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Magazin für Theologie und Ästhetik


Cinema mundi

Die Zauberformel, die uns ins Herz trifft

Karsten Visarius

Bei der Arbeit an seinem Film "Psycho", so hat es Alfred Hitchcock erzählt, sei es ihm weder um die Geschichte noch um die Personen gegangen. Es kam ihm vielmehr darauf an, "durch eine Anordnung von Filmstücken, Fotografie, Ton, lauter technische Sachen, das Publikum zum Schreien zu bringen." Der schon oft zitierte Satz bringt in kürzester Form ein Paradox des Kinos zum Ausdruck - die Erfahrung, dass "lauter technische Sachen" in uns, den Zuschauern, eine ganze Skala von Gefühlen wachrufen können, Staunen und Schreck, Glück und Trauer, Lachen und Rührung, Triumph und Angst. Der intellektuelle Vorbehalt gegen das Kino zehrt nicht zum geringsten vom Misstrauen gegen diese Dominanz der Affekte, die es, noch dazu auf mechanische Weise, in Gang zu bringen vermag. Das Kino kränkt den aufgeklärten Verstand, indem es uns an die Macht der Gefühle erinnert. Wir wissen zwar, dass wir einer Illusion erliegen. Aber wer ins Kino geht, hat den Wunsch, dass die Illusion das Wissen besiegt. Im besten Fall gelingt es dem Kino, beides, Wunsch und Wissen, zu versöhnen.

Es gibt dafür besonders schwierige Kandidaten. Zum Beispiel die Liebe, eine Sache für die Jungen, die Naiven und die Unverbesserlichen. Dennoch kommt das Kino immer wieder auf Liebesgeschichten zurück. Boy meets girl lautet die abgenutzte Formel, die das ganze Genre als ewig gleiches Spiel beschreibt. Bis mit einem neuen Film das Spiel allen Ernstes wieder anfängt, als ginge es um nicht weniger als um Leben oder Tod. Seit seinem Debut mit "Die tödliche Maria" hat Tom Tykwer, der vielversprechendste und mit "Lola rennt" auch erfolgreichste junge deutsche Regisseur, immer wieder von der Liebe erzählt. Ganz ohne die technischen Tricks, das Tempo und die kunstvolle Konstruktion einer dreimal variierten Geschichte in "Lola rennt" erzählt auch "Der Krieger und die Kaiserin" von nichts anderem. Liebe pur: alle Zeit der Welt nimmt sich der Film für die Ausbreitung dieses einzigen Gefühls. Nicht weit genug dehnt die Kamera den Horizont, um in Himmels-, Meeres- und Landschaftstotalen seinem Impuls Raum zu schaffen. Nicht nah genug, bis nur noch Auge und Lippen, Haut und Haar die Leinwand füllen, kann sie dem Menschen kommen, der ihn zu begreifen versucht.

Bei Tykwer ist die Liebe ein Mysterium, das sich in verwunschenen Bildern und in einer bizarren Geschichte voller unwahrscheinlicher Wendungen zu erkennen gibt. Schon die erste Begegnung der Krankenschwester Simone oder Sissi, der "Kaiserin", und des Exsoldaten der Bundeswehr Bodo, des "Kriegers", ist ein Fall reiner Kinomagie. Nach einem Unfall liegt Sissi mit Atemstillstand unter einem LKW. Ausgerechnet dort sucht der vor der Polizei flüchtende Bodo ein Versteck. Nachdem er einem blinden Schützling Sissis, der am Straßenrand ahnungslos einen Softdrink nuckelt, einen Strohhalm entrissen hat, rettet er sie, die mit dem Tode ringt, durch einen Luftröhrenschnitt. Durch den Strohhalm kann sie wieder atmen. Danach weiß Sissi, dass sie ohne diesen Mann nicht mehr leben kann. All das hängt an einem Strohhalm. Es hängt an einer Anordnung von Filmstücken, an Fotografie, Ton, lauter technischen Sachen. Und der Zuschauer, der zu schreien und zu fragen vergisst, beginnt, an das Mysterium der Liebe zu glauben.

Mit seinem Liebespaar Sissi (Franka Potente) und Bodo (Benno Führmann) hat Tykwer die Somnambulen, die Schlafwandler und Traumtänzer des deutschen Kinos seit Robert Wienes "Caligari" zu neuem Leben erweckt. Im Licht dieser Tradition hat es seine Gründe, dass Sissi in einer psychiatrischen Anstalt nicht nur arbeitet, sondern auch geboren wurde. Dort ist sie die Kaiserin, deren bloße Anwesenheit die kranken Seelen besänftigt. Es gehört zu den Vorzügen des Films, dass er diesen zwischen Komik und Unberechenbarkeit changierenden Nebenfiguren die Aufmerksamkeit schenkt, um in ihrer Verstörung eine besondere Empfindsamkeit entdecken zu können. Das gilt schließlich auch für die Liebe selbst - eine Verrücktheit, deren Exzentrik wir als eine besondere Begabung unseresgleichen begreifen. Und so wünschen wir uns auch, dass es Sissi gelingt, den nach dem tödlichen Unfall seiner früheren Freundin traumatisierten und liebesunfähigen Krieger Bodo von seinem Totenleben zu erlösen.

Bis in die Bilder von einem gänzlich verwandelten Kino-Wuppertal und seiner Schwebebahn, die wir plötzlich mit neuen Augen als Emblem der Stadt sehen, ruft Tykwer den Klang eines romantischen Märchens wach, voller Verinnerlichung und poetischer Transzendenz. Jenseits des Rheins, in Agnès Jaouis Film "Lust auf Anderes", herrscht ein ganz anderer Ton. Wenn bei Tykwer die soziale Welt, Alltag und Gegenwart versinken, so kann sich in dem französischen Film die Liebe nur in einem konkreten gesellschaftlichen Milieu entfalten. Sie entspringt immer wieder aus den Beziehungen, in die das gesellschaftliche Leben die Menschen verstrickt. Auch wenn sie, wie im Regiedebut der französischen Drehbuchautorin und Schauspielerin, eine mindestens für die Betroffenen überraschende Kombination herbeiführt.

Für die Verhandlungen mit iranischen Geschäftsleuten benötigt Castella (Jean-Louis Bacri), ein Industrieller aus der französischen Provinz, nicht nur einen Leibwächter, sondern soll auch seine Englischkenntnisse aufbessern - das eine verlangt die Versicherung, das andere sein alerter Manager. Er engagiert die Theaterschauspielerin Clara (Anne Alvaro), die mit Sprachunterricht ihre magere Gage ergänzt. Die alleinstehende Vierzigjährige, die immer noch auf den großen Erfolg wartet, und der Kulturbanause und Selfmademan haben füreinander keinen Blick. Es bedürfte eines Wunders, um zwischen ihnen mehr als eine Konversation in Schulbuchenglisch in Gang zu bringen. Das Wunder vollbringt die Kunst. Von seiner Frau zu einem Theaterbesuch überredet, begegnet Castella Clara wieder, in der Rolle von Racines Berenice. Plötzlich beginnen die eben noch verspotteten Verse der klassischen Liebestragödie für Castella zu sprechen. Noch weiß er gar nicht, dass er sich verliebt. Er hat nur eben sein Ohr für die Wahrheit hinter den Konventionen des Theaters, der Sprache, der Rollen, der Inszenierungen und Selbstinszenierungen entdeckt. Ein Ohr für den Mythos der französischen Kultur.

Aus der zweischneidigen Erfahrung, dass das Theater - und vor allem seine klassischen Mythen und Modelle - sich im Leben fortsetzt, könnte auch ein nachtschwarzes Drama entstehen. In "Lust auf Anderes" wird daraus eine Gesellschaftskomödie. Mit geschärftem Ohr, und geschärftem Blick, zeichnet sie uns die Konturen der sozialen Rollen im Theater des Lebens nach. Nicht nur an Castella, der beim Cross-Over in Claras Künstlermilieu in jedes Fettnäpfchen tritt, oder umgekehrt an Clara, deren Arroganz die Bemühungen des rechtschaffenen Parvenüs beharrlich verkennt. Auch das Arsenal der Nebenfiguren - Castellas viriler Leibwächter Franck, der seine Frauenbekanntschaften statistisch auf dreihundert hochrechnet, sein Chauffeur Deschamps, der auf weibliche Treue setzt und sich selbst großzügig Untreue gestattet; Castellas Ehefrau, die in Blumenmustern, Hundeliebe und dem Sinn fürs Schickliche Erfüllung findet, das Barmädchen Manie, die von der Ehe träumt und auf Selbständigkeit pocht - sie alle, die der Film in sei's berufliche, sei's erotische Verbindungen bringt, ironisieren männliche und weibliche Rollenbilder und Selbstmissverständnisse.

In einer Komödie hat es die Liebe schwer, erkannt zu werden. Erst als Clara in einem freundschaftlich gemeinten Dialog Castellas Kränkung wahrnimmt, versteht sie seine Gefühle. Erst in einer neuen Rolle, als Ibsens Hedda Gabler, wird sie seinen Blick vermissen. Die Liebe kann sich auch in Komik, in geschliffenen Dialogen und formvollendetem Schauspiel zeigen, durch die sich "Lust auf Anderes" im Gegensatz zum Bilderpathos Tykwers auszeichnet. Agnès Jaoui hat es wohl kaum beabsichtigt. Aber in ihrem Film bekommen sogar deutsche Zuschauer Lust, französisch zu werden.

Schon in seinem Titel annonciert "In The Mood For Love" sein Thema, der neueste Film des hongkong-chinesischen Regisseurs Wong Kar-wai. In the mood, das ist keine Frage der Stimmung. Eher schon eine Sache der Musik, die mit einer sehnsuchtsvollen, immer wiederkehrenden Melodie die Geschichte beginnt. Bis zum Abspann lässt sie uns nicht los. Es ist die Melodie einer ganzen Lebensepoche, die auch nach deren Ende noch weiterklingt. Von Erinnerung spricht der Text, den wir nach dem letzten Bild lesen. In das Mauerloch eines Tempels im kambodschanischen Angkor hat Herr Chow sein Geheimnis gesprochen und das Loch mit Erde und einem Grasbüschel verschlossen - die Geschichte einer Liebe, die in jedem Sinne ein Geheimnis bleibt, die nichts war als Begegnungen, die sich verfehlen, als Blicke aneinander vorbei, als Worte, die nicht gesagt werden.

Es geht um die Sekretärin Li-Zehn (Maggie Cheung) und den Zeitungsredakteur Chow (Tony Leung), Exilchinesen aus Shanghai, die im Hongkong der sechziger Jahre am gleichen Tag Nachbarn werden, die entdecken, dass ihre Ehepartner sie miteinander betrügen, die sich über diesen Betrug näher kommen und sich zuletzt sagen können, dass zwischen ihnen nie etwas geschehen ist. Knapp und exakt umreißt der Regisseur Zeit und Milieu, einen Berufsalltag, den die Zeiger der Uhr, ein Privatleben, das Kollegen, Vorgesetzte und Vermieter kontrollieren, die darauf achten, dass auch zwei ständig auf ihre geschäftlich verreisten Partner Wartende die Form wahren. Und doch sagen diese konkreten Umstände nur wenig. Der Film konzentriert sich vielmehr ganz auf seine beiden Hauptfiguren, auf die Momente, in denen sie allein oder gemeinsam im Bild erscheinen - durch Türrahmen, in engen Fluren oder Treppenaufgängen, vor Mauern mit verwitterten Plakaten, hinter dem Schleier von Stoffen, Regentropfen oder Fensterscheiben. Eine schöne Frau, ein freundlicher Mann, die in einem eigenen Raum leben, in einem Exil im Exil.

Bei Wong Kar-wai ist die Liebe der Trauer verschwistert, so eng, dass die eine der anderen gleicht. Wir erkennen sie in den Worten, in denen die beiden vom Betrug der anderen sprechen, an einer tröstlichen Umarmung, aus der sie sich lösen, an einer Berührung der Hände, die vorübergeht. Wir erkennen sie in der Einsamkeit, in die sie sich verschließen. In der realen Welt von Herrn Chow und Frau Li-Zehn findet die Liebe nicht statt. Sie bleibt eine Kette flüchtiger Bilder, Kinozauber, der unser Inneres berührt.


© Karsten Visarius 2001
Magazin für Theologie und Ästhetik 9/2001
https://www.theomag.de/09/kv4.htm