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Magazin für Theologie und Ästhetik


Relationsontologie und Online-Kommunikation der Kirche

Markus Eisele und Mika Herold

Die Neuentdeckung der Welt

"Internet ist die zweite Entdeckung der Welt", so sagte es vor kurzem ein führender PR-Mann über das Netz der Netze. Welches die erste Entdeckung gewesen sei, darauf gab er keine Antwort. Vielleicht dachte er an die erste Mondlandung im Juli 1969. Den Amerikanern war etwas Unvorstellbares gelungen. Nicht nur die ersten Schritte der Astronauten auf dem Trabanten. Weit nachhaltiger in ihren Folgen waren die Fotos des "Blauen Planeten", die vom Mond zur Erde gefunkt und in Zeitungen und Zeitschriften gedruckt wurden. In den 60er Jahren - noch geprägt von der grenzenlosen Fortschritts- und Technikgläubigkeit - hatte sich die Menschheit immer mehr von ihren natürlichen Lebensgrundlagen entfernt. Der Schutz der Umwelt war weithin noch nicht als notwendig erkannt. Da führte ausgerechnet die bis dato größtmögliche Entfernung eines Menschen vom Heimatplaneten zu einem Umdenken. Die Verletzlichkeit der Erde war sichtbar und auch die räumliche Nähe von Menschen, die sich geographisch und ideologisch fern waren, war greifbar geworden. Keine Frage: die Mondlandung ist ein entscheidender Auslöser des Paradigmenwechsels einer neuen Hinwendung zu den natürlichen Lebensgrundlagen auf der Erde geworden.

Dass die Internet-Revolution, die zweite Entdeckung der Welt, einen Paradigmenwechsel evoziert, ist kaum mehr fraglich. Worin er genau besteht, wird sich wohl erst in einigen Jahren beschreiben lassen, da alle Beteiligte Teil dieses emergenten Prozesses sind. Die Phänomene des Wechsels liegen jedenfalls offen: die tiefgreifende Veränderung der Wirtschaft, die Beschleunigung von Informationsaustausch und neue kommunikative Gewohnheiten haben einen tiefen Einfluss auf das Alltagsleben. Dieser Paradigmenwechsel betrifft im Gegensatz zu dem an erster Stelle beschriebenen weniger das Verhältnis der Menschen zu ihrer Umwelt als vielmehr das Selbstverhältnis und die personalen Relationen.

Welche Bedeutung dieser Paradigmenwechsel für eine theologisch und kommunikationstheoretisch fundierte Online-Kommunikation der Kirche bedeutet, soll an dieser Stelle skizziert werden.

Die vielbeschriebene Beobachtung, dass die Internet-Revolution in gewisser Weise eine Abkehr von der Prävalenz der face-to-face-Kontakte zwischen Menschen hin zu medialisierten Beziehungen darstellt, wird im folgenden zugrunde gelegt.

Die These des Aufsatzes lautet: Die Online-Kommunikation führt nach einer Zeit der Gewöhnung zwangsläufig zu einer Re-Intensivierung personaler Beziehungen zwischen Menschen. Auf diese Veränderung müssen Kirchen und Christen adäquat reagieren.

Virtuelle Welten - eine zweite Wirklichkeit?

Virtuelle Kirche, virtuelles Kaufhaus, virtuelle Politik. Schlagworte aus der jüngsten Zeit, die Internet als virtuelle Welt identifizieren. Zunächst ist zu klären, ob dieser Sprachgebrauch überhaupt sinnvoll ist und von welcher anderen Welt sich eine virtuelle Welt sachlogisch abgrenzt.

Wenn man verschiedene gebräuchliche Definitionen zusammenfasst, könnte man sagen: Virtualität stellt eine mögliche Wirklichkeit dar, also eine Unwirklichkeit wird abgebildet, die Wirklichkeit werden kann, auch wenn es sie (jetzt) noch nicht gibt. Diese Art von Virtualität gibt es z.B. in künstlichen Computerwelten in denen man z.B. nichtexistierende Gebäude betreten kann. Dort lassen sich sogar Räume konstruieren, in denen Subjekten nicht logische Eigenschaften oder Handlungsweisen erlaubt sind. Dem Nutzer sind Dinge möglich, die unsere Logik und Lebenserfahrung ausschließen. Die Erfahrungen in diesen Räumen sind aber ohne Einschränkung dennoch real.

Darum lässt sich von virtueller Realität im eigentlichen Sinn nur reden, wenn man unterstellt, es gäbe mehr als eine Realität. Zumindest muss man voraussetzen, dass es eine imaginäre und eine tatsächliche Wirklichkeit gibt. Dies ist nun noch kein besonderes Charakteristikum von Virtualität; jeder Roman umschreibt eine imaginäre Wirklichkeit. Im Unterschied dazu kann man aber in der virtuellen Welt konkret handeln und agieren, und diese Interaktion hat Auswirkungen auf die sogenannte reale Welt.

Damit müsste man von zwei Realitäten ausgehen: Einer früheren (einzig und eigentlich wahren) Wirklichkeit und einer zeitlich späteren, nämlich der virtuellen Realität. Damit würde aber die Rede von der "virtuellen Welt" eine Verdoppelung der bisher erlebbaren Welt bedeuten. Die oben genannte Definition legt zwar eine Abgrenzung vor, indem ausgesagt wird, dass Virtualität zunächst nur eine denkbare, mögliche Wirklichkeit darstellt. Und das hieße ja, dass Virtualität nur eine Wirklichkeitsmöglichkeit enthält, aber nicht selber wirklich sein kann. Aber diese Definition ist insofern unbefriedigend, als dass just die Grenze zwischen Virtualität und Realität nicht beschrieben und eingeordnet werden kann. Denn der virtuelle Chatroom wird von allen Beteiligten äußerst real erlebt.

An diesen Beispielen mag man bereits ermessen, dass eine kategorische Abgrenzung nicht möglich ist. Wie aber ist virtuelle Realität zu beschreiben und zu fassen, wenn sie nicht abzugrenzen ist? Eine Annäherung wird mit Blick auf die Kunst möglich: Auch hier lassen sich Welten konstruieren, die nicht in unserer Alltagswirklichkeit aufgehen, trotzdem aber einen Aspekt und einen Teil der Wirklichkeit darstellen. Wie in der Kunst so ist auch die in Computern erzeugte Welt eine ästhetische Verlängerung der einen Wirklichkeit. Das Virtuelle ist Teil des Realen. Internet konstruiert nicht einen Kommunikations- und Interaktionsraum jenseits der bisherigen Welträume, sondern erweitert nur diese Welt um einen Raum.

Die Verlängerung unserer Welt um die Räume des Internet hat zu einer neuen Baukultur geführt. Entlang des Information Highway sind Häuser und Plätze entstanden. Hier verbringen Menschen einen Teil ihrer Zeit: in Kaufhäuser, Foren und auch Kirchen.

Die Frage nach dem Sein virtueller Räume

De facto scheinen diese neuentstandenen und weiter im Entstehen begriffenen Räume aber nur als Rechnerprozesse existent. Eine darüber hinausgehende physikalische Ortung der Räume ist nicht möglich. Die Frage nach dem Sein der Räume, wie es sich im Erleben der Nutzer widerspiegelt, ist substanzontologisch kaum zu klären.

Damit wird deutlich, dass ein anderer Ansatz gefunden werden muss. Naheliegend ist es deswegen, das Sein dieser Räume aufgrund der Verankerung in der Wahrnehmung und Nutzung der Internet-User zu bestimmen. Damit wird ein relationsontologischer Ansatz gewählt.

In aller Kürze lässt sich die Relationsontologie so zusammenfassen: Etwas hat nur dann ein Sein, wenn es in Beziehung steht. Die Beziehung zwischen den Dingen stiftet das Sein. Das bedeutet auch, dass etwas das in keinerlei Beziehung steht, weder in einer monologische noch einer dialogischen, kein Sein hat. Konkret: Ein Chatroom, der durch einen Software-Prozess generiert wird, aber nicht von konkreten Nutzern frequentiert wird, existiert nicht.

Erst die Interaktion eines bewussten Subjektes macht einen virtuellen Raum zum realen Raum. Erst Menschen geben dem Internet sein Sein als Teil dieser Welt. Damit grenzt sich diese Argumentation ab von Überzeugungen, maschinelle Interaktionen könnten Realität schaffen. Erst an der Grenze, wo maschinelle Ergebnisse an Menschen zurückgegeben werden, erhalten sie eine Seins-Bedeutung.

Beziehungsprozesse

Gehen wir davon aus, dass Beziehungsprozesse, wie sie die Internet-Kommunikation zwischen Menschen darstellen, Auswirkungen auf die Beziehungspartner hat. Dann ist klar, dass wir es in der Online-Kommunikation nicht nur mit einem neuen Medium zu tun haben, sondern dass zugleich den Beteiligten neue Selbst- und Welterkenntnisse zuteil werden können. Voraussetzung dafür ist jedoch eine angemessene Kommunikations-Infrastruktur, die diesen Beziehungsprozessen dient.

Die Beschreibung gelingender Kommunikation und der dafür nötigen Infrastruktur hängt aber ursächlich vom Menschen- und Weltbild derer ab, die die Infrastruktur bereitstellen. Und damit ist die Rolle der Theologie für die Online-Kommunikation beschrieben.

Die Theologie beschreibt das Gottes- und Weltverständnis des christlichen Glaubens. Daraus sind Kriterien für gelingende Kommunikation abzuleiten und hieraus wiederum die Kriterien für die nötige Infrastruktur der "virtuellen" kirchlichen Räume.

Wer kirchliche Internet-Sites gestaltet, legt einen Raum an, in dem Beziehungsgeschehen zwischen Menschen möglich wird. Er tritt damit zugleich auch in eine asynchrone Beziehung mit den späteren Nutzern. Die Maßstäbe, die an eine solche Art des "Kirchenbauens" gerichtet werden, sind bisher nur vereinzelt beschrieben worden. Sie sollten intensiver diskutiert werden, damit kirchliche Internet-Präsenz nicht nur Ausfluss des pragmatischen Handelns ist.

Die Re-Intensivierung personaler Kommunikation

Im Moment beobachten wir, dass kirchliche Online-Kommunikation analog zu der von Unternehmen und anderen Institutionen, im wesentlichen asynchrone Kommunikation ist. Selbst dort, wo Chats und Foren angeboten werden, befinden diese sich meist auf der Außenseite der "virtuellen" Häuser. Eine Durchdringung der beiden Sphären findet in der Regel nicht statt. Stattdessen können Nutzer nur fertig aufbereitete Informationen abrufen. Noch kann das Internet als neues Medium Menschen durch seine Schnelligkeit, die Breite der vorgehaltenen Informationen und die Globalität der Kommunikation faszinieren. Das menschliche Bedürfnis nach personaler Kommunikation jedoch, wie man es auch aus dem am intensivsten genutzten Dienst des Internet, der E-Mail, ablesen kann, wird dazu führen, dass Menschen nicht mehr die anonyme mediale und asynchrone Kommunikation suchen.

Das Cluetrain-Manifesto fasst das in den sehr einfachen Sätzen zusammen: "Gespräche zwischen Menschen klingen menschlich. Sie werden mit menschlicher Stimme geführt. Menschen erkennen einander am Klang ihrer Stimme". Menschen werden künftig direkt kommunizieren wollen. Denn "der Schnickschnack auf euren Websites schmeckt nach Konserve". Vielfach ist die Kirche noch nicht in der Lage auf diese veränderten Kommunikationsbedürfnisse zu reagieren. Aber je mehr sich die neuen Online-Techniken durchsetzen, umso mehr werden solche direkten dialogischen Begegnungen möglich werden.

Internet als Herrschaftsbereich Gottes

Wenn die Räume des Internet eine Extension der einen realen Welt sind, dann fallen sie in den Herrschaftsbereich Gottes, der durch seine Schöpfung beschrieben ist. Wenn die Räume sich aber erst durch die Interaktion der Nutzer konstituieren, weitet sich die mit dem Herrschaftsauftrag an den Menschen verbundene Verantwortung für die Schöpfung gerade auch auf den rechten Gebrauch des Internets aus. Die Ablehnung dieser Verantwortung für den richtigen Gebrauch des neuen Mediums führt daher unweigerlich zur Mitschuld an dem Missbrauch. Schon von daher ist die vermehrte Aktivität der Kirche im Internet nicht nur gewünscht, sondern geboten. Kirche und Christen müssen stärker als bisher Verantwortung übernehmen und sich zu Internet-Phänomenen äußern, die der Menschenwürde widersprechen. Geboten ist es auch, für die Kommunikationsgerechtigkeit einzutreten, damit sich der Graben zwischen der Info-Elite und den Info-Habenichtsen nicht noch weiter vertieft.

Schließlich müssen Kirche und Christen im Internet noch deutlicher Infrastrukturen schaffen, die eine Umsetzung des Missionsauftrages erlaubt. Dabei ist Mission verstanden als gelebte Entfaltung des Kommunikationsauftrags des Evangeliums in diakonia, koinonia und leiturgia. Die Wahrnehmung der Verantwortung für die Schöpfung und des Missionsauftrages machen damit das noch weithin unbekannte Land "Internet" zu einem wichtigen Handlungsfeld der Kirche.

Mit diesem Aufsatz sind zunächst nur einige Fragen der Online-Kommunikation angerissen, die sich aus einer Betrachtung aus relationsontologischer Sicht ergeben. Ein Diskurs zu diesem Ansatz begrüßen die Autoren nachdrücklich.


Markus Eisele und Mika Herold, Arbeitsstelle Internet
Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik

© Eisele / Herold 2000
Magazin für Theologie und Ästhetik 7/2000
https://www.theomag.de/07/eh1.htm