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Magazin für Theologie und Ästhetik


Monotheismus der Zeichen und der Aufstand der Söhne

Dogma95 und Thomas Vinterbergs Fest

Markus Steinmayr

Denn nicht Freiheit ist es, was sie zu suchen aus sind, sondern Bindung.(1)

Als 1995, im Jubeljahr der bewegten Bilder, Thomas Vinterberg und Lars von Trier ein Manifest unter dem Titel Vow of Chastity der Öffentlichkeit zugänglich machten, war die Verwunderung groß. Nicht nur, dass hier zu einem Zeitpunkt auf offenkundige Art und Weise gegen das postmoderne Kino und seine technisch-ästhetischen Möglichkeiten polemisiert wurde; vielmehr wurde das Kino wieder auf Funktionen geeicht, die in der Ästhetisierung des Postmodernen anachronistisch wirkten: Authentizität, eine strenge Regelpoetik des künstlerischen Schaffens, Wahrheit der Bilder und des Kinos. Zumal Dogma95 es nicht einfach darum zu tun war, eine neue Ästhetik zu begründen: Es ging um nichts weniger als die Rettung des Kinos.

Es soll hier nicht darum gehen, einem Unternehmen wie Dogma 95 ästhetischen Anachronismus staatsanwaltlich nachzuweisen. Vielmehr soll gezeigt werden, dass die Struktur zur Errettung des Kinos durch eine strenge Dogmatik des künstlerischen Schaffens getragen wird, die gleichzeitig eine zutiefst religiöse ist. Es zeigt sich eine Kryptotheologie der Kunst. Kryptotheologie der Kunst geht davon aus, dass Symboliken und Begründungsmodelle moderner Kunst mehr tun, als bloße Referenz an den Bildfundus des Christentums zu sein. Modus und Methode der Kryptotheologie moderner Kunst opponieren auf ihre Weise gegen das geschichtsphilosophische Modell der Säkularisierung.(2)

Die Humanwissenschaften haben diesen Komplex als eine Entwendung ehemals christlicher Gedankengüter durch eine zunehmend profan und weltlich sich verstehende Kunst und Politik bezeichnet und darin eine Ideologie des Fortschritts erkannt. Doch dieser Prozeß der Entwendung stellt die Neuzeit unter den Verdacht der Illegitimität. Vielmehr entpuppt sich die von Blumenberg so ausführlich analysierte Struktur der Umbesetzung jüdisch-christlicher Problemkomplexe als latentes Muster der kulturellen Matrix moderner Wissenschaft wie Kunst. Daraus ergibt sich die Perspektive der folgenden Zeilen: Umbesetzungen ermöglichen, die Latenz jüdisch-christlichen Gedankenguts in Bewegungen wie Dogma95 und in Filmen wie Das Fest als die Wiederkehr eines Verdrängten zu beschreiben.

Das Folgende hat somit zwei Teile: Im ersten Teil sollen die dogmatischen Grundlagen des ästhetischen Schaffens von Dogma 95 als Recycling christlich-jüdisch Gedankenguts dargestellt werden. Recycling, so Manfred Schneider, bezeichnet die Gegenbewegung zu einer Geschichtsphilosophie des Fortschritts in der Zeit. Recycling ist eine Gründungsstruktur kultureller Praktiken, die davon ausgeht, dass sich Wiederverwertung kulturellen Kapitals dahingehend beschreiben lässt, Neues auf der Basis des in neue Gestalt geronnenen Alten und damit gleichzeitig Vergessenen zu gründen. Es bezeichnet von daher eine Strategie des Vergessens.(3) In diesem Sinne kann von Säkularisierung kaum mehr die Rede sein. Eher muß man wohl von einem explizit postchristlichen Zustand sprechen. Im zweiten Teil soll in Auseinandersetzung mit den Überlegungen Pierre Legendres und René Girards diese Wiederkehr anhand der Komplexe "Bild", bzw. "Emblematik", "Familie" und "Opfer" beschrieben werden.

Dogmatik der Kunst

Manifeste sind in der Logik der Kultur Zeichen der Krise. Die großen Manifeste schreiben von der Umwertung und der Neubegründung aller Zeichen, aller künstlerischen Kommunikation.

So ist der Tatsache nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt worden, dass das Manifest von Dogma95 eine Dekalogstruktur hat. Der Dekalog, so wie das Alte Testament ihn überliefert, errichtet eine neue Dogmatik im Imaginären der Kultur.(4) Am sinnfälligsten wird diese neue Dogmatik vielleicht im Bilderverbot, die man als Umschreibung in der Emblematik der Kultur lesen kann.

Der Hintergrund, vor dem das Bilderverbot gelesen werden muß, ist die Idolatrie der ägyptischen Religion. In diesem Sinne ist die Einsetzung des Dekalogs durch Moses das Dokument einer „normativen Inversion"(5). Normative Inversion geht von einer gegebene Ordnung aus und versucht, eine Kultur zu imaginieren und zu gründen, die sich auf das "verkehrte Spiegelbild" der gegebenen Kultur gründet. Sie zeigt damit etwas von der Investitur des Anderen einer Kultur - als Gesetz. Der Einsatz des Mose besteht also darin, neuen Gründungsmechanismen zu erfinden, sie zu gründen.

Die Einrichtung einer neuen Dogmatik im Imaginären einer Kultur ist von daher als Angriff auf die Repräsentation und deren Medien zu sehen. Konsequenz dessen ist, dass Angriffe oder Attacken auf setzende Autoritäten immer die Bilder, die Repräsentationen mit einbeziehen müssen. Es erscheint unmöglich, Veränderung im Imaginären einer Kultur vorzunehmen, ohne die Ordnungen des Sichtbaren in ihren Materialitäten anzugreifen. Ein erstes Beispiel ist das Bilderverbot. Es ist der Versuch, eine radikale Reduktion im Imaginären einer Kultur vorzunehmen. So heißt es im Alten Testament:

"Ihr sollt alle Kultstätten zerstören, an denen die Völker, deren Besitz ihr übernehmt, ihren Göttern gedient haben.[...] Ihr sollt ihre Altäre niederreißen und ihre Steinmale zerschlagen. Ihre Kultpfähle sollt ihr im Feuer verbrennen und die Bilder ihrer Götter umhauen. Ihre Namen sollt ihr an jeder solchen Stätte tilgen." (Deut., 12, 2ff.)

Zerstörung, Löschung der Namen im kulturellen Gedächtnis, Ausräumung der Archive; an dieser Reihe lässt sich die Logik des Ikonoklasmus studieren. Von Jesus(6), über Paulus, Augustinus, Luther, Calvin, Herder und Goethe bis hin zur Schließung und zum Höhepunkt der künstlerischen Moderne um 1900 kann man beobachten, dass Reduktion, Zerstörung, Phantasmen des Elementaren und Authentischen Paradigmen sind, unter denen die Erneuerung geschieht.(7) So heißt es im Futuristischen Manifest:

"Legt Feuer an die Regale der Bibliotheken!.... Leitet den Lauf der Kanäle ab, um die Museen zu überschwemmen!... Oh welche Freude, auf dem Wasser die alten, ruhmreichen Bilder zerfetzt und entfärbt treiben zu sehen!... Ergreift die Spitzhacken, die Äxte und die Hämmer und reißt nieder, reißt ohne Erbarmen die ehrwürdigen Städte nieder".(8)

Der Wunsch nach Auslöschung des kulturellen Gedächtnisses, das Attentat auf die Bilder, in denen die Repräsentation des zu Überwindenden gewähnt wird, der offensichtliche Aufruf zur Gewalt gegen die Kultur; vor diesem Hintergrund ließe sich die Geschichte der Avantgarde als Geschichte des Ikonoklasmus, als Geschichte der zerstörten Kunst erzählen.(9)

Das Manifest von Thomas Vinterberg und Lars von Trier steht in der Tradition dieser Entwicklung. Explizit nimmt Dogma95 Bezug auf die Urszene am Berg Horeb. So sagt Thomas Vinterberg in einem Gesetzeskommentar zu "Das vordringliche Ziel ist, die Wahrheit aus den Charakteren hervorzutreiben (Supreme goal is to force out the truth out of my characters)": "Predictability (dramaturgy) has become the golden calf around we dance."(10) Nun ist die Erzählung vom goldenen Kalb nicht nur irgendein Bildspender der Ikonographie. Sie installiert eine bestimmte Dogmatik der Übertragung, die gegen die Verehrung falscher Götter opponiert und die Idolatrie religiöser Kulte zeigt.

Die Dogmatik, die die mosaische Unterscheidung zwischen wahr und falsch herbeiführt(11), zeigt sich nun im klassischen Bilderverbot: 1. Du sollst keine Götter haben neben mir. 2. Du sollst dir kein Bildnis machen. Die Verehrung des goldenen Kalbs ist nun als Verstoß gegen das erste Gebot zu sehen, als dessen Konsequenz sich das zweite Gebot lesen lässt. Gleichzeitig taucht hier die entscheidende Figur auf: Bilder sind immer andere Götter, da der wahre und einzige Gott unabbildbar ist. Nun geht es vielleicht nicht um die Abbildbarkeit Gottes im Dogma95. Vielmehr zeitigt die Einführung dieses Wahrheitsdiskurses strukturelle Konsequenzen für das Manifest. So heißt es im 5. Gebot: "Optische Spielereien und Filter sind verboten". Ohne dies genau zu spezifizieren, werden Instrumente der Bildbearbeitung als Exponenten der Verhüllung gekennzeichnet und somit stigmatisiert. Die mit Instrumenten der Bildbearbeitung hergestellten Bilder zeichnen sich, so könnte man formulieren, durch Varianz und Zufall aus. Sie sind eben keine Bilder.

Wie aber kann man 'wahre' Bilder herstellen? Durch die Handkamera. Als Opposition zur hochtechnischen Kamerakultur des Hollywoodkinos wendet die Apologie der Handkamera sich gegen "certain tendencies in the cinema today"(12). Die Tendenzen sind: ein "technological storm"(13) und "that movie had been cosmeticised to death."(14) Der Sturm technischer Möglichkeiten, der eine ungeahnte Bilderflut hervorgerufen hat, der Vorwurf einer übermäßigen Schminke sind nun wiederum Topoi des kulturrevolutionären Diskurses.(15) Im Rückzug auf ein Medium des Dokumentarischen wird die Handkamera, die einerseits Authentizität suggeriert, aber darüber hinaus auch immer wieder deutlich zeigt, dass die Differenz zwischen Bild des Auges und Bild der Kamera eine Differenz ist, die sichtbar gestaltet werden muß.

Ziel ist, eine weitere grundlegende Unterscheidung der Kunst - der zwischen dem Bild des Films und der Wirklichkeit - bis in die Unentscheidbarkeit zu treiben und damit die Aporie als Konzept im Bereich des Ästhetischen zu statuieren. So heißt es an anderer Stelle:

"Es darf nur am Schauplatz gedreht werden. Sets und Requisiten sind verboten. Wenn eine besondere Requisite für die Geschichte notwendig ist, muß ein Drehort gefunden werden, an dem die Requisite vorhanden ist."

Die Bilder des Films sollen nicht als Bilder des Films erkennbar gemacht werden Vielmehr soll die Reduktion auf den Schauplatz und die Möglichkeiten des Filmens, die er abgibt, es ermöglichen, die Wirklichkeit so zu zeigen, wie sie ist. Als Kommentar liest sich das zweite Gebot: "Der Ton darf niemals unabhängig von den Bildern produziert werden oder umgekehrt. (Musik darf nur dann verwendet werden, wenn sie dort gespielt wird, wo die jeweilige Szene gedreht wird.) Bild und Wirklichkeit, Film und Realität sollen als grundlegenden Unterscheidungen der Kultur und der Kunst nivelliert werden. Dem Dogma95 geht es nicht um Mimesis. Und auch nicht um Verfremdung. Es geht darum, Zeichen und Sache in eins fallen zu lassen. Damit sind wir unmittelbar im Raum des Theologischen. Lars von Trier gesteht in einem Interview seine Religiosität und seine Affinität zur katholischen Liturgie und ihren Ritualen:

"Ich finde den Unterschied zwischen Katholizismus und Protestantismus sehr schön: Wenn in der katholischen Kirche das Heilige Abendmahl gefeiert wird, isst man nicht Brot, sondern wirklich Fleisch, das Fleisch Jesu. Es ist kein Symbol wie im protestantischen Abendmahl".(16)

Dass Lars von Trier hier die protestantische Zeichenlehre als symbolhaft bezeichnet, lenkt den Blick auf die Dogmatik des Sakraments innerhalb des Katholizismus. Die katholische Theologie hat ein Zeichenmodell vorgeschlagen, das möglicherweise eine Klärung der semiotischen Konzepte des Manifests ermöglicht. Es ist das Dogma der Realpräsenz und die Semiotik der Transsubstantiation. So beschreibt die katholische Theologie die Wandlung der Substanz von Brot und Wein unter Wahrung der jeweils spezifischen Gestalt. Medium dieser Wandlung ist das priesterliche Wort, die Konsekration des Priesters, der qua Amt dazu autorisiert ist. Bedeutsam und semiotisch interessant ist, dass die Lehre der Transsubstantiation davon ausgeht, dass sich die Wirklichkeit Gottes, unter anderen Gestalten und in anderen Formen, im Falle der Eucharistie Brot und Wein, sich zeigt. Interessant daran ist, dass hier die Trennung zwischen res und signum aufgehoben ist.(17) Man kann den Vorgang vielleicht so beschreiben: Die Funktion der Signifikanten besteht nicht darin, das Signifikat zu bezeichnen. Der Signifikant hat, hierin dem strukturalistischen Zeichenmodell diametral entgegengesetzt, die Aufgabe, die Einsetzungsfunktion(18) zu erfüllen. Das Signifikat wird nicht bezeichnet, sondern eingesetzt. Als Eingesetzes und nicht als Bezeichnetes kann es dann wieder im Kommunikationsgeschehen der Eucharistie der Gemeinde mitgeteilt werden.

Ähnliches soll nach der Vorstellung von Dogma95 durch das Filmbild geschehen. Jenseits eines Naturalismus des Bildes soll nicht die Wirklichkeit abgebildet werden, sondern das Bild soll die Wirklichkeit einsetzen. So heißt es im Manifest: „Keine zeitliche und geographische Verfremdung (der Film findet hier und jetzt statt)". Das Bild ist die Wirklichkeit. Somit wird das Bild seines mimetischen Charakters entkleidet und soll in seiner konsubstantiellen Nacktheit Wirklichkeit sein.

Der Titel des Manifests Gelübde der Keuschheit (Vow of chastity) lässt angesichts des Gesagten noch einige Aufschlüsse hinsichtlich der Kryptotheologie von Dogma95 zu. So trägt das Manifest den Titel Vow of chastitity (Gelübde der Keuschheit). Zunächst ist es vielleicht sinnvoll, die Zeichentechnologie des Gelübdes zu befragen. Gelübde sind innerhalb der Institution der Kirche privilegierte Wege auf dem Wege zur Vollkommenheit. Der freiwillige Verzicht auf die Familie, auf Eigentum und die Unterwerfung unter das Gesetz der Kirche, repräsentiert durch den Bischof, den Abt oder den Ordensobern, lassen den Priester, die Nonne oder den Mönch als Auserwählten erscheinen. Die Gelübde sind bestimmte Zeichen, die der Markierung einer Differenz dienen. So erscheint jeder, der ein Gelübde ablegt, zum einen als Ausgewählter innerhalb einer Gemeinschaft, zum andern als privilegiert im Hinblick auf das Ideal der Vollkommenheit, das zu erreichen er versprochen hat. Man könnte also sagen, dass die Künstlergruppe um Vinterberg und von Trier die Semiotik des Gelübdes dazu benutzt, um einerseits ihren Willen zur Vervollkommnung der eigenen ästhetischen Ideale zu propagieren, andererseits um so etwas wie künstlerisch-ästhetische Dissidenz kundzutun, sie gleichsam im Ritual der Publikation sichtbar werden zu lassen. Nun muß man aber danach fragen, welches Ideal da propagiert werden sollen. Es ist ein altes Ideal: Das der Askese. Nun hat dies sicherlich in bezug auf Dogma 95 wenig mit sexueller Abstinenz zu tun. Es ist vielmehr ein Weg der Reinheit, Zeichen der Auserwähltheit und Medium der Erlangung. Ernst Troeltsch hat in diesem Zusammenhang herausgestellt, dass die Askese einen "Gegensatz zur Welt und Kultur"(19) hervorbringt. Daran anschließend ist zu fragen, gegen welche Kultur sich das Manifest richtet: Es ist die Kultur des amerikanischen Kinos mit seiner Special effect Ideologie, deren vielleicht einziger Zweck darin besteht, zu unterhalten und des Besuchers Netzhaut zu reizen. Doch diese Gegnerschaft hat noch andere Konsequenzen. Dieser Gegensatz ist bereits angedeutet worden und soll im folgenden anhand des Komplexes "Familie" ein wenig näher betrachtet worden.

Bilder der Familie

Christian, der Sohn Helges in Vinterbergs Fest, inszeniert einen Aufstand des Sohnes. Anlässlich der Geburtstagsfeier seines Vaters, die alle Insignien des Höfischen und des Patrilinearen trägt, bezichtigt er seinen Vater, seine Zwillingsschwester in den Tod getrieben zu haben, da der Vater ihn und seine Schwester jahrelang unter dem Mantel des mütterlichen Schweigens missbraucht habe.

In der anfänglichen Reaktion der Familie auf das Geständnis Christians zeigt sich eine kulturelle Figuration, die man als die des Opfers bezeichnen kann.(20) René Girard beschreibt die "Funktion" des Opfers und der gegenüber ihm ausgeübten Gewalt folgendermaßen:

"Das Opfer schützt die ganze Gemeinschaft vor ihrer eigenen Gewalt, es lenkt die ganze Gemeinschaft auf andere Opfer außerhalb ihrer selbst. Die Opferung zieht die überall vorhandenen Ansätze zu Zwistigkeiten auf das Opfer und zerstreut sie zugleich, indem sie sie teilweise beschwichtigt."(21)

Die Gemeinschaft reagiert auf die drohenden Auflösung einer bestehenden sozialen Ordnung, indem alle Verantwortung für das existierende Übel dem Opfer anlastet. Wenn man die bestehende Ordnung von diesem personifizierten Übel gereinigt hat, dann, so die Hoffnung, wird diese weiterbestehen. Nun tritt dabei ein Problem auf. Denn das Opferritual funktioniert nur, wenn gleichsam die Bedingung der Verkennung erfüllt ist. Verkennung bedeutet hier, dass das Opfer als eine Projektionsfläche des eigenen Übels fungiert, das die Übel der eigenen Gruppe verdeckt. Zweitens, dass die gegenüber dem Opfer ausgeübte Gewalt legitimiert werden muß - und zwar im Namen eines Anderen: Gottes, der Ordnung der Familie, die Ordnung des Staates. Wenn die Verkennungsstruktur aufgelöst wird, dann wird das Opfer schnell zum Helden.

In dieser Perspektive lässt sich Das Fest lesen. Denn zuerst ist Christian selbstredend ein Opfer. Die gegenüber im ausgeübte Gewalt zeigt sich aber wohl am deutlichsten in der klassischen Martersequenz, in der Christian an den Baum gefesselt ist. Am Ende des Films entdecken die Mitglieder der Familie schließlich die Verkennung und nehmen Christian als eine Art Held in die Ordnung der Familie wieder auf.

Die Sichtbarmachung der zerstörten Ordnung der Familie, die Christian im Namen des Inzestverbots durchführt, zeigt von seiner strukturellen Logik her auffällige Parallelen mit dem christlichen Angriff auf die Institution der Sippe im Judentum. Um diesen Versuch zu verstehen, ist es vielleicht sinnvoll, zunächst einmal ein wenig zurückzublicken. In allen Religion hat es immer schon Auserwählte gegeben, die unter Verzicht auf die Familie oder genauer: die Sippenbindung Heiliges taten. Das Entscheidende ist aber nun, dass das Christentum den Verzicht auf die Familie als Identitätsausweis des neuen Glaubens erfindet.(22) So heißt es im Evangelium des Matthäus:

"Da er noch zu dem Volk redete, siehe, da standen seine Mutter und seine Brüder draußen, die wollten mit ihm reden. Da sprach einer zu ihm: Siehe, deine Mutter und deine Mutter stehen draußen und wollen mit dir reden. Er antwortetet aber und sprach zu dem, der es ihm ansagte: "Wer ist meine Mutter, und wer sind meine Brüder! Denn wer den Willen tut meines Vaters im Himmel, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter." (Mt 12, 46-50)

Die Enthaltsamkeit von Bindungen der Sippe und der Familie ist hier inszeniert als Angriff auf die genealogische Ordnung der herrschenden Kultur - der des Judentums. Um diese zu verlassen, muß man auch ihre Bindungsmechanismen (Religio) kappen. Diese Bindungsmechanismen zu kappen, ist der Beginn der christlichen Religion und seiner Theologie: Der Verzicht auf die Beschneidung als eine somatisches Zeichen und ihre Ersetzung durch eine 'geistige Beschneidung', deren Debatte die Apostelgeschichte, ist vielleicht das eindrücklichste Beispiel. Beschneidung ist das somatische Zeichen, das die Zugehörigkeit des Mannes zur genealogischen Ordnung des Judentums zeigt. Verzichtet man darauf, so muß man eine neue Genealogie schaffen: Die geistliche Beschneidung durch den Pakt des Glaubens. Das spirituelle Vateramt, das Gott übernimmt, dessen Sohn Jesu von ihm durch den Heiligen Geist gezeugt worden ist, erzeugt zusätzlich eine neue Logik: Die antifamiliaristische Attacken Jesu hängen mit der Vorstellung und der Umstellung des Vater-Codes zusammen, auf die Albrecht Koschorke hingewiesen hat. Mit Vater-Code kann man die legitimierende Instanz des Vaters bezeichnen. Im Christentum geschieht dahingehend eine Verschiebung. Das, was Jesus tut und sagt, kann nicht im Namen des leiblichen Vaters oder der herkömmlichen Ordnung geschehen: "Er [Jesus, MSt] kündigt die genealogische Ordnung auf, um eine neue, von Gott herkommende Herkunftslinie zu institutieren".(23)

Die Logik des Genealogischen taucht Vinterbergs Fest wieder auf. Wenn zum Beispiel sowohl Christians Schwester als auch Christians Bruder anfänglich das Geständnis nicht als Wahrheit des Genealogischen, sondern als Attacke auf die Ordnung der Familie erleben und dementsprechend handeln, so zeigt sich hier die kulturrevolutionäre Impuls. Die Familie ist hier verstanden als symbolische Ordnung, der bestimmte Rederegeln korrelieren. Freud hat darauf hingewiesen, dass das Inzestverbot und das Gebot der Exogamie Bedingungen der Kultur sind.(24) Wenn der Vater sich nun an dieses kulturtragende Verbot nicht mehr hält, zerstört er die Ordnung der Familie. Genau diese aber sieht Christian bedroht. Somit kann schwerlich die Rede davon sein, Christians Rolle in die Tradition des Ödipus einzuordnen. Sein Problem ist nicht der Komplex, sondern die familiare Ordnung.

Denn die Frage ist, in wessen Name Christian die Wahrheit des Genealogischen reinstituiert. Er steigt im Namen der Wahrheit aus. In diesem Zusammenhang muß daran erinnert werden, dass das Phantasma einer reinen, ja fast nackten Wahrheit den Angriff gegen die Institution impliziert und die Wahrheit im Sinne Roland Barthes 'obszön' werden lässt. Die Wahrheit, in deren Namen Christian spricht, ist nicht die der Institution Familie, sondern es ist eine reine Wahrheit, die keinen anderen Ausdruck findet als im Geständnis. Das Geständnis ist eine uralte Technologie der Wahrheit. Als eine solche folgt sie einer bestimmten Dogmatik. In diesem Sinne vergleicht von Trier die Dogmen von Dogma 95 mit religiösen:

"At one level the Dogma rules emerged from a desire to submit authority and the rules i was never given in my humanistic, cultural leftist upbringing; at another level they express the desire to make something quite simple."(25)

Der Hinweis auf die Dogmatik ist besonders aufschlussreich. Denn die Dogmen fordern wiederum Gehorsam, sie feiern, wenn man so will, die Einsetzung einer Norm. Sie können dies aber nur, wenn sie religiös fundiert sind. Denn die aus der Dogmatik resultierenden Ge- und Verbote lassen sich nicht anders als religiös begründen. Sie müssen immer im Namen eines Anderen ausgesprochen werden, sei es nun im Namen Gottes, sei es im Namen einer imaginierten Utopie. Es geht um die Struktur des Sprechaktes der Begründung oder der Fundierung; Kein Sprechen, keine Ordnung kann sich durch sich selbst legitimieren. Die Notwendigkeit einer Referenz auf Autorität, das Sprechen im-Namen-vom, zeigt die Logik dieser Kommunikation.(26)

Ein Angriff auf die Ordnung der Familie ist auch ein Angriff auf die Kultur, auf die kulturelle Ordnung der Reproduktion, der Weitergabe des Lebens unter institutionellen Bedingungen. Hierzu sind die Überlegungen Pierre Legendres maßgeblich, der in seinen Büchern, insbesondere in seiner Untersuchung Der Fall Lortie. Abhandlung über den Vater(27) darauf hingewiesen hat, dass es so etwas gibt wie das kulturelle Amt des Vaters, das wesentlich für die genealogisch-juridische Ordnung einer jeden Kultur ist. Das Amt des Vaters besteht unter anderem in der Repräsentation des Gesetzes, mithilfe dessen der Sohn in die Ordnung der Kultur eingeführt wird. Zunächst gilt es an die Definition des Vateramtes durch Lacan zu erinnern. Lacan hat bekanntlich zwischen einem symbolischen und einem realen Vater unterschieden: "Im Namen des Vaters müssen wir die Grundlage der Symbolfunktion erkennen, die seit Anbruch der historischen Zeit eine Person mit der Figur des Gesetzes identitfiziert."(28) Dem folgend kann man sagen, dass Attacken auf den Vater immer Attacken auf das kulturelle Funktion des Gesetzes sind. Mit 'Gesetz' ist aber mehr gemeint als kodifizierte Rechtsvorschriften. Vielmehr zeigt sich die Funktion des Gesetzes erst in seiner Repräsentation, die wiederum institutionell geregelt ist. Die Funktion des Gesetzes besteht in der Übertragung. Nun kann man diese Übertragung nur denken in ihrer sprachlichen oder bildlichen Verfasstheit. Metapher und Ikonographien(29) installieren diese Übertragung. Der Akt eines Verbrechens besteht nicht darin, ein Vergehen zu begehen. In "kulturellen" Verbrechen wie dem Vatermord zum Beispiel greift man auch die Referenz des Gesetzes an, jenen institutierten Rahmen des Gesetzes, vor dessen Hintergrund die Gesetze ihre Wirkung entfalten. Die Wahrheit des Vaters ist Referenz des Gesetzes. Es geht nicht nur darum, neues Recht zu begründen. Sondern, wie schon oben bereits angedeutet, man muß sein Bild zerstören, dem Gesetz die Möglichkeit der Repräsentation nehmen.

Das Bild des Vaters ist so ein Bild. Genau diese Attacke führt Christian und bringt sie auch zu einem erfolgreichen Abschluss. Allerdings um den Preis einer Neuordnung der Familie, die im Film selbst nicht mehr gezeigt wird. Was aber gezeigt wird, ist der Verlust der väterlichen Autorität, das Absterben des Bildes. In der Schlusssequenz, die das Frühstück nach der desaströsen Geburtsfeier zeigt, ist die Präsenz des Vaters nicht mehr die Repräsentation des Gesetzes. Er ist seines Amtes entkleidet worden, wie die gängige Metaphorik lautet.(30) Die Entkleidung zeigt, dass die Nacktheit des Königs für den Verlust an Macht und ihrer Repräsentationen steht. Der entblößte Souverän wird seiner Herrschaftszeichen entkleidet, ihm wird der Mantel der Macht vom Leib gerissen. Ihm wird nicht nur das Amt entzogen, sondern auch die Möglichkeit der Repräsentation dieses Amtes. Denn die fiktive Einheit zwischen leiblichem Körper und institutionellem Körper war lange Zeit der Begründungsdiskurs politischer Philosophie. Wenn aber der leibliche Körper in seiner Nacktheit dasteht, das nackte Leben des Königs vor Augen steht, dann wird damit auch die symbolische Einheit, die die Figur und die kulturelle Figuration des Königs trägt, zerstört. Anders gewendet: Der Entzug der Repräsentation ist als ein ikonopolitischer Angriff zu werten.

In Vinterbergs Fest geschieht so eine depositio,(31) eine Amtsenthebung. Nicht dass Helge wie Shakespeares Richard II nackt aufträte, doch die Kameraeinstellung dokumentiert die Entkleidung und die Enthebung Helges vom kulturellen Amt des Vaters. Während in den Festsequenzen die Ordnung des Sehens so angelegt war, dass von allen Plätzen die Sichtbarkeit des Vaters garantiert war, zeigt sich in der Schlusssequenz, die den Frühstücksraum in eine Totale taucht, dass fortan die Sichtbarkeit des Vaters an der Tafel ein Problem darstellt: Er muß gehen, damit das Frühstück weitergehen kann. Die Abschaffung der Sichtbarkeit des Vaters ist, wenn man das so sagen kann, ein weiterer, psychohistorisch interessanter Aspekt. Denn die, wie oben angedeutet, Deikonisierung der Autorität, führt auf Seiten der Repräsentation zum Ende der Emblematik. So zeigt, dass der Angriff auf den Vater ein Angriff auf das Bild ist - jenseits des Familiarismus des Freudschen Modells. Es ist nun nicht so, dass Christian sich bemüht, diesen Platz zu besetzen und die Stelle seines Vaters einzunehmen.(32) Der Film endet in der Leere des entschwundenen Vaters.

Anmerkungen
  1. Hofmannsthal, Hugo von: Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation. In: ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden, Bd.10, Frankfurt/M. 1980, S.17-42. Zitat: S. 37.
  2. Siehe zum folgenden: Blumenberg, Hans: Die Legitimität der Neuzeit. Erneuerte Ausgabe. 2. Aufl. Frankfurt/M. 1999.
  3. Vgl. Schneider, Manfred 1997: Der Barbar. Endzeitstimmung und Kulturrecycling, München und ders.: 1995: Kommunikationsideale und ihre Recyclings. In: Weigel, Sigrid (Hrsg.): Flaschenpost und Postkarte. Korrespondenzen zwischen Kritischer Theorie und Poststrukturalismus. Köln/Wien, S.195-221.
  4. Es wird hier den Ausführungen Jan Assmanns in Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur. Frankfurt/M. 2000 gefolgt. Für einen Versuch, das Imaginäre einer jeden Gesellschaft als instituierende Instanz zu denken, siehe: Cornelius Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie. Aus dem Französischen von Horst Brühmann. Frankfurt/M. 2.Aufl. 1997. Insbesondere S.579-603.
  5. Assmann, Jan 2000: S. 151.
  6. So zeigt die Mariendarstellung von Rogier von der Weyden aus dem Jahre 1450 das Jesuskind, welches das Alte Testament zerreißt oder zerknüllt, in dem Maria gerade liest. Siehe: Manguel, Alberto 1999: Eine Geschichte des Lesens. Berlin (zuerst: 1996), S.259.
  7. Vgl. dazu erneut Schneider 1997 und ders.: Bildersturm und Überbietung. Zur Reorganisation des Imaginären im Fin de Siècle. In: Merkur, Juni 2000. Zum Ikonoklasmus der Reformation vgl.: Schnitzler, Norbert 1996: Ikonoklasmus - Bildersturm. Theologischer Bilderstreit und ikonoklastisches Handeln während des 15. und 16. Jahrhunderts. München.
  8. Marinetti, T.F: Manifest des Futurismus. In: Schmidt-Bergmann, Hansgeorg: Futurismus. Geschichte, Ästhetik, Dokumente. Reinbek 1993, S. 79.
  9. Siehe die Beiträge in : Warnke, Martin (Hg.) 1980: Bildersturm. Frankfurt/M. und Gamboni, Dario 1998: Zerstörte Kunst. Bildersturm und Vandalismus im 20. Jahrhundert. Köln.
  10. http://www.dogme95.dk/the_vow/index.htm
  11. Vgl. Assmann 2000, S.17f. in Anlehnung an George Spencer Browns „Make a distinction". Die Unterscheidung teilt die Welt nicht mit, sie teilt sie ein.
  12. http://www.dogme95.dk/the_vow/index.htm
  13. Ebd.
  14. Ebd.
  15. Es ist interessant zu sehen, dass die Metapher der „geschminkten Wahrheit", hinter der die reine und die wahre Wahrheit auf Rousseau zurückgeht. Vgl. Starobinski, Jean 1993: Rousseau. Eine Welt von Widerständen. (zuerst: Paris 1971). Insbesondere S.16ff. und S.101-123.
  16. Zit. nach Forst, Achim 1998: Breaking the Dreams. Das Kino des Lars von Trier. Schüren, S.191.
  17. Es wird hier der Darstellung Pierre Legendres gefolgt. Vgl. Legendre, Pierre 1994: Dieu au miroir. Étude sur l'institution des images. Paris, S. 199ff.
  18. Die Formulierung „Einsetzungsfunktion" übernehme ich von: Piault, Bernard 1964: Was ist ein Sakrament? Aus dem Französischen von Johanna Isenbart OSB. Aschaffenburg. (zuerst: Paris 1963), S. 20.
  19. Troeltsch, Ernst 1916/1917: Askese. In: Askese und Mönchtum in der alten Kirche. Hg. von K. Suso Frank. Darmstadt 1975, S. 70.
  20. Vgl. Koschorke, Albrecht 2000: Die Heilige Familie und ihre Folgen. Frankfurt/M. S.103ff..
  21. Girard, Rene 1994: Das Heilige und die Gewalt, Frankfurt/M, S.18.
  22. Koschorke, 2000, passim.
  23. Koschorke 2000, S.28.
  24. Siehe Freud, Sigmund 1912-13.: Totem und Tabu. In: Studienausgabe, Bd. 9, Frankfurt/M. 2000, S. 293ff.
  25. http://www.dogme95.dk/news/interview/trier_interview.htm
  26. Vgl Legendre, Pierre 1999: Communication dogmatique. In: ders.: Sur la question dogmatique en occident. Aspects théoriques. Paris 1999, S.23-73.
  27. Legendre, Pierre 1998: Der Fall Lortie. Abhandlung über den Vater. Freiburg/Brsg.
  28. Lacan, Jacques 1986: Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse. In: Jacques Lacan: Schriften I, hg. v. Norbert Haas, 2. Aufl. Weinheim-Berlin 1986, S.71-169, Zitat: S. 119
  29. Legendre bezeichnet die Ikonographie als die Lehrmeisterin des Denkens. Vgl. Legendre, Pierre 1994, S.10.
  30. Vgl. dazu Shakespeares Richard II, der auf großartige Weise den Zusammenbruch der Fiktion der Einheit zwischen symbolischen und realen Körper des Königs zeigt. Vgl. zu dieser Lesart: Kantorowicz, Ernst H.: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters. Übersetzt von Walter Theimer, die Anmerkungen übersetzt von Brigitte Hellmann. Redaktion Walter Kampmann. München. 2. Aufl. 1994. S.47-64.
  31. Siehe Kantorowicz 1994, S. 48.
  32. Vgl. zur Theorie und zur Problematik des Platztausches: Legendre 1998, S. 44ff.

© Markus Steinmayr 2001
Magazin für Theologie und Ästhetik 9/2001
https://www.theomag.de/09/ms1.htm

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