischen.

3. Das Handy als Requisit

Die Literaturwissenschaftlerin Gertrud Lehnert behauptet, dass wir unser Leben permanent inszenieren. Immer sehen wir uns als Gesehene. Immer nehmen wir den fremden Blick als Integral oder Initial in unsere Selbstwahrnehmung mit hinein.

Die meisten Menschen versuchen, "ihr Abbild möglichst vielen fremden Netzhäuten einzubrennen, vielleicht weil nur noch das Bewusstsein, gesehen zu werden, ganz gleich von wem und in welcher Situation, die eigene Existenz zu beglaubigen vermag."(2)

"Stets schlüpfen wir in eine Rolle, die in ihren groben Zügen lange vor uns festgelegt worden ist, die wir mit Leben füllen, verändern oder bestätigen. Erst indem wir unsere verschiedenen Rollen spielen, sie uns zu eigen machen und sie modifizierend ständig wiederholen, wird unser Leben real. Es ist folglich immer ein inszeniertes Leben. Ein naives, ‚authentisches' und unmittelbares Leben vor aller Inszenierung gibt es nicht."(3)

Aber gerade innerhalb der Inszenierung hegen wir ja eigentlich den Wunsch nach sichtbarer Individualität, nach Unverwechselbarkeit. Wir wollen uns unterscheiden. Die unzähligen Talkshows im Fernsehen beweisen es. Wenn Herr W. aus F. für fünfzehn Minuten einem Massenpublikum sein privates Schicksal unterbreitet, praktiziert er nicht nur Andy Warhole's Slogan der Siebziger "Be a Star for fifteen minutes!". Er behauptet auch mithilfe der Veröffentlichung seine persönliche Geschichte, mag sie ihn nun blamieren oder mag er darüber sogar vergessen, dass später das ganze Dorf über ihn klatschen wird. Der Bann des Fernsehens unterscheidet sich an diesem Punkt nicht so sehr von dem des Handys. Es gilt bei beiden, sich der individuellen Eigenheit zu vergewissern und in der Selbstdokumentation zu perpetuieren. Das Problem ist nur: Wenn jeder sich unterscheiden möchte, nivelliert sich womöglich der Unterschied. Lehnert sagt dazu:

"Wenn aber alle anders zu sein sich bemühen, ist Andersartigkeit keine Garantie für Einzigartigkeit mehr: Die vielen unterschiedlichen Menschen verlieren sich in ihrer Unterschiedlichkeit und werden unter Umständen gerade in dieser Unterschiedlichkeit verwechselbar. Andersartigkeit wird zur Normalität und reduziert sich im Prozeß des Kopierens und Imitierens auf äußerliche modische Zeichen. "(4)

Ein Beispiel hierzu: Der Fernsehsender tm3 bringt eine Variante zum umstrittenen "Big brother"-Projekt. Die Show heißt "Geld für dein Leben" und bedient sich des Wunsches aller, in Erscheinung zu treten. Unter den eingesandten Zuschauervideos werden die originellsten ausgewählt. Dann kommt ein Kamerateam zu Besuch nachhause und filmt besondere Szenen ihres Alltags. Für jede Sekunde des gefilmten Materials erhält der Teilnehmer 10,- Mark pro Sekunde. Sobald gesendet wurde, kann das Fernsehpublikum darüber entscheiden, ob es von dieser Person mehr sehen möchte, oder nicht. Einige Teilnehmer haben auf diese Weise bereits bis zu 30.000 Mark gehortet. An anderer Stelle, nämlich in den zwei Aufklärungssendungen "Liebe Sünde" und "Wahre Liebe", fällt es den Interviewpartnern nicht schwer, auch Einblicke ins Schlafzimmer detailliert zu gewähren.

4. Das Handy als Fetisch

Wenn die Nation von dieser, der sexuellen Warte aus über sich plaudert, legt sich die Analyse des französischen Philosophen Michel Foucault nahe. Unter dem Titel "Sexualität und Wahrheit" veröffentlichte er in den Achtziger Jahren ein dreibändiges Werk. Darin beschreibt er, wie wir von den Medien dazu angeleitet werden, über unsere innersten Belange zu sprechen. Gerade in den unbewussten Nischen, die erst seit Beginn der Psychoanalyse ins Blickfeld rückten, würden wir die eigentliche Information über unser Wesen vermuten. Wir seien nach den Aushorchmechanismen in Kirche und Medizin heute gerade unter dem Banner der absoluten sittlichen Freiheit Opfer eines "Geständniszwangs", wie er es nennt. Vom Beichtstuhl über die Analytikercouch in die Doku-Soap sozusagen. Doch das Geheimnis lässt sich laut Foucault nicht greifen. Es verflüchtigt sich allenfalls im Benennen.

"Man gibt sich heute gern der Meinung hin, dass Sexualität in der zeitgenössischen Erfahrung die Wahrheit ihrer Natur wiedergefunden habe, welche lange Zeit im Schatten gestanden sei oder nur in Verkleidungen habe auftreten können". Aber: "Wir haben die Sexualität nicht befreit, sondern sie an die Grenze getrieben."(5)

Da fast alles erlaubt und diskutiert wird und unsere Freizeitkultur einen regelrechten Anreiz für Bizarrerien - wie etwa Lack-und-Leder-Partys mit sadomasochistischen Performances - schafft, fragt sich, ob Grenzüberschreitung überhaupt noch zu haben ist. Für Foucault gehören Erotik und Grenzüberschreitung jedoch untrennbar zusammen. Nicht die komplette Libertinage schafft eine knisternde Atmosphäre, sondern die immer wieder erlebte und überschrittene Grenze.

Ich halte Handys - oder den Umgang mit ihnen - für ein Resultat dieser aufgehobenen Grenze. Das einzig Geheimnisvolle liegt in der Kontingenz, der Unvorhersagbarkeit, mit der sich zwei private Sphären vernetzen können. Natürlich setzen auch Handy-Besitzer gelegentlich ihre Grenzen, indem sie das Gerät auf Mail-Box-Empfang umschalten. Es soll sogar Leute geben, die es permanent in dieser Stellung des Anrufbeantworters belassen und erst am Ende des Tages ihr Band abhören. Ansonsten lautet das Gebot offensichtlich: Du bist nur lässig, wenn du durchlässig bist.

Das Handy als Fetisch ist ein Magnet für diverse Gefühle und Interaktionen. Selbst im säkularen Tagesbetrieb kann es als Platzhalter für erotische und quasi-religiöse Wünsche herhalten. Denn je intensiver man sich mit einem Fetisch befasst, desto mehr Kräfte wachsen ihm zu. Auch ohne animistischen Hokuspokus: Die Macht menschlicher Projektion zeigt sich oft erst, indem sie auf einen Gegenstand übertragen wird. Das Potential des Absenders wird mithilfe der äußeren Adressierung sichtbar.

Der mit dieser Entäußerung assoziierte Exhibitionismus bespielt nicht nur das Feld der Intimsphäre, sondern immer deutlicher auch jenes privater Banalität. Im Marsch durch das Medium scheint diese an Aura zu gewinnen, frei nach dem Wahlslogan Christoph Schlingensiefs für seine Partei "Chance 2000": "Beweise, dass es dich gibt!"

5. Das Handy als initiatisches Accessoire

Ein "Beweise, dass es dich gibt!" gilt auch in der Mode. In diesem Kompromissraum zwischen Anpassung und Extravaganz vermittelt sich nicht selten das Gespür für Eigenes und Fremdes. Was jedoch früher in der Mode zur Provokation gereichte, wird heute alsbald kommerzialisiert und verliert so an Brisanz - man denke nur an die "Eingemeindung" von Punkattributen in die normale Kaufhausmode. Ob dies tatsächlich, wie die bereits zitierte Lehnert behauptet, von einem allgemeinen Schwinden jugendlicher Subkulturen spricht, bleibt zu befragen. Gehen Jugendliche tatsächlich ihrer Energie zur Auflehnung verlustig, wenn jeder Videoclip ihre Embleme sofort vermarktet? Und wie ist es um den Individualitätswert bestellt, wenn alsbald "Vermainstreamung" ins Auge sticht? Lehnert fasst es wie folgt: "Individualität flüchtet sich ins Label. "(6)

Der demokratische Modecharakter des Handys scheint jedenfalls unübersehbar. In Berlin z. B. sind es gerade ärmere deutsche und türkische Kandidaten, die ihre immer kleiner werdenden Reisebegleiter präsentieren. Nur dem Eingeweihten sind die preislichen und designtechnischen Unterschiede ersichtlich. Doch als variables Statussymbol taugt das Handy allemal. Hosen und Handtaschen bergen in extra ausmodellierten Depots geräumige Unterbringungsmöglichkeiten. Als lebendiges Accessoire führt das Handy ein Eigenleben, da man nie weiß, wann es durch sein Klingeln auf sich aufmerksam machen wird. Es ermöglicht, sowohl aktiv als auch passiv zu sein, es zu haben, wie von ihm gehabt zu werden. Darum eine weitere These:

Das Handy ist ein ideales Übergangsobjekt. Für Jugendliche hat es regelrechten Initiationswert, da es unabhängig vom heimischen Elterntelefon macht und ein starkes Integrationsgefühl vermittelt. Es erfüllt kindliche Sehnsüchte ebenso wie erwachsene Anforderungen, ist immer verfügbar und darum berechenbarer als ein menschliches Gegenüber.

Darin liegt wohl die Faszination des Geräts. Es bietet, wie wir sahen, Aspekte von Verschmelzung mit der Welt bei gleichzeitiger Abwesenheit aus ihr. Es dient als Stichwortgeber für die öffentliche Selbstinszenierung und ermöglicht, sowohl über Andere zu verfügen, als auch verfügbar zu sein. Mit interaktiver Präsenz liefert es Gesprächsstoff, um das entindividualisierende Rauschen zu übertönen und aus der Masse herauszustechen.

Anmerkungen
  1. Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, Frankfurt, S. 37f
  2. Gertrud Lehnert, Mit dem Handy in der Peepshow, Berlin 1999, S. 102
  3. Ebda., S. 12
  4. Ebda., S. 117
  5. Michel Foucault, Vorrede zur Überschreitung (Nachruf auf Georges Bataille), in Walter Seitter (Hg.), Michel Foucault, Von der Subversion des Wissens, S. 32
  6. G. Lehnert, a.a.O., S. 97

© Anna Teichert 2000
Magazin für Theologie und Ästhetik 7/2000
https://www.theomag.de/07/at1.htm