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Magazin für Theologie und Ästhetik


Religiöse Erfahrung im Feld des Ästhetischen

Zu den Erfahrungspotentialen der Kulturorte Kirche, Kunsthalle und Kino

Jörg Herrmann

"Die Religion der Zukunft wird Kino sein und in Hollywood produziert", schreibt der Filmkritiker Georg Seeßlen.(1) "Wir müssen zugeben, dass Kunst der religiösen Erfahrung heutzutage oft wesentlich überzeugenderen Ausdruck verleiht als die kirchliche Praxis", konstatiert der Chefredakteur der Zeitschrift "Kunst und Kirche" Günter Rombold.(2) Können also Kino und Kunsthalle zu Orten nicht nur ästhetischer, sondern auch religiöser Erfahrung werden? Wie verhalten sich diese Erfahrungen zu denjenigen, die am Ort der Kirche, also im Rahmen der traditionellen Religionskultur gemacht werden können? Und wird die Kirche am Ende durch das Kino und die Kunsthalle ersetzt?

Ich will versuchen, am Beispiel der Orte Kirche, Kino und Kunsthalle einige Veränderungen des religiösen Feldes unter den Bedingungen der urbanen Gegenwartskultur zu beschreiben. Für die Rahmenbedingungen, die die Entwicklung der gegenwartskulturellen Kontexte und damit auch der religionskulturellen Verhältnisse in der Stadt prägen, sind aus meiner Sicht vor allem fünf Faktoren bestimmend: die Traditionsabbrüche, die Pluralisierung der soziokulturellen Welten, die nach wie vor fortschreitenden Individualisierungsprozesse, die zunehmende Durchdringung von Gesellschaft und Kultur durch Medien und schließlich der anhaltende Ästhetisierungstrend. Diese Signaturen der postmodernen Gegenwartskultur sind vielfältig beschrieben worden. Ich will heute, bevor ich auf die genannten Kulturorte und ihre Erfahrungspotentiale eingehe, nur den ästhetischen Aspekt noch einmal in Erinnerung bringen und einige wenige Entwicklungslinien der Konjunktur des Ästhetischen kurz skizzieren. Denn schließlich ist das Ästhetische mit dem Kino und der Kunsthalle in besonderer Weise zum Thema gemacht.

Die lebensweltliche Aktualität des Ästhetischen ist in letzter Zeit durch einige Bücher erneut deutlich geworden. Ich denke dabei unter anderem an das Generationenportrait "Generation Golf" des Berliner Journalisten Florian Illies(3) und an den Band "Tristesse Royale", dem Transkript eines Mitschnittes von Gesprächen, die fünf junge Autoren, die sich selbst als das "popkulturelle Quintett" bezeichnen, darunter Kristian Kracht und Benjamin von Stuckrad-Barre, an einem Wochenende im Berliner Hotel "Adlon" über Gott und die Welt führten.(4)

Worum es in diesen Büchern vor allem geht, deutet das Umschlagfoto von "Tristesse Royal" an, auf dem die fünf Autoren frischfrisiert und in teuren Anzügen vor der Kamera posieren: Es geht um Stilfragen, um die Hässlichkeit der Großbankenlogos auf Kreditkarten, um die Geschmacklosigkeit des Tragens von Mobiltelefonen am Gürtel, um das Re-Modeling von Rockbands und das "im Dreieck gefaltete Ende der Toilettenpapierrolle" im Adlon, schließlich darum, dass es darauf ankommt, nicht günstig, sondern "schön" einzukaufen.(5) Illies und die Pop-Autoren sind um die dreißig, in etwa so alt wie Rudi Dutschke, Andreas Baader und Ulrike Meinhof waren, als sie gegen den Vietnam-Krieg auf die Straße gingen und wenig später, jedenfalls einige von ihnen, sogar zu den Waffen griffen, weil sie meinten, nur so die "imperialen Schweine zum Teufel" jagen zu können, wie Gudrun Ensslin sich ausdrückte.(6) Mit Kracht und Co. ist der diametrale Gegensatz erreicht: statt in äußerster und in den Spitzen wahnhaft übersteigerter Politisierung üben sich die Kinder der 68er nun in radikaler Ästhetisierung. Das Ästhetische hat Priorität. Selbst politische und weltanschauliche Positionen werden unter ästhetischen Gesichtspunkten bewertet. Eine hässliche Religion hat schlechte Chancen. Ebenso eine Religion, die keine Selbstgestaltung zulässt.

Der lebensweltliche Ästhetisierungsbefund ist dabei nur ein Aspekt. Auch in den Kulturwissenschaften hat das Ästhetische eine Renaissance erlebt. Allerdings ist diese schon wieder ein wenig abgeklungen. Ihr Höhepunkt war, so scheint es mir, mit dem Hannoveraner Kongress "Die Aktualität des Ästhetischen" 1992 erreicht. Das Bild dieser Konjunktur war und ist vielfältig: Es reicht von der recht breiten Wiederbelebung naturästhetischer Traditionen vor dem Hintergrund der ökologischen Krise über einen vermehrten Museumsbesuch bis hin zur Diagnose eines "aesthetic turn" in der Philosophie. Dass das Ästhetische sowohl in den Lebenswelten als auch in den akademischen Welten gerade in letzter Zeit so eine Bedeutung erlangt hat, hat, so meine ich, unter anderem einen einfachen Grund: den Wohlstand. Wo Überlebensfragen nicht mehr dominant sind, kann man sich den Stilfragen und der vertieften Wahrnehmung des Sinnlichen mit mehr Muße zuwenden, den Fragen der Form in der Produktion und Rezeption kultureller Umwelten, dem Wechselspiel zwischen Sinnlichkeit und Reflexion, der ästhetischen Erfahrung. Zugleich wird die Ästhetisierung als Ankurbelung in einer wirtschaftlichen Situation gebraucht, in der jeder schon alles hat. Das Abdanken der weltanschaulichen Großerzählungen und der politischen Heilsversprechen mag hinzugekommen sein, mag zusätzlich den Blick auf die Singularitäten des Besonderen, eben nur ästhetisch Fassbaren, hingelenkt haben. Auch übrigens auf das Ästhetische als ideologiefreie Sinnstiftungsalternative.

Bekam das Ästhetische in den vergangenen dreißig Jahren immer mehr Rückenwind, so war auf dem Kirchenschiff zunehmend Flaute zu vermelden. Mit der Studentenbewegung begann ein steter Exodus aus den Kirchen. In Hamburg etwa ist der Anteil der Protestanten an der Wohnbevölkerung in den vergangenen 30 Jahren von etwa 75 Prozent auf etwa 35 Prozent gesunken.(7) Hamburg ist dabei keine Ausnahme. Insgesamt gilt: Die Großkirchen haben ihre Monopolstellung auf dem Markt der Sinnanbieter mindestens in den großen Städten mittlerweile verloren. A la longe sieht es danach aus, als käme das Ende der konstantinischen Ära in Sicht, das Ende des Zeitraumes also, in dem das kirchliche Christentum in der westlichen Welt eine Sache der Mehrheiten war. "Heute erscheint das institutionell verfasste Modell des Religiösen nur noch gegenüber einer kleinen Minderheit tradierbar,"(8) mutmaßt gar der Religionssoziologe Karl Gabriel. Noch sprechen die Zahlen allerdings eine etwas andere Sprache und lassen solche Einschätzungen als überzogen erscheinen. Denn immerhin gehört immer noch ungefähr ein Drittel der Bevölkerung Deutschlands zur evangelischen Kirche und der Gottesdienstbesuch ist über Jahrzehnte relativ konstant geblieben: So haben 1975 1,3 Millionen Kirchenmitglieder den Gottesdienst am Sonntag Invokavit besucht (4,9% der Kirchenmitglieder), zwanzig Jahre später, 1995, waren es immer noch 1,1 Millionen (4,1% der Kirchenmitglieder).(9) Und Weihnachten 1996 waren immerhin rund neun Millionen Evangelische in einem Gottesdienst am Heiligen Abend, das sind an einem Tag in etwa so viele Menschen wie der 1993 gestartete populäre Film "Jurassic Park" bis Ende 1998 in Deutschland an Zuschauern verbuchen konnte.(10) Die Kirche ist also nach wie vor ein auch gegenüber der Massenkunst Kino nennenswerter Faktor, jedenfalls in statistischer Hinsicht. Gegenüber der Kunst ist sie in dieser Hinsicht allemal konkurrenzfähig.

Die Hamburger Kunsthalle hatte 1996 rund 325 000 Besucher.(11) Am Heiligen Abend 1996 zählten die etwa 200 evangelischen Kirchen im Sprengel Hamburg 213 000 Besucher.(12) An normalen Sonntagen sind es natürlich entsprechend weniger. Aber die Relationen werden in der Tendenz deutlich (ein exakter Vergleich müßte auch die anderen Religionsgemeinschaften und Konfessionen einbeziehen - auch wenn diese in der protestantisch geprägten Hansestadt eine Minderheit bilden). Um das Bild zu vervollständigen, hier auch gleich ein paar auf Hamburg bezogene Kino-Zahlen: In der Hansestadt finden sich 27 Kinos, die zusammen über mehr als 90 Leinwände und rund 20 000 Sitzplätze verfügen.(13) 1996 hatten diese Kinos 4,2 Millionen Besucher, 1998 waren es 4,9 Millionen.(14) Legt man 1,7 Millionen Einwohner zugrunde, ergeben sich 1996 pro Einwohner zweieinhalb Kinobesuche im Jahr. In einer evangelischen Kirche hingegen war, wenn man die Zahlen ungefähr hochrechnet und Taufen, Trauungen und Beerdigungen einbezieht, jeder Hamburger nur etwa ein Mal.(15) In die Kunsthalle fand 1996 gar nur jeder fünfte bis sechste Hamburger - zu bedenken ist dabei die Verzerrung des Hamburg-Bezuges, weil man davon ausgehen muss, dass viele Besucher der Kunsthalle Hamburg-Touristen sind. Deren Anteil am Kino- und Kirchenbesuch ist mit Sicherheit im Vergleich signifikant niedriger. Die bildende Kunst ist also, das lässt sich auf jeden Fall an der Statistik ablesen, ein Minderheitenphänomen. Daran hat auch der vorübergehende und inzwischen schon wieder abgeklungene Museumsboom nichts geändert. In Zahlen: 1994 hatte die Hamburger Kunsthalle 466815 Besucher, 1999 waren es nur noch 305576. Der Museumsboom war im übrigen auch kein Indiz für ein Ansteigen des allgemeinen Kunstinteresses. Das ist, ganz im Gegenteil, in den letzten Jahrzehnten sogar gesunken. Die Resonanz der Museen hat vielmehr damit zu tun, dass die kleine Gemeinde der Kunstinteressierten öfter ins Museum geht.

Die Kunst ist dabei nicht nur ein Minderheitenphänomen, sie ist, wie jeder weiß und wie es Umfragen bestätigen, auch ein Upper-Class-Phänomen. Kunstinteresse ist schichten- und bildungsabhängig. So ergab eine Emnid-Umfrage von 1986, dass 65 % der Befragten mit Abitur bzw. akademischer Bildung kunstinteressiert waren, von den Hauptschulabsolventen zeigten hingegen nur 22 % Kunstinteresse. Deutlich höher ist das Kunstinteresse auch in der Stadt als auf dem Land. In der Stadt wiederum ist zugleich die Distanz zur Kirche am größten. Insgesamt gesehen ergibt sich eine soziokulturelle Konvergenz von Kirchendistanz und Kunstinteresse. Die Bevölkerungsgruppen, die sich für Kunst interessieren, wenden sich von der Kirche ab.(16)

Was suchen sie nun in der Betrachtung und Erfahrung der Kunst? Tritt die Kunsterfahrung an die Stelle der religiösen Erfahrung? Ich erinnere an den schon eingangs zitierten Günter Rombold: "Wir müssen zugeben", schreibt er, "dass Kunst der religiösen Erfahrung heutzutage oft wesentlich überzeugenderen Ausdruck verleiht als die kirchliche Praxis. Das Niveau der großen Kunst des 20. Jahrhunderts ist oft wesentlich höher als das Niveau der kirchlichen Verkündigung. Daher ist es nicht verwunderlich, dass viele Menschen ihre religiösen Erfahrungen in Kunstwerken deutlicher ausgesprochen finden als in dem durchschnittlichen kirchlichen Kauderwelsch unserer Tage."(17) Ist diese These plausibel?

Zunächst wird man sich schnell darauf einigen können, dass zwischen den symbolischen Formen Kunst und Religion und den Weisen ihrer Inszenierung und Rezeption in Kirche und Museum auf jeden Fall strukturelle Parallelen bestehen. Kunst und Religion schaffen Distanz vom Alltag und seiner Zweckrationalität. Sie eröffnen von der Alltagswelt unterschiedene Erfahrungsräume. Freiräume. Dabei ist allerdings zu beachten, dass die ersten Museen gerade an Profanität interessiert waren. Es sollten Räume sein, in denen es um die Kunst geht und um nichts sonst. Der Erfahrungsraum Museum ist ein Produkt moderner Ausdifferenzierungsprozesse: Er ist die neue Wohngemeinschaft der autonom gewordenen Kunst, die bei Mutter Kirche ausgezogen ist.

Gleichwohl wurden Museumsbesuche, darauf weist Andreas Mertin hin, immer wieder in religiös gefärbter Sprache beschrieben. "Ich trat in dieses Heiligtum und meine Verwunderung überstieg jeden Begriff", schrieb Goethe nach seinem Besuch in der Dresdner Schlossgalerie.(18) Die Räume, fährt er fort, "gaben mir ein Gefühl der Feierlichkeit, einzig in seiner Art, das um so mehr der Empfindung ähnelte, womit man ein Gotteshaus betritt". Susanne Natrup hat, an ähnliche Wahrnehmungen anknüpfend, das postmoderne Kunstmuseum als einen Ort individualisierter und impliziter Religion interpretiert.(19) Sie begreift die gegenwartskulturelle Ästhetisierung der Lebenswelten als Ausdruck eines religiösen Wunsches nach Wiederverzauberung der Welt und führt vor diesem Hintergrund aus: "Im Rahmen der Ästhetisierung kann das postmoderne Kunstmuseum unter bestimmten Voraussetzungen neben die kirchlich-christliche Religion treten, sie sogar punktuell und partiell ersetzen."(20) Sie begründet ihre These, indem sie auf vielfältige strukturelle Verwandtschaften von Kirche und Museum verweist. Das Spektrum der genannten Ähnlichkeiten reicht vom Schwellencharakter beider Kulturorte über Elemente der architektonischen Gestaltung bis hin zur Inszenierung der Inhalte und ihrer andächtigen Rezeption, die auch im Kunstmuseum beobachtet werden kann und auch dort rituelle Züge und Gemeindebildungstendenzen aufweist. Hinzu kommt die Kunsterfahrung selbst. Ihre religiöse Dimension hat dabei - jedenfalls im Blick auf das 20. Jahrhundert - wenig mit religiösen Inhalten oder Motiven in der Kunst zu tun. Im 20. Jahrhundert liegt der Anteil der Kunstwerke aus dem Bereich der bildenden Kunst, die religiöse Traditionen aufgreifen, bei unter fünf Prozent.(21) Die religiöse Dimension spezifisch moderner Kunsterfahrung ist also nicht unbedingt etwas, was vor Augen liegt. Die religiösen Aspekte der autonomen Kunst der Moderne und der Postmoderne, auf die Rombold anspielt, erschließen sich vielmehr erst durch Interpretation. Und da gibt es Kunstwerke, die dem Religiösen näher sind als andere. Ich möchte hier nur auf einen Bereich hinweisen: auf die Nähe der abstrakten Malerei zur Mystik. Verschiedene Ausstellungen und Publikationen in den 80er Jahren haben diese Nähe deutlich gemacht, vor allem die große Ausstellung "The Spiritual in Art: Abstract Painting 1890-1985" 1986 in Los Angeles. Parallelen zur Mystik finden sich danach bei Barnett Newmann und Marc Rothko ebenso wie bei Kandinsky, Klee, Jawlensky, Marc, Mondrian, Chagall und vielen anderen. "Spuren des Mystischen in der modernen Kunst"(22) haben Kunstwissenschaftler und Theologen daraufhin auch bei Ad Reinhardt, Marc Tobey, Edward Hopper, Ben Willikens und Wolfgang Laib aufgespürt.

Die Parallele zum Mystischen wurde dabei hauptsächlich in "Strategien der Entgrenzung"(23) und in Phänomenen der "Bildverweigerung im Bild"(24) gesehen, die in den Arbeiten dieser Künstler beobachtet werden können. Ein gutes Beispiel sind die späten Bilder des amerikanischen Malers Ad Reinhardt. Seine "Black Paintings" entstehen aus den drei Primärfarben als Repräsentanten der buntfarbigen Welt. In einem Prozess der Mischung und Überdeckung verdichten sie sich zu einem farbig getönten Schwarz. Es bewegt sich auf der Grenze zwischen der Differenzlosigkeit des Schwarz und einer eben noch wahrnehmbaren Farbigkeit im Hintergrund, die von den farbigen Ursprüngen des Schwarz zeugt. Reinhardts schwarze Bilder thematisieren so den Übergang von der Sichtbarkeit ins Unsichtbare, von der Differenz in die Differenzlosigkeit.

Die Figur entspricht der via negationis der Mystik, die durch die Negation alles sinnlich Wahrnehmbaren auf die Vereinigung mit dem Göttlichen hinarbeitet. Malerei wie Mystik sind hier mit der Erforschung und Überschreitung von Grenzen befasst: die Mystik, indem sie die Augen schließt und in den Innenraum des Bewusstseins hinabtaucht, um seine Grenzen auf seine Ermöglichung hin zu überschreiten, die Malerei, indem sie vermittelt durch das Außen der Sinnlichkeit die Grenzen und die Ermöglichung von Gegenständlichkeit erforscht.

Wie die Mystik hat es die abstrakte Malerei dabei auf etwas abgesehen, das die Gegenständlichkeit übersteigt. Malewitsch etwa ging es bei seinem schwarzen Quadrat gerade um, wie er schrieb, die "Empfindung der Gegenstandslosigkeit", um das "beglückende Gefühl der befreienden Gegenstandslosigkeit", um "den Geist der gegenstandslosen Empfindung, der alles durchdringt".(25) Das schwarze Quadrat fungiert also als eine Art Rückspiegel in die Transzendenz, als ein Verweis auf Unaussprechliches, als, so könnte man auch sagen, ein bildliches Korrelat zu den Zeichenprozessen negativer Theologie. Ähnliche Deutungen lassen sich im Blick auf Barnet Newman formulieren - nicht zuletzt im Anschluss an die von ihm selber geäußerten religiösen Interpretationen seines Werkes. Besondere Akzente hat hier der französische Philosoph Jean-François Lyotard gesetzt, der Newmans Werk mit Hilfe der ästhetischen Kategorie des Erhabenen deutet. "Dass hier und jetzt dieses Bild ist, und nicht vielmehr nichts, das ist das Erhabene", schreibt Lyotard.(26) Er versteht Newmans Werk als Kreisen um die bildnerische Vergegenwärtigung von Präsenz als reiner Präsenz, einer Präsenz, in der das "Mysterium des Seins" aufblitzt, die auf Undarstellbares anspielt, ohne dabei dem "Trost der guten Form" zu verfallen, die auf den Augenblick hindeutet, der geschieht: auf das reine "Es geschieht".(27) In dieser Alteritätserfahrung begegnet das Erhabene. "Etwas" ist dabei anwesend, aber es kann nicht symbolisiert werden. Newmans Bilder verweisen so analog zur Mystik auf Undarstellbares. Nur die Semantiken unterscheiden sich: hier das Undarstellbare, dort Gott.

Man kann an diese Deutungen die These anschließen, dass sich die mystische Erfahrung in der Postmoderne in ästhetische Erfahrung transformiert hat, dass generell Religion - zum Teil jedenfalls - in Ästhetik übergegangen ist. Gestützt wird diese Deutung von verschiedenen Arbeiten, die unter anderem begriffliche Kontinuitäten zwischen dem biblischen Begriff der Herrlichkeit Gottes und Kants Begriff des Erhabenen, zwischen dem eschatologischen Begriff der visio dei beatifica und den modernen Bestimmungen ästhetischer Erfahrung von Baumgarten bis Adorno aufzeigen konnten.(28)

Ist es in der Kunsthalle die abstrakte Malerei und ihre Nähe zum Mystischen, die ins Auge fällt, so hat das Kino hingegen vor allem Affinitäten zum Narrativen der Religion. Von Negativität ist da kaum eine Spur, das Kino und insbesondere das populäre Kino schwelgt in Bildern und Tönen bigger than life. Auch das Gemeindeleben wird turbulenter. An die Stelle der andächtigen Atmosphäre der Kunsthalle tritt das Schnattern der Cliquen Jugendlicher im Foyer des Cinemaxx und das Rascheln der Popkorntüten im Kinosaal. Die 16-21jährigen bilden hier das Gros des Kinopublikums. Im Kunstkinobereich ähneln Altersstruktur und Rezeptionsstil dagegen noch eher den Kunsthallenverhältnissen. Aber die Kunstkinos haben es heute schwer. Die Kinogegenwart gehört dem Cinemaxx oder Multiplex-Kino mit tausenden von Sitzplätzen, der Hardware für amerikanische Mainstream-Software. In Hamburg gibt es bereits sieben dieser Megakinos. Ihre Errichtung im Laufe der 90er Jahre hatte die Schließung schon einiger traditioneller Programm- und Stadtteilkinos zur Folge. Der Marktanteil (in Besuchern) der sieben Hamburger Multiplexe liegt inzwischen bei an die 70 Prozent. Die restlichen 30 Prozent verteilen sich auf die übrigen 20 Hamburger Kinos.(29)

Der Siegeszug der Multiplex-Kinos in den 90ern ist zugleich ein Siegeszug des populären Films. Der populäre Film ist in den 90er Jahren so erfolgreich wie nie zuvor. Auf den ersten zehn Plätzen der weltweiten Einspielhitliste finden sich allein sieben Titel aus den 90er Jahren.(30) Angeführt wird die Liste der Kassenschlager von James Camerons "Titanic", dem bis heute weltweit erfolgreichsten Film. Das 200 Millionen Dollar teure Opus verzeichnet ein weltweites Einspielergebnis von rund zwei Milliarden Dollar.(31) Allein in Deutschland haben den Film seit dem Kinostart am 8. Januar 1998 rund 18 Millionen Zuschauer gesehen.(32)

Doch "Titanic" konnte nicht nur ökonomisch reüssieren. Die Schiffbruch-Geschichte war auch filmkulturell in vieler Hinsicht erfolgreich. In Hollywood stellte der Film mit elf Oscars den Rekord des bisherigen Spitzenreiters "Ben Hur" ein.(33) Beim Publikum löste Camerons Spektakel eine kultische Rezeption aus. Teenager sahen den Film vier-, fünfmal.(34) Das Konterfei des Hauptdarstellers Leonardo DiCaprio wurde zur temporären Ikone einer ganzen Teenager-Generation.

Camerons Film steht für eine neue Dimension des populären Kinos. Seine kultische Rezeption deutet darauf hin, dass das Phänomen auch religiöse Aspekte hat. Die Werbeslogans des Films erhärten diesen Religionsverdacht. "Collide with destiny!" fordern die PR-Strategen das Publikum auf, um sogleich mit dem Hinweis auf die unbedingte Liebe des Heldenpaares schon katastrophenprophylaktisch Trost zu spenden: "Nothing on earth could come between them".(35) Es geht also um den Einbruch sinnverwirrender Kontingenz und den Einspruch der Liebe: um klassische Themen der Religion mithin.

"Titanic" ist dabei kein Ausnahmefall. Der Film ist vielmehr beispielhaft dafür, dass das populäre Kino sich nicht in der Inszenierung großer Gefühle erschöpft. Es traktiert im selben Atemzug letzte Fragen. Populäre Filme sind darum Unterhaltungsware und zugleich Medien der Weltdeutung und der Sinnvermittlung. Sie erfüllen eine der Religion vergleichbare Funktion.

Das populäre Kino steht dabei im Kontext eines breiten Spektrums kultureller Sinndeutungsangebote, das von der Therapieszene über die Esoterik bis zur bildenden Kunst reicht. "Die Stiftung von Sinnzuschreibungen, die Kontingenz aushalten helfen, hat in der Moderne westlicher Gesellschaften eine plurale Gestalt angenommen", diagnostiziert der Theologe Wilhelm Gräb.(36) Er kann die Sinndeutungsangebote der Gegenwartskultur vor diesem Hintergrund auch als "gelebte Religion" verstehen. Die heute erreichte Pluralität gelebter Religion hat ihre Vorgeschichte im zunehmenden Auseinanderfallen von Kirche und Religion, das die Umformungsprozesse des Christentums im Zuge der Aufklärung kennzeichnet.(37) Für die gegenwärtige Konstellation des religiösen Feldes sind aus meiner Sicht vier Trends charakteristisch: die Krise der institutionalisierten Religion, die Wiederkehr des Religiösen außerhalb der Kirchenmauern, das Fehlen der Religion als Thema der kulturellen Eliten - und wenn schon mal einer in der "Zeit" über das Christentum schreibt, handelt er vom "Fluch des Christentums" und fordert seine umgehende Abschaffung wie unlängst der Berliner Philosoph Herbert Schnädelbach -, und schließlich die Umformung und partielle Substitution der religiösen Traditionen durch andere Kulturformen, vor allem durch die populäre Kultur.

Diese Trends und Prozesse stehen in vielfältiger Wechselwirkung. Ein befreundeter Kollege berichtete unlängst von einer bemerkenswerten Konfirmandenstunde. Thema war die Offenbarung des Johannes. Es ging um das 21. Kapitel, um den Abschnitt also, der das neue Jerusalem beschreibt und in dem davon die Rede ist, dass Tod, Leid und Schmerz nicht mehr sein werden und dass "Gott abwischen wird alle Tränen von ihren Augen". Die Konfirmandinnen und Konfirmanden waren bei der Sache wie schon lange nicht mehr. Mein Kollege war zufrieden. Ganz ohne Griff in die pädagogische Trickkiste schien sich die ursprüngliche Faszinationskraft der biblischen Tradition zu erweisen. So sah es jedenfalls zunächst aus. Bis am Ende der Stunde ein Mädchen schüchtern die Frage stellte: "Der Text, den wir gelesen haben, ist das nicht derselbe Text, den der Pfarrer in 'Titanic' liest, als das Schiff sinkt?"

Die Faszination für den biblischen Text, so zeigte sich, war also der medialen und erlebnisintensiven Erstvermittlung durch den populären Film "Titanic" geschuldet. Die Episode zeigt Verschiedenes. Erstens wird deutlich, dass die Vermittlung von Geschichte und Tradition sich heute nicht mehr nur im Medium der Schrift und am Lernort Schule vollzieht, sondern für breite Bevölkerungsschichten zunächst und vor allem durch audiovisuelle Medien in unterschiedlichen Kontexten stattfindet. Der Film "Schindlers Liste" wäre ein weiteres eindrückliches Beispiel. Zweitens zeigt sich, dass der Film biblische Traditionen aufgreift und verarbeitet. Drittens, dass die Kinoerfahrungen auf die Kirchenerfahrungen zurückwirken.

Nicht nur für "Titanic" gilt: Der populäre Film bezieht sich in eklektizistischer Weise auf das symbolische Material der jüdisch-christlichen Tradition und verarbeitet es in seinem Sinne.(38) Das ist der eine Aspekt. Wesentlicher ist jedoch, wie auch bei der Kunst schon, etwas anderes. Die gelebte Religion des populären Kinos basiert nämlich nicht in erster Linie auf der Fortschreibung biblischer Traditionen. Sie hat vielmehr damit zu tun, dass der populäre Film auf spannende und eingängige Weise universale Grundkonflikte aufbereitet. Wie die Religion gibt der populäre Film symbolische Antworten auf existentielle Grundfragen. Man könnte analog zur christlichen Religion sogar von einem Katechismus des populären Films sprechen.

Einer seiner Hauptartikel ist die Liebe. Die Liebe ist, so könnte man auch sagen, das erste Gebot des populären Films der 90er Jahre. So rettet sie in "Pretty Woman" ein gefallenes Mädchen aus der Gosse und einen einsamen Manager vor dem Kältetod in der Geld-Welt. Sie verwandelt die Hauptfiguren, überwindet soziale Barrieren und erfüllt das Leben mit Sinn. Dieses Liebesevangelium findet sich in ähnlicher Form auch in "Titanic". Auch hier überwindet die Liebe Klassenschranken, erlöst das unglückliche Upper-Class-Girl Rose aus der Todeswelt des Kapitals und verwandelt ihre Verzweiflung in pures Glück. Der klassentranszendierende Charakter dieser Liebe zeugt von ihrem romantischen Ursprung. Ulrich Beck erläutert: "Liebe ist, ihrem romantischen Ursprung nach, eine Verschwörungsgemeinschaft gegen 'die Gesellschaft'. Liebe kennt keine Schranken. Weder die von Ständen und Klassen noch die von Gesetz und Moral."(39)

Die religiöse Unbedingtheit der "Titanic"-Liebe erweist sich im Angesicht des Untergangs. Rose, die Julia in Camerons Opus magnum, riskiert ihr Leben, als sie den unterdecks angeketteten Jack befreit. Seine Liebe - wie meistens im populären Kino eine Liebe auf den ersten Blick - geht so weit, dass er der Geliebten nach dem Untergang des Schiffes den einzigen rettenden Platz auf dem treibenden Türblatt überlässt. Noch im Angesicht des Todes bekräftigt er sein Opfer und damit die Todesverachtung seiner Liebe mit vor Kälte zitternder Stimme: die Titanic-Fahrkarte zu gewinnen, sei das Allerbeste gewesen, was ihm je passiert sei. Denn das Ticket habe ihn zu Rose gebracht.

"Titanic" verkündet das 'Evangelium' einer Liebe, die stärker ist als der Tod. Es liegt in der Konsequenz dieser Konzeption, dass Rose nach dem Untergang des Schiffes und damit auch nach Jacks Tod seine Auferstehung träumt. Einer der beiden Werbe-Slogans des Films bringt es auf den Punkt: "Nothing on earth could come between them." Nichts konnte sie trennen: nicht der skrupellose Carl Hockley, der noch während des Untergangs versucht, Jack einen Diebstahl zu unterstellen, um ihn im Unterdeck dem sicheren Tod ausliefern zu können; nicht der Untergang der Titanic und nicht der Tod Jacks. Die Liebe der beiden Protagonisten ist der höchste Wert im "Titanic"-Universum. Tröstet die biblische Tradition angesichts der Trübsal mit der Überzeugung, dass "nichts uns zu scheiden vermag von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist" (Röm 8,39), so spendet Camerons Film seinen Trost im Namen der Liebesreligion: "Nothing on earth could come between them." Der Vergleich der verräterisch parallelen Formulierungen macht deutlich, dass die Liebenden des populären Kinos füreinander leisten müssen, was im Christentum von Gott ausgeht: unbedingte Liebe. Der Widerstand der Liebe gegen den Einbruch sinnverwirrender Kontingenz ist gewissermaßen eine Ebene tiefer gelegt: er ist ganz der erotischen Liebe und ihrer Subjektivität aufgebürdet.

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, wie genau die beiden zentralen Werbeslogans des Films der Doppelstruktur religiöser Symbolisierungen entsprechen und darin präzise auf seine strukturelle Verwandtschaft zur Religion verweisen. Clifford Geertz hat hervorgehoben, dass die Spezifik religiöser Symbolisierungen darin besteht, dass sie Kontingenz und Leiden einerseits anerkennen und ihm andererseits im Namen einer umfassenderen Wirklichkeit widersprechen. Beide Aspekte finden sich auch in "Titanic" und werden von den Slogans "Collide with destiny!" im Blick auf die Kontingenz und "Nothing on earth could come between them" im Blick auf die Liebe konzise zum Ausdruck gebracht.

Das Liebesevangelium bekommt in "Titanic" vor dem Hintergrund und durch die Prüfung der Katastrophe ein besonderes Pathos. Der Blick auf weitere Filme zeigt jedoch schnell, dass es sich um ein verbreitetes Leitmotiv des populären Kinos handelt - vermutlich sein zentralstes Sinndeutungsmuster.

Die zentrale Stellung der Liebe als religionsäquivalente Sinnvermittlungsinstanz im populären Film der 90er Jahre korrespondiert mit den Beobachtungen der zeitdiagnostisch orientierten soziologischen Literatur zur Entwicklung des Liebesthemas. Am prononciertesten hat sich Ulrich Beck in dieser Frage geäußert. Er konstatiert das Aufrücken der Liebe in den Rang einer Religion, die postchristlich und innermodern Sinn stiftet.(40) Seine Analysen plausibilisieren den filmischen Befund und stellen ihn in einen weiteren Kontext.

Nun könnte man einwenden, dass die symbolische Bearbeitung von existentiellen Fragen noch keine Religion ist und dass Malewitschs gegenstandsloses Empfinden nichts mit Gott zu tun hat. Das ist wohl eine Frage des Standpunktes.

Im Sprengel-Museum Hannover gibt es ein Kunstwerk des Amerikaners James Turrell. Seine Kunstwerke experimentieren mit dem Licht. Das Turrell-Kunstwerk, das ich meine, ist in einem gesonderten Raum untergebracht. Beim Eintreten in diesen sieht man eine bläulich leuchtende Pyramide in der rechten oberen Ecke des Raumes schweben. Sobald man ihr näher kommt, verwandelt sie sich in einen in die Ecke projizierten Farbfleck. Das Profil der Pyramide kippt sozusagen nach innen, und man blickt in eine von einem Projektor bläulich ausgeleuchtete Ecke. Aber aus vier Metern Entfernung hätte man schwören können, eine Pyramide zu sehen.

Turrells Kunstwerke sind Wahrnehmungsexperimente. Sie machen deutlich, dass das, was wir sehen, von unserem Standpunkt abhängt. Sie zeigen uns, wie subjektiv das ist, was wir sehen, wie sehr es von unserer Perspektive und unserem Vorwissen geprägt ist, wie trügerisch der erste Blick sein kann und dass man sich mit den Dingen beschäftigen muss, um mehr und anderes zu sehen.

Es ist eben eine Frage der Perspektive, was wir sehen. Mit dem schwarzen Quadrat lassen sich sowohl ästhetische als auch religiöse Erfahrungen machen. Auch in einer Kirche ist übrigens beides möglich. Das Qualifizierende ist letztlich die Semantik, vermittels derer die Erfahrung zur Sprache gebracht wird. Mit den Worten Wilhelm Gräbs: "Die Empfindungszustände, auf die die ästhetischen oder religiösen Deutungskategorien angewandt werden, sind immer vorsprachlicher Natur. Sie sind nur subjektiv zugänglich, individuell, nicht mitteilbar. Erst die Anwendung der Deutungskategorien lässt ästhetische und religiöse Erfahrung als allgemeine, mitteilbare Erfahrung zustande kommen. Insofern kann man auch sagen: was als ästhetische oder religiöse Erfahrung gilt, ist wesentlich das Resultat ästhetischer und religiöser Kommunikation, des Austauschs entsprechender Wahrnehmungs- und Deutungsmuster."(41)

Die Differenz zwischen ästhetischer und religiöser Erfahrung ist damit nicht aufgehoben. Sie lässt sich anhand der jeweiligen Theoriekorrelate namhaft machen. Ästhetische Erfahrung ist danach das an kein Ende kommende freie Wechselspiel zwischen Sinnlichkeit und Reflexion. Mit Martin Seel kann man das kontemplative Element darin betonen, das Verweilen im Hier und Jetzt der Wahrnehmung der Präsenz des sinnlichen Gegenstandes;(42) mit Thomas Lehnerer die Art der Empfindung, die sich dem durch ein Kunstwerk angestoßenen freien Spiel der Reflexionssubjektivität verdankt: "Empfindung aus Freiheit".(43) Jedenfalls geht es um unsagbare auf bestimmte Formen bezogene Empfindungen.(44) In der religiösen Erfahrung geht es hingegen um Empfindungszustände, in denen das transpragmatische Sich-Gegebensein der Subjektivität erfahren wird.

Das ist natürlich eine religionsphilosophische Beschreibung religiöser Erfahrung. Am Ort der Kirche ist sie verwoben mit der Semantik traditioneller Religionskultur, die sich nicht zuletzt als Theorie einer Gemeindepraxis versteht. Weitere wichtige Differenzmomente ergeben sich aus dem Spielerischen des Ästhetischen und dem existentiellen Ernst des Religiösen. Religiöse Deutungskultur intendiert lebenspraktische Konsequenzen. Was folgt daraus für das Crossover von Ästhetik und Religion? Wie wirkt die Einsicht in die ästhetische Medialität auch traditioneller religiöser Symbolisierungen, die die Auseinandersetzung mit dem Religiösen im Feld des Ästhetischen unwillkürlich mit sich bringt, auf den Ernst traditioneller Frömmigkeit? Wie verhält sich die Freiheit des Ästhetischen zu den normativen Geltungsansprüchen der religiösen Tradition? Und wie wirkt umgekehrt die religiöse Deutung auf den freien Vollzug ästhetischer Erfahrung? Hat sie nicht notwendig den Charakter von Unterbrechung?

Wollte man das populäre Kino und die moderne Kunst als Ausdifferenzierungen der traditionellen Religionskultur deuten, so wäre die Offenheit der modernen Kunst der via negativa der Mystik zuzuordnen, während die Bestimmtheit des populären Films der Bestimmtheit der heilsgeschichtlichen Narrationen korrespondiert.

Zum Schluss ein Blick auf die Konkurrenzverhältnisse. Die Kunst ist abgeschlagen, ein Minderheitenprogramm. Das populäre Kino hat Hochkonjunktur, die Kirchen werden leerer. Ist also das populäre Kino im Begriff, die Kirche als kulturelle Sinnagentur zu ersetzen?

Wer sich im eigenen kulturellen Umfeld umsieht, wird beobachten können, dass das Kino zwar alltagskulturell in Gesprächen eine große Rolle spielt und in diesen Kommunikationen biographisch relevantes Sinndeutungspotential entfalten kann. Für den Bereich jedoch, den der Religionssoziologe Thomas Luckmann(45) mit dem Begriff der "großen Transzendenzen" umschreibt, ist weiterhin die traditionelle Religionskultur zuständig. Geburten, Todesfälle und Hochzeiten lassen sich nicht gut im Cinemaxx begehen. Auch existentielle Lebenskrisen sind mit Mainstream-Movies nicht zu bewältigen. In diesen Situationen ist die persönliche Kommunikation von Deutungskulturen gefragt.

Vor diesem Hintergrund läßt sich vielleicht sagen: Funktionen der alltagskulturellen Sinndeutung, die früher in stärkerem Maße von der Religionskultur erfüllt wurden, sind im Zuge des kulturellen Ausdifferenzierungsprozesses in die populäre Kultur übergegangen. Die Deutung der großen Transzendenzen an den Wendepunkten des Lebens ist heute aber wohl nach wie vor noch eine Domäne der traditionellen Religionskultur. Doch wie lange noch?

Wenn man einräumt, dass die religiöse Tradition existentielle Sachprobleme bearbeitet, stellt sich die Frage nach ihrer Aktualisierbarkeit als die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der Interpretation und Aneignung ihrer spezifischen Semantik. Um diese zu ermöglichen, braucht die Kirche das Gespräch mit der Gegenwartskultur.

Doch wozu braucht die urbane Gegenwartskultur die Kirche? Manche sagen: als uneigennützige Moderation in pluralen Verhältnissen. Andere verweisen auf den kulturhermeneutischen Beitrag. Manche auf das kritische Element religiöser Deutung, das ästhetische Erfahrung vor ihrer Vergegenständlichung bewahren könne. Einige nennen das umfassende Aufgehobensein jenseits der Kommerzialität. Manche verweisen auf die Orientierungsfunktion traditioneller Topoi, auf Werte, wie die einen sagen, auf die "Option für die Armen", wie sich andere ausdrücken. Manche betonen die schlichte Gewährung von kulturellen Freiräumen, wie sie zum Beispiel in der evangelischen Filmarbeit mit der Herausgabe der Zeitschrift "epd Film" praktiziert wird. All dies ist wohl richtig. Zusammenfassend kann man vielleicht sagen, dass das Besondere des kirchlichen Christentums in einer spezifischen Verbindung von religiöser Deutungskultur und sozialer Praxis besteht. Je mehr die Kirche die Pluralisierung des religiösen Feldes dabei in den Blick bekommt, desto besser wird sie auf die Bedürfnisse der Zeitgenossen eingehen können.

Zur Frage, ob aktualisierende Interpretationen der traditionellen religiösen Sprache auf die Dauer möglich sein werden oder ob der Sinndiskurs der traditionellen Religionskultur nach und nach vollständig von der Gegenwartskultur assimiliert wird, wird man im Fortgang des dritten Jahrtausends mehr sagen können. Die Kirchengebäude wird man mit Sicherheit nicht abreißen. Jedenfalls nicht alle. Aber wird man Gottesdienste in ihnen feiern? Wird man Kinos aus ihnen machen? Oder Schwimmhallen? "Die Religion der Zukunft", schreibt Georg Seeßlen, "wird Kino sein und in Hollywood produziert."(46) Wir werden sehen.

(c) Jörg Herrmann 2000, Hamburg, E-Mail: Joehe68@aol.com


Anmerkungen
  1. Georg Seeßlen, Global Dream Play. Hollywood am Beginn des nächsten Jahrhunderts, in: epd Film 1/2000, 18-25, 22.
  2. Günter Rombold, Kunst - Negation von Religion? in: Kunst und Kirche 3/1987, 41f., 42.
  3. Florian Illies, Generation Golf, Berlin 2000.
  4. Das popkulturelle Quintett mit Joachim Bessing, Christian Kracht, Eckart Nickel, Alexander von Schönburg und Benjamin von Stuckrad-Barre, Tristesse Royal, Berlin 1999.
  5. Ebd., 17; Florian Illies, a.a.O.
  6. Gudrun Ensslin, reden wir von uns, in: Pieter Bakker Schut, das info. Briefe der Gefangenen aus der RAF 1973-1977. Dokumente, Hamburg 1987, 14.
  7. Laut Auskunft der Pressestelle der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche in Hamburg im Mai 2000. Um quantitative Vergleiche zu ermöglichen, werde ich mich auch bei meinen Ausführungen über die Kulturorte Kunsthalle und Kino auf das Beispiel der Hamburger Verhältnisse beziehen.
  8. Karl Gabriel, Gesellschaft im Umbruch - Wandel des Religiösen, in: Höhn, Hans-Joachim (Hg.), Krise der Immanenz. Religion an den Grenzen der Moderne, Frankfurt/M. 1996, 31-49, 37.
  9. EKD (Hg.), Statistik über Äußerungen des kirchlichen Lebens in den Gliedkirchen der EKD in den Jahren 1995 und 1996, Hannover 1998, 17f.
  10. Ebd., 18; Spitzenorganisation der Filmwirtschaft e. V., Die 50 erfolgreichsten Kinofilme in Deutschland seit 1985, Wiesbaden, 7. Dezember 1998, gefaxte Liste.
  11. Laut Auskunft der Pressestelle der Hamburger Kunsthalle am 10.5.00, auch die folgenden Kunsthallenzahlen beziehen sich auf diese Auskunft.
  12. Eigene Hochrechnung aufgrund der vom Nordelbischen Kirchenamt in Kiel geführten Statistik über den Gottesdienstbesuch im Bereich der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche, Kiel 1996, kopierte Statistikbögen.
  13. Hamburger Abendblatt, 21.6.1999.
  14. Welt am Sonntag, 5.4.1998; Matthias Elwardt, Overscreening, in: Michael Töteberg (Hg.), Szenenwechsel. Momentaufnahmen des jungen deutschen Films, Reinbek 1999, 239-247, 240.
  15. S. Anm. 11.
  16. Zur Emnid-Umfrage und den Folgerungen vgl. Andreas Mertin, Ars ante portas? Skeptische Erwägungen zur Kunstvermittlung in der Kirche, in: Kunst und Kirche 3/1991, 190-194.
  17. Günter Rombold, a.a.O., 42.
  18. Zitiert nach Andreas Mertin, "Complete this Sculpture." Gemeinsamkeiten und Differenzen zweier Erfahrungsräume, in: Jörg Herrmann/Andreas Mertin/Eveline Valtink (Hg.), Die Gegenwart der Kunst. Ästhetische und religiöse Erfahrung heute, München 1998, 23-43, 23.
  19. Susanne Natrup, Ästhetische Andacht. Das postmoderne Kunstmuseum als Ort individualisierter und impliziter Religion, in: Jörg Herrmann/Andreas Mertin/Eveline Valtink (Hg.), a.a.O., 73-83.
  20. Ebd., 75.
  21. Vgl. Andreas Mertin, a.a.O., 30.
  22. So der Titel des Heftes 2/1988 der Zeitschrift Kunst und Kirche.
  23. Gottfried Boehm: Wege der Entgrenzung, in: Kunst und Kirche, 2/1988, 72-73.
  24. Vgl. Horst Schwebel: Bildverweigerung im Bild. Mystik - eine vergessene Kategorie in der Kunst der Gegenwart, in: Kirche und moderne Kunst, Andreas Mertin und Horst Schwebel (Hg.), Frankfurt am Main 1988, 113-123.
  25. Kasimir Malewitsch, Suprematismus - die gegenstandslose Welt, Köln 1962, 65f.
  26. Jean-François Lyotard, Das Erhabene und die Avantgarde, in: Das Inhumane. Plaudereien über die Zeit, Wien 1989, 159-187, 165.
  27. Ders., Der Augenblick. Newman, in: ebd., 141-157, 155; ders., Vorstellung, Darstellung, Undarstellbarkeit, in: ebd., 207-222; ders., Die Analytik des Erhabenen. Kantlektionen, München 1994.
  28. Vgl. Reinhard Hoeps, Das Gefühl des Erhabenen und die Herrlichkeit Gottes, Würzburg 1989; Thomas Rentsch, Der Augenblick des Schönen. Visio beatifica und Geschichte der ästhetischen Idee, in: Jörg Herrmann/Andreas Mertin/Eveline Valtink (Hg.), a.a.O., München 1998, 106-126.
  29. Laut Auskunft des RMC-Marktforschungsinstitutes in Düsseldorf, das im Auftrag des Hamburger Senats an einer noch unpublizierten Kinostudie arbeitet (5/2000).
  30. The Internet Movie Database, The Top Grossing Movies of All Time at the Worldwide Box Office, www.imbd.com.
  31. Ebd.
  32. Spitzenorganisation der Filmwirtschaft e. V., a.a.O.
  33. Vgl. Georg Seeßlen, Der Höhenflug des sinkenden Schiffs: Das Medienereignis "Titanic", in: epd Film 5/1998, 8f.
  34. Erik Fosnes Hansen, Der magische Schiffbruch. Die "Titanic"-Legende verzaubert Schriftsteller und Filmemacher - durch ihren Schatz von mächtigen Archetypen: Meer, Tod und Liebe, in: Der Spiegel, Nr. 13, 23.3.1998, 234-239, 235.
  35. The Internet Movie Database, http://us.imdb.com/Taglines?Titanic+(1997)
  36. Wilhelm Gräb, Lebensgeschichten - Lebensentwürfe - Sinndeutungen. Eine praktische Theologie gelebter Religion, Gütersloh 1998, 88f.
  37. Wilhelm Gräb weist unter Bezugnahme auf Ernst Troeltsch auf den neuzeitlichen Horizont des Auseinanderfallens von Religion und Kirche hin - es handelt sich mithin um ein Phänomen, das schon eine längere Geschichte hat und sich in der Postmoderne allenfalls zuspitzt: "Dass Religion und Kirche auseinandergefallen sind, sie aber gleichwohl aufeinander angewiesen bleiben, hat bereits Ernst Troeltsch als prägende Signatur der Religionsgeschichte des Christentums in der Neuzeit kenntlich gemacht. Es gehörte für ihn zur Umformung des Christentums in den Folgen der Aufklärung entscheidend eben dies, dass sich eine individualisierte Form der gelebten Religion zunehmend außerhalb der Kirchen aufgebaut hat, ohne dass damit die Kirchen überflüssig geworden oder auch nur diese individualisierte Religionsform in gänzlicher Unabhängigkeit von ihnen zu existieren in der Lage wäre." Ders., a.a.O., 80. Gräb macht in diesem Zusammenhang auch darauf aufmerksam, dass die Ausbildung eines allgemeinen Religionsbegriffes im Zuge der Aufklärung die Beobachtung dieses Phänomens überhaupt erst ermöglichte.
  38. Vgl. dazu auch Hans-Martin Gutmann, Der Herr der Heerscharen, die Prinzessin der Herzen und der König der Löwen. Religion lehren zwischen Kirche, Schule und populärer Kultur, Gütersloh 1998, 28, 41, 218, 245.
  39. Ulrich Beck, Die irdische Religion der Liebe, in: Ulrich Beck/Elisabeth Beck-Gernsheim, Das ganz normale Chaos der Liebe, Frankfurt/M. 1990, 222-266, 248.
  40. Vgl. dazu und zum Folgenden: ebd., 258ff., 243ff.
  41. Wilhelm Gräb, Kunst und Religion in der Moderne. Thesen zum Verhältnis von ästhetischer und religiöser Erfahrung, in: Jörg Herrmann/Andreas Mertin/Eveline Valtink (Hg.), a.a.O., 57-72, 67.
  42. Vgl. Martin Seel, eine Ästhetik der Natur, Franfurt am Main 1991, 35; ders., Ästhetik und Aisthetik. Über einige Besonderheiten ästhetischer Wahrnehmung, in: Birgit Recki/Lambert Wiesing (Hg.), Bild und Reflexion, München 1997, 17-38.
  43. Thomas Lehnerer, Methode der Kunst, Würzburg 1994, 54ff.
  44. Andrea Kern hat unlängst erneut die Autonomie der ästhetischen Erfahrung plausibel deutlich gemacht. In der ästhetischen Erfahrung ist "unser gewöhnliches Verstehen unterbrochen". Andrea Kern, Schöne Lust. Eine Theorie der ästhetischen Erfahrung nach Kant, Frankfurt am Main 2000, 308.
  45. Luckmann, Thomas, Religion - Gesellschaft - Transzendenz, in: Hans-Joachim Höhn (Hg.), a.a.O., 112-127, 117ff.
  46. Georg Seeßlen, a.a.O.

© Jörg Herrmann 2000
Magazin für Theologie und Ästhetik 8/2000
https://www.theomag.de/08/jh3.htm