Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Magazin für Theologie und Ästhetik


Kunst und Kirche

GETRENNTE WEGE - GEMEINSAME WEGE*

Paul Gräb

I.

"Die Kirche ist immer ein großer Auftraggeber für Künstler und Kunstwerke gewesen. Das ist nicht zufällig, sondern die biblische Botschaft drängt dazu, Gestalt anzunehmen ... Kann nicht kirchliche Kunst und Kunst in Kirchen Menschen erwecken und so 'reich' machen, dass sie fähig sind und bereit werden, sich andern zuzuwenden?"(1) Dieser Kommentar des Evangelischen Erwachsenenkatechismus zum Problemfeld Kirche und Kunst signalisiert das Machtverhältnis, in welchem dieses Begriffspaar im Selbstverständnis von Theologie und Kirche gemeinhin immer noch gesehen wird. Man geht von der Frage aus, welche Funktion die Kunst für die Kirche haben kann. Der Blickwinkel ist derjenige der Auswertung der Kunst für die Kirche. Allen Autonomieansprüchen der Kunst zum Trotz gibt sich die Kirche in der Regel immer noch als gönnerhaft, wenn es darum geht, der Kunst im kirchlich-religiösen Bereich einen Platz einzuräumen.

Mit dieser Haltung verletzen Kirche und Theologie den Selbstanspruch von Kunst. Das mag man aus theologischen Gründen für gerechtfertigt halten; ist es ja nicht Aufgabe der Kirche, eigenmächtige Selbstansprüche gelten zu lassen. Aber mit dieser Gedankenlosigkeit im Hinblick auf das Wesen der Kunst verletzt die Kirche nicht nur die Ansprüche von Kunst, sondern setzt sich damit selbst der Gefahr von Substanzverlust aus. Zudem ignoriert sie mit dieser Haltung einen gesellschaftlichen Tatbestand, der sie zum Nachdenken zwingen sollte; den Tatbestand nämlich, dass die Kunst quasi religiöse Funktion einnimmt, als zum Beispiel der Sonntagmorgen mehr und mehr zum Besuch eines Museums oder einer Vernissage einlädt anstelle eines Gottesdienstes.

An zwei beispielhaften Erlebnissen möchte ich diese Gedanken, die mich schon lange bewegen, veranschaulichen:

1. Im Mai 1976 hatte ich die seltene Gelegenheit, am Samstagabend in Köln und am Sonntagvormittag in Darmstadt Ausstellungseröffnungen für denselben Künstler zu erleben. Die Galerie in Köln hatte Bilder von Horst Antes präsentiert, das Museum in Darmstadt seine Metallplastiken. Das Publikum war auf beiden Vernissagen fast das gleiche. Das erinnerte mich an Veranstaltungen von Pfingstpredigern und Gesundbetern, denen auch immer dieselben Leute nachlaufen und nachfahren. Und ich fragte mich, ob sich so etwas wie eine "Kunstgemeinde" bilden kann.

2. Im Frühjahr 1990. Ausstellungseröffnung in einer süddeutschen Stadt. Ein bekannter, geschätzter Kunsthistoriker hält die Einführungsrede. Ich habe einige Ansprachen von ihm gehört, darum freue ich mich auf seine Erklärungen und Deutungen. Ich erwarte Hilfen zum Verstehen. An jenem Tage wurde ich verblüfft wie nie zuvor. Seine Rede gipfelte in der These: "Sie sollen die Bilder nicht verstehen, sie sollen an die Bilder glauben!" Und alles, was diesem dogmatischen Satz folgte, schien einem homiletischen Monatsheft oder einer Predigthilfe entnommen zu sein. Mir war es peinlich.

Unter der Voraussetzung, dass diesem Interesse an Kunst religiöser Charakter zugesprochen werden kann, muß doch gefragt werden, was leistet Kunst, was der Gottesdienst nicht leistet? Verleiht sie den religiösen Bedürfnissen besseren Ausdruck, als dies im Gottesdienst geschehen kann? Oder anders herum gefragt, rächt sich hier nicht die immer noch gängige kirchliche Bevormundung von Kunst, die doch nichts anderes zur Folge hat als den Ausschluss derjenigen Kunst aus der Kirche, die einen Anspruch auf diesen Namen verdient? Denn mit der Bevormundung von Kunst werden die Aufträge zwangsläufig denen überlassen, die sie getreu nach Vorschrift und handwerklich gut erfüllen. Es ist damit aber in der Regel nicht mehr Kunst, sondern Kunsthandwerk, Kunstgewerbe.

Als Kunstgewerbe kann Kunst aber nicht mehr zum Nachdenken anregen. Die Infragestellung des eigenen Selbst, die doch vor allem christlich propagiert werden sollte, findet somit in der Kirche auf der Ebene der Kunst nicht statt. Rächt sich darüber hinaus der Ausschluss der Kunst aus der Kirche nicht auch dadurch, dass jene sich zu einem religiösen Konkurrenzunternehmen entwickelt hat? Aus theologischer Sicht ist damit der Schaden groß, und zwar in zweierlei Hinsicht. Die Kirche hat einmal ein wirkmächtiges Unterstützungsmittel der Predigt verloren. Aber nicht nur das. Die Verständigung der Wirkungsmacht von Kunst als religiöse Dimension fügt zudem der Religion in ihrem Wesen Schaden zu, denn in der Funktion einer Ersatzreligion führt Kunst die Religion auf ein niederes geistiges Niveau. Wir werden im Folgenden zeigen, dass aus theologischer Sicht beide, Kunst und Kirche, zusammenkommen müssen. Damit soll die Kunst nicht wieder vereinnahmt werden. Ihre Autonomie soll erhalten bleiben, was ihren Darstellungswillen angeht. Aber diese ihre Freiheit bringt es mit sich, dass sie auch in Freiheit interpretiert werden darf. Wie sie gedeutet wird, darüber hat sie nicht mehr zu bestimmen. Ist das Kunstwerk einmal vollendet, dann ist es dem Betrachter preisgegeben. Der Künstler darf sein Kunstwerk in Schutz nehmen, aber als Werk ist es ihm und seiner Deutung entzogen. Bei HAP Grieshaber habe ich gelernt, dass Bilder, die das Atelier verlassen, ihr eigenes Leben beginnen, eine selbständige Dynamik entwickeln, also auch von anderen gedeutet werden dürfen.(2)

II

Diese doppelte Problematik in der Konfrontation von Kunst und Kirche soll im Folgenden entfaltet werden. Dass diese Problemanzeige nicht an der Wirklichkeit vorbeigeht, sollen einige Beispiele über die Haltung der Kirche gegenüber moderner Kunst und die Annahme beziehungsweise Ablehnung von Kunstwerken durch Kirchengemeinden aufzeigen.

1. Vor über 30 Jahren habe ich den Bildhauer Gerhard Marcks gefragt, ob er für die Christuskirche in Öflingen einen Kruzifixus machen könne. Er verneinte und erklärte freundlich, er habe schon fünf Kruzifixe gemacht und fände, das sei für ein Menschenleben genug. Erst Jahre später verstand ich die Weisheit seiner Beschränkung. Ich erlebte, wie flach, leer, aussageschwach Christusdarstellungen werden können, wenn ein Künstler durch kirchliche Aufträge gedrängt, laufend Kruzifixe herstellt. Ist eine gewisse Stückzahl erreicht, unterscheiden sich die handwerklich guten Bronzen nur noch durch Material und Preis von kunstgewerblichen Arbeiten.

2. Das muß nicht so sein. Von Arnulf Rainer, dem großen Wiener Künstler, gibt es fast unzählige Christusbilder, Kreuze, Christusübermalungen. Ob seine Kreuze und Christusdarstellungen lebendig bleiben, weil sie keine Auftragsarbeiten sind? Ich denke, die Kruzifikationen, wie Arnulf Rainer seine Kreuze, Christusdarstellungen, Kruzifixe nennt, sind darum stark, lebendig, aussagekräftig, weil es ihm gelingt, bestimmte und vorstellbare, nachvollziehbare Erlebnisse und Befindlichkeiten Jesu, wie in Momentaufnahmen, festzuhalten und glaubhaft zum Ausdruck zu bringen. An den Christusübermalungen 'Schmerz' und 'Christkönig' (die Titel der Bilder sind vom Künstler) ist das beispielhaft abzulesen. Beide Male handelt es sich um übermalte Fotografien gotischer Christusköpfe. Bei der Übermalung 'Christkönig' gelingt es Arnulf Rainer, durch blaue und weiße Striche aus dem Kopf des gekreuzigten, leidenden Christus ein königliches Haupt erstehen zu lassen. Anders bei dem Bild 'Schmerz'. Durch die Durchkreuzung des Antlitzes Jesu, durch die eigenartige Betonung der Zähne, macht er den Schmerz Jesu deutlich und bewusst. Die schnellen Pinselstriche, die das Antlitz Jesu durchkreuzen, lassen mich an Gottesdienstbesucher denken, die sich beim Betreten des Gotteshauses bekreuzigen und sich damit unter den Schutz und Segen dieses Zeichens stellen. Obwohl Arnulf Rainer zu den international anerkannten Künstlern unserer Zeit gehört, ist mir nicht bekannt, dass eine seiner "Kruzifikationen", wie er seine Christusbilder und Kreuze nennt, von einer Kirchengemeinde angekauft worden wäre.

3. Im Frühjahr 1990 fragte mich ein Dekan, ob ich bereit wäre, mit den Pfarrerinnen und Pfarrern seines Kirchenbezirkes eine Führung durch das Museum in Stuttgart zu machen. Bei der Vorbereitung dazu befasste ich mich besonders gründlich mit den Arbeiten von Joseph Beuys. Das erwies sich als gut. Gerade zu seinen Arbeiten hatten die Pfarrerinnen und Pfarrer viele Fragen. Kein anderer Künstler erweckt soviel Widerspruch, Ablehnung, Unverständnis wie Joseph Beuys, und keiner scheint so ungeliebt wie er. Es bleibt für mich unvorstellbar, ein Kirchengemeinderat oder ein anderes Entscheidungsgremium hätte zum Beispiel seine Golgatha-Darstellung für einen Altar angekauft. Die Arbeit von Joseph Beuys besteht im Wesentlichen aus zwei leeren Flaschen, leeren Blutkonserven, Holzfundstücken, ein paar Stückchen Verbandmull und etwas roter Farbe für die Kreuze.

4. Ben Willikens, Maler menschenleerer, aber lichterfüllter Räume unternahm das Wagnis, eines der bekanntesten Bilder der Welt, das Abendmahl von Leonardo da Vinci für die Menschen unserer Zeit nachzuempfinden. Bei einem Atelierbesuch erzählte Ben Willikens begeistert, dass er entdeckt habe, was keiner der unzähligen Kopisten des Freskos bemerkt, noch den Kunsthistorikern in fünf Jahrhunderten aufgefallen zu sein schien: Dass das Tischtuch bei Leonardo da Vinci in bestimmter, berechneter Weise gefaltet ist. Durch die Faltung entstehen 13 gleichgroße Rechtecke in der Länge und elf in der Breite. Hinweis auf die Zahl der Gäste beim Abendmahl und auf die Zahl der zurückbleibenden Jünger nach der Himmelfahrt Jesu? Auf seinem Weg zu dem großen Tafelbild entstanden 24 Skizzen, 55 Zeichnungen und eine Zeichnung für die Faltung des Tischtuches. Immerhin wurde eine der Arbeiten von der Evangelischen Landeskirche in Hessen-Nassau erworben. Das große Tafelbild, 300 x 600 cm (drei Tafeln je 300 x 200 cm) hätte als Altarbild in jeder Kirche Verkündigungscharakter bekommen. Angekauft wurde es vom Architektur-Museum in Frankfurt.

5. Meditation zum Medizin-Fenster von Johannes Schreiter. Zahlreiche wissenschaftliche und technische Errungenschaften werden ganz selbstverständlich in Anspruch genommen. Uns ist kaum noch bewusst, dass das Elektrokardiogramm (EKG), das unzähligen Menschen geholfen, das Leben verlängert oder erträglich gemacht hat, eine technisch-medizinische Erfindung unserer Zeit ist. Beim EKG werden durch einen Elektrokardiographen die Herzaktionsströme auf Filmstreifen aufgeschrieben, so dass Herz-Erkrankungen erkannt werden können. Johannes Schreiter hat ganz oben, unter dem gotischen Fensterbogen, auf rotem Grund, die Herzbewegungen eines ungeborenen Kindes, wie sie im Mutterleib von einem EKG aufgezeichnet wurden, weiß wiedergegeben. Darunter ein kleiner, blauer Stern als Zeichen für die Geburt des Menschen. Filmstreifenähnlich folgen auf acht Streifen die Herzstromkurven eines Sterbenden, wie das EKG sie ausdruckt. Die letzten Sekunden eines Menschenlebens. Das Schlagen des Herzens verlangsamt. Die Pulsfrequenz wird geringer. Das Herz setzt aus. Exitus. Vergehen. Tod. Dunkles, Verbranntes wird zur drohenden Symbolik für das finstere Reich des Todes, begrenzt von leuchtendem Blau. Blau nicht nur als Schimmer der Hoffnung, sondern als Gewissheit des Glaubens. Das gleiche, leuchtende Blau finden wir am Beginn des Zyklus im Stern, der die Geburt des Kindes anzeigt. So schließt sich der Kreis des Lebens. Auf dem untersten EKG-Streifen beim Exitus ist ein Kreuz gemalt, hier als Zeichen des Todes. Darüber auf rotem Grund, ein Datum. Dieses Datum mahnt uns daran, dass wir sterben müssen. Wir wissen nicht, wann das sein wird; wir werden erinnert, dass unser Leben ein Ende haben wird, dass ein Datum den letzten Tag unseres Lebens setzt. Uns an unseren eigenen Tod erinnernd, hat Johannes Schreiter ein bestimmtes Datum in das Fenster geschrieben: 4. September 1965; das ist der Todestag von Albert Schweitzer, dem bedeutenden Philosophen und Theologen, dem großen Arzt und Musiker. Albert Schweitzer wurde durch sein Leben in Lambarene, sein Leben für Arme, namenlose Kranke zu einem lebendigen Symbol für Liebe und Menschlichkeit, Frieden und Leben. Sein Leitsatz "Ehrfurcht vor dem Leben" wurde unzähligen Menschen in der Welt zur Devise ihres Handelns. Um für sein Urwaldspital in Lambarene Geld aufzubringen, hat Albert Schweitzer Orgelkonzerte gegeben, vor allen Dingen in Europa und Amerika. Auch die Orgel in der Heilig-Geist-Kirche in Heidelberg hat Albert Schweitzer gespielt, zugunsten seines Urwaldspitals Lambarene. Am unteren Bildrand steht wie auf einem dunklen Lesezeichen mit Eselsohr die von Alexander Fleming gefundene Penicillin-Formel. Während des z. Weltkrieges erzählte man sich in unseren Lazaretten, die Engländer hätten eine Wundermedizin entdeckt, die fast alles heilen kann. Ich erinnere mich gut daran, weil wir nicht verstehen konnten, durch welche Kanäle solche Nachrichten zu dringen vermochten. Heute ist das Penicillin, wie das EKG und viele andere technische und chemische Entwicklungen und Entdeckungen unserer Zeit, aus der Medizin und dem Leben der Menschen nicht mehr wegzudenken. Auf der Außenfassade des 1959 errichteten Regierungsgebäudes in Bangalore in Süd-Indien steht in großen Lettern geschrieben: "Gouverments work is God's work" = "Regierungsarbeit ist Arbeit für Gott". Über dem Medizinfenster von Johannes Schreiter darf erst recht in abgewandelter Form stehen: "Alles Handeln für den Menschen ist Arbeit für Gott."

An der Entstehungsgeschichte dieser Fenster wird der Konflikt zwischen Kunst und Kirche besonders deutlich: Die Fenster in Heiliggeist sind in einen Kontext eingebunden, der vielfach determiniert ist. Da ist zum einen die bereits erwähnte Geschichte der Kirche, ihre Verbindung mit der Bibliotheca palatina, dem Heidelberger Katechismus und der Universität, eine Verbindung, die geprägt ist durch den spannungsvollen Wechsel von Wortorientierung und Wortraub. Da ist zum anderen die liturgische Funktion der Fenster, eingegrenzt durch Calvins Bestimmung, Bilder dürfen nicht zur Ablenkung der Gläubigen führen und das Urteil des Heidelberger Katechismus, dass Gott die Menschen nicht in stummen Bildern, sondern über die lebendige Verkündigung seines Wortes unterrichtet haben will. Da ist zum Dritten ihre Funktion im Raum, Ausdrucksträger des Lichts in einer spätgotischen Kirche zu sein. Schreiter verarbeitet Form und Inhalt zu einem Gefüge, das diese Spannung aushält und austrägt.(3) Der Ältestenkreis der Heilig-Geist-Gemeinde begleitete den Künstler über Jahre bei seiner Arbeit, war bereit zu lernen, mühte sich, Zugang zur Kunst unserer Zeit zu finden, um einen künstlerischen Gestaltungsauftrag verantwortlich vergeben zu können. Der Ältestenkreis stimmte den Entwürfen von Johannes Schreiter mehrheitlich zu. Der Gesamtkirchengemeinderat hat den Antrag des Ältestenkreises am 23. Juni 1986 abgelehnt. "Dass in Heidelberg diejenigen die Oberhand behalten haben, die in ihrem Bedürfnis nach Ruhe in der Kirche nicht gestört werden wollten, kann nur mit dem letzten Akt des klassischen Dramas bezeichnet werden: Katastrophe." (4)

III

Welche Problematik kommt in dieser Konfrontation von Kunst und Kirche zum Ausdruck? Kunst ist echte Sinnsuche. Kunst ist echter und glaubwürdiger Ausdruck von Sinnerfahrung und Sinnwertung. Es handelt sich also wohl in erster Linie um die Konkurrenz des Ausdrucks von Transzendenzerfahrung.

Dabei ist es wohl ihre Echtheit und Glaubwürdigkeit, die Kunst in dieser Hinsicht attraktiv macht. Ihre Echtheit und Glaubwürdigkeit macht Kunst auch unverzichtbar für jeden ernsthaft Glaubenden, das heißt für den, der seinen Glauben lebt in der Spannung von schon begonnener, aber noch nicht vollendeter Erlösung. Hier, in dieser Spannung, hat die zeitgenössische Kunst ihren Ort. Sie vermag es, Gott und den Menschen sich selbst zum Rätsel werden zu lassen, indem sie seine widersprüchliche Lage und das Leiden in der Welt darstellt. Oft sind es gerade die Künstler, die stellvertretend leiden. Sie erleiden die Zwiespältigkeit von Hoffnung und Verzweiflung, die uns durch ihre Darstellung erst bewusst wird. Für jeden Glaubenden kann die Kunst zum unverzichtbaren Vergegenwärtigungsmaterial der gefallenen, noch nicht erlösten Welt beziehungsweise des Vorscheins einer anderen, wiederhergestellten, heilen Welt werden.

Einige Beispiele von Kunstwerken, auch Künstlerbiographien, die das Leiden zum Ausdruck bringen, möchte ich in diesem Zusammenhang vorstellen:

HAP Grieshaber: Sühneengel, Farbholzschnitt 1966: Juden mussten im Dritten Reich fünfzackige, gelbe Sterne tragen, auf den Straßen, in den Konzentrationslagern, bis zum Tod. Wie Spitzen dieser Sterne hat Grieshaber sieben gelbe Zacken auf das Blatt "Sühneengel" gedruckt. Drei auf der linken, vier auf der rechten Seite des blauen Stammes: Sieben, die heilige Zahl, Hinweis auf die Menora, den siebenarmigen Leuchter, dessen Lichter unter Tränen und Blut verlöschten. Die gelben Zacken sind kaum zu erkennen. Blutbahnengleich hat der Künstler sie kräftigrot überdruckt. Der mauergleichen Umrahmung des Bildes gab er das gleiche Gelb wie den Zacken der Judensterne. Grieshaber will erinnern: Die gelbe Mauer sperrt ein in das Ghetto unserer Schuld. Wir können nicht weiterleben ohne Neuanfang, ohne Vergebung, ohne Hoffnung. Zwischen den von roten Bahnen überdeckten gelben Sternzacken steht das Kreuz, blau und grün, in den Farben der Hoffnung und des Lebens. Grieshaber schrieb zum "Sühneengel": "Zuvorderst will ich den schweren Begriff "Sühne" für manche etwas leichter machen, darum soll der neue "Engel der Geschichte" ein Sühneengel sein! Das heißt: "Ein Engel, der zur Sühne ruft." (5) Der Erlös aus dem "Sühneengel" Heft 5/1966 war bestimmt für das Totenbuch von Neuengamme. (6)

Horst Antes: Sühneengel, Farblithografie, 1966: Horst Antes, einer der Schüler HAP Grieshabers, schuf für den Sühneengel eine Farblithographie. Diese Graphik zeigt, dass Horst Antes, der die Kristallnacht 1938 nicht bewusst erlebte, der keine persönlichen Erinnerungen hat an die Erniedrigung, Deportierung, Ermordung der Juden, den Fortgang der Geschichte intensiv miterlebte und darum weiß, dass er dem Volke angehört, das an den Juden in besonderem Maße schuldig geworden ist. Auf seiner Lithographie erzählt er, gleichsam wie in Comic-Bildern, seine Geschichte von Schuld und Sühne:

1. Bild: Eine weinende Frau, die Hände vor ihr Gesicht geschlagen, steht vor blutrotem Himmel. Links vor ihr liegt ein Toter, nackt, unbestattet. Rechts von ihr sind drei Kreuz angedeutet, die erzählen sollen, dass hinter den Hügeln unzählige Gräber liegen.

2. Bild: Das Blut ist in die Erde gesickert. Der Himmel hat sich nicht nur verdunkelt wie an dem Tage, als Jesus starb, der Himmel ist tiefschwarz. Grellweiß, mit roten Wundmalen an seinem Leibe, steht der Jude Jesus vor schwarzem Himmel. Karfreitag, schwarzer Tag, nennen die Christen jenen Tag, an welchem sie den Tod Jesu am Kreuz bedenken. Christen können und dürfen nie vergessen, dass und wie sehr sie an den Juden schuldig geworden sind. Der gekreuzigte Jesus ist der König der Juden und der Heiland der Welt.

3. Bild. Wüstenerde, aber der Himmel ist wieder blau. Hoffnung strahlt auf. Noch weint die Frau. Eine Hand deckt ihr Antlitz. Abwehrend hebt sie die andere Hand, als könne sie Geschehenes ungeschehen machen, bloß darum, weil sie es nicht begreifen kann. Ratlos, hilflos steht sie allein.

4. Bild: Fruchtbarer Boden, auf weißem Hintergrund ein gewachsener Baum, eine blaue Wolke. Unverdiente Zusage der Gnade Gottes: Es sollen nicht aufhören Sommer und Winter, Saat und Ernte. Zwei Menschen lieben sich, haben Freude aneinander. Gemeinsam wollen sie das Leben wagen.

Gottes Güte und Liebe, die größer ist als alles, machen Weiterleben möglich.

Georg Meistermann: Sühneengel, Lithografie 1966: Georg Meistermann hat die Zeit des Dritten Reiches mit durchlitten, hat die dunklen Mächte miterlebt, die wie ein Sturmwind über das Land fegten, alles vernichtend, was ihnen im Wege war. Bestimmt kam er der Bitte HAP Grieshabers um eine Arbeit für den "Sühneengel" gerne nach, wollte er doch mit seinen Arbeiten immer persönliche Erfahrung und erlebte Geschichte Bild werden lassen. An seinem "Sühneengel" sind deutlich nur die Beine erkennbar, wie Füße eines Menschen. Der Korpus wird aus lauter Tränen, schweren, vollen Tränen gebildet. Die Flügel auf beiden Seiten sind so zahlreich, weit gespannt, groß, dass dieser Sühneengel die Tränen der Reue, der Ungeduld, der Schuld, der Sühne weit über das Land trägt. Der Sühneengel ist für Georg Meistermann der Engel, der von der Geschichte durch die Geschichte getrieben wird.

Jürgen Brodwolf: Die frühen Ölbilder Jürgen Brodwolfs wurden von Sammlern erst begehrt, als seine Tubenobjekte den Künstler bekannt gemacht hatten. Im Jahre 1959 arbeitete Jürgen Brodwolf an einer Serie von Radierungen. Um sich Menschen in einem Raum besser plastisch vorstellen zu können, drückte er leere Farbtuben zusammen zu Menschenfiguren. So entstand die Tubenfigur. Unzählige Maler hatten wie Jürgen Brodwolf Millionen von Farbtuben in Händen gehalten. Keiner vor ihm hat die ausgedrückte, leere Farbtube zum Bild des Menschen zurechtgedrückt. Die leeren Tuben bleiben als Farbtuben erkennbar und werden dennoch - nicht nur als Deutung sondern deutlich erkennbar - zum Menschenbild. In den Objektkästen sind die Tubenfiguren Abbilder des Menschen, der gefangengehalten wird, angekettet, verplant ist, eingespannt oder verspannt. Die Tubenfigur wird zum Bild des erniedrigten, verachteten, missbrauchten Menschen. Ab 1973 entstehen lebensgroße Figuren aus verschiedenen Materialien. Die Tubenfigur scheint gewachsen zu sein; unübersehbar ist die Verwandtschaft der großen Figuren zu den zurechtgedrückten Farbtuben.

Von 1974 - 1980 standen die drei Figurenstelen im Eingang der Christuskirche Wehr-Öflingen. Jürgen Brodwolf hatte sie zu unserer 6. Ausstellung geschickt. Ein Freund sagte: Diese Figuren erinnern mich bei jedem Kirchgang an den Ausgang einer groben Schlägerei. Tatsächlich wird jede Druckstelle zum Zeichen dafür, was Menschen einander antun können, wie hart Menschen miteinander umgehen, wie Menschen einander weh tun. Wie bei den Farbtuben hat Jürgen Brodwolf die großen Figuren aus Blei mit seinen Händen zurechtgedrückt. Ich lasse mich durch Jürgen Brodwolf erinnern, dass kein Mensch leben kann, ohne an anderen Menschen schuldig zu werden.

Zu unserer 7. Ausstellung 1977 schickte Jürgen Brodwolf uns das Figurentuch "Corpus", eine lebensgroße Figur aus Drahtgeflecht, Pappmache, Leinenbinden, Molton, eingefärbt mit Lehmstaub. Das Bild eines Gestorbenen, eine lebensgroße Figur des Todes, mumiengleich. Ich mag den Tod nicht; der Tod ist der letzte Feind. Aber ich lass' mich durch Jürgen Brodwolf erinnern, dass der Mensch ist wie eine Blume auf dem Felde, die morgens blüht, mittags verwelkt und abends verdorrt ist und abgehauen wird (nach Psalm 90). Ich lass' mich erinnern, dass ich sterben muß. Jedoch: Menschenhände haben dem Gestorbenen wohlgetan, haben ihm das Totentuch bereitet, seinen Leib gesalbt, seine Blöße bedeckt. So wird dieser verbeulte Corpus, das Bild des Todes, für mich zum Zeichen der Hoffnung. Ich lass' mich erinnern: es gibt Freude im Leiden, Leben im Tode, Liebe im Leben, Leben in Ewigkeit.

IV

Wenn wir nun zu unserer Ausgangsfrage, der Konkurrenz von Kunst und Kirche mit ihren Folgen, zurückkehren, müssen wir dann nicht vermuten, dass der Gegensatz: hier leere Kirchen - dort volle Museen - auf diesen Sachverhalt der Echtheit und Glaubwürdigkeit guter Kunst zurückzuführen ist? Ist es nicht gerade ein Authentizitätsverlust, welcher weithin kirchliche Predigt kennzeichnet, der Auslöser wird für das Auseinanderdriften und Auflösen der ehemals großen christlichen Gemeinde in unzählige Spielarten von Ersatzreligionen? Und begegnet man andächtigem Zuhören nicht eher bei Reden auf den Vernissagen als bei einer sonntäglichen Predigt?

Mit Freunden, zwei Künstlern und einem Mitarbeiter besuchte ich in einer westdeutschen Großstadt im Frühjahr 1980 die Vernissage für einen bedeutenden Maler unserer Zeit. Wir lieben und verehren den Künstler alle vier, schätzen seine Arbeiten über alles, wissen, dass er seinen Platz unter den großen Meistern nicht mehr verlieren kann.

Das Museum hat sich große Mühe gegeben; viele, auch große Exponate hängen in dem Saal. Die Ausstellung wirkt sehr geschlossen. Wir waren so zeitig da, dass wir vor den Bildern unsere Eindrücke austauschen konnten. Jetzt warten wir auf die Eröffnung der Ausstellung. Der Künstler wartet. Viele Menschen warten. Stille breitet sich aus. Die Stille wird immer dichter, immer andächtiger, die Stille wird zur Last, wird unerträglich. Da erzählt einer, leise nur, einen Witz. Es wird gelacht. Der Bann ist gebrochen.

Ist es etwa diese Konkurrenz, die die Pfarrer und Gemeinden spüren und die oftmals ihr Begreifen übersteigt, wenn sie es ablehnen, dass gute Kunst ihre Räume belebt?

Die in solchen strittigen Auseinandersetzungen ausgelösten Angriffe gerade auf die Gegenwartskunst scheinen dafür zu sprechen. Es geht ja längst nicht mehr um das Problem des Bilderstreits, dazu haben sich die Fronten zu sehr verschoben und die Gewichte zu sehr verlagert. Front zu machen ist ja kaum noch gegen Bilderstürmer, sondern gegen Verteidiger sogenannter christlicher Kunst. Der Kampf geht nicht um Bilder überhaupt, sondern um die Frage, ob nur christliche Bilder für die Kirchen ausgewählt werden dürfen oder ob die Kunst als solche, das heißt heute als autonome, einen legitimen Platz im Raum der Kirche einnehmen darf. Die Gewichte haben sich also verschoben zu der Frage: Was darf Kunst in christlicher Hinsicht sein und was nicht? In dieser Frage stecken verschiedene Problemanzeigen. Wir wollen drei davon aufnehmen:

In welchem Sinne darf und muß Kunst Autonomie beanspruchen, und zwar auch im Rahmen der Kirche?
Welches Verhältnis von Kunst und Religion ist in diesem Anspruch impliziert?
Was lässt sich daraus für das Verhalten von Kunst und Kirche ableiten?

Mit dieser Problemanzeige möchte ich zwei Behauptungen aufstellen: Einmal, dass die Kirche einer Klärung des Verhältnisses von Kunst und Religion bedarf, um ihrer eigentlichen Aufgabe, der Verkündigung des Wortes, gerecht werden zu können; zum andern, dass dies nicht nur für die Kirche gilt, sondern auch für die Kunst. Aus theologischer Sicht bleibt Religion nämlich auch für die Kunst von gewisser Bedeutung.

Um das Verhältnis von Kunst und Kirche in seinem heutigen Bestand zu verstehen, müssen wir den gesellschaftlichen Umwandlungsprozess im Auge behalten, der sich mit der Säkularisierung vollzog. Es wurde ja nicht nur die Kirche aus dem Lebens- und Orientierungszentrum der Menschen verdrängt, sondern das der Säkularisierung zugrunde liegende Zeitalter der modernen Wissenschaft leistete zudem einer Pluralisierung der Orientierungsmöglichkeiten Vorschub. Diese erforderten ihrerseits eine Kraft zur Wiederherstellung eines einheitlichen Ganzen, aber auf dem Hintergrund jener Vielfalt wurde es immer schwieriger, einen einheitlichen Rahmen zu finden, der diesem Wiederherstellungsanspruch genügen konnte. Der Vielfalt der Zielrichtungen entspricht dabei die Hartnäckigkeit der jeweiligen Abgrenzungen. Das bezieht sich auf Theologie, Kunst und die Wissenschaften gleichermaßen. Die Autonomie der modernen Wissenschaft, die auch die Religion zu ihren Disziplinen zählt, hat Möglichkeiten der Freiheit ins Rollen gebracht, die erst noch verstanden werden müssen. Die Autonomieansprüche der Kunst sind nun auch im Zusammenhang der Freiheit der Disziplinen zu sehen: Diese Spiegelung einer allseitigen Freiheit muß die Religion zu Recht als Bedrohung empfinden. Aber eingeordnet in die Wissenschaften als eine Disziplin unter anderen hat sie kein äußeres Recht, der Kunst ihren Selbstanspruch streitig zu machen. Indem es Kunst in ihrem Innersten um Selbst- und Weltinterpretation geht, deckt sich ihr Streben mit demjenigen der Religion. Unter der Maßgabe der Autonomie müssen sich Kunst und Religion damit als Konkurrenten empfinden, sind alle Kampfansagen seitens der Kirche gegenüber einer autonomen Kunst verständlich. Sie sind es allerdings dann nicht mehr, wenn man der Kirche ein Wissen unterstellt um den historischen Prozeß, der diesem Autonomieanspruch zugrunde liegt. Mit dem Wissen um diesen historischen Aufklärungsprozess könnte der Blick der Kirche frei werden dafür, dass Religion und Kunst sich zwar im selben Bereich zu schaffen machen, dass sie allerdings innerhalb dieses Gebietes eine verschiedene Gewichtung der begegnenden Sachverhalte vornehmen. Die Klärung dieses Verhältnisses würde aus Kunst nicht mehr länger eine Konkurrentin der Religion machen, sondern vor allem deren Unverzichtbarkeit für die Religion aufzeigen können.

Wie nimmt sich nun auf diesem Hintergrund der Beschreibung des Zusammenhangs von Religion und Kunst der Gottesdienst aus? Welchen Einfluss hat die Verhältnisbestimmung von Kunst und Religion auf dessen eigentliche Aufgabe, die Verheißung des Wortes? Wenn wir vom protestantischen Gottesdienstverständnis ausgehen, so wie es Luther formuliert hat, dann ist die Bedeutung von Kunst im Gottesdienst bestenfalls am Rande-stehend zu veranschlagen. In seiner Predigt zur Einweihung der Schlosskapelle in Torgau am 5. Oktober 1544 bestimmte er die Aufgabe des Gottesdienstes folgendermaßen: "Dass nichts anders darin geschehe, denn dass unser lieber Herr selbs mit uns rede durch sein heiliges Wort und wir widerumb mit jm reden durch Gebet und Lobgesang." Es ist geprägt von der Übermacht und dem Überlegenheitsanspruch des Wortes. Kunst darf allenfalls als Dekoration vorkommen.

Viele meinen, dass Luther damit den anthropologischen Sachverhalt missachtete, dass Bilder stärker sind als Worte. Eilert Herms hat dagegen mit Recht darauf hingewiesen, dass das Begriffspaar Wort - Bild(7) nicht einen Gegensatz ausdrückt. Bei der Kirche des Wortes handele es sich nicht nur um das geschriebene Zeichen, sondern um das wirklichkeitsschaffende Wort Gottes. Die anthropologischen Konstituentien des Erlebens - Erleben ist das Medium der Offenbarung, der Begegnung des Wortes - nun weisen darauf hin, dass dem Wort immer Bilder zugrunde lägen, die durch dieses wieder heraufbeschworen würden. Insofern geschehe Erleben beziehungsweise die Offenbarung des Wortes als "szenische Erinnerung". In Anbetracht dieser Ausführungen kann die Alternative also nicht mehr Wort oder Bild heißen, da das Wort selbst als bildhaft aufgezeigt wurde. Trotzdem ist aber, so meine ich, die Frage nach dem Verhältnis des Wortes zur Kunst damit noch nicht überflüssig geworden. Selbstverständlich gehört auch die Kunst in diesen umfassenden Wortbegriff. Aber sie leistet innerhalb dieser Bildgrundlage des Wortes eine ihrer Eigenart entsprechende Unterscheidung. Sie gliedert in der ihr eigentümlichen Weise Bildansichten aus der gängigen Bildervielfalt aus und vermag es, durch Betonung von Blickrichtungen anderes Sehen hervorzurufen.

Für Luther und das kirchliche Leben seiner Zeit mag Kunst theologisch zu den sittlich gleichgültigen Dingen gehört haben. Dieses Urteil konnte nur Bestand haben, weil das, was an Bildern allgegenwärtig war, im großen und ganzen der Kunst zugeschrieben werden konnte. Damals hatte die Kunst das Sehen der Menschen geprägt.

Der Bildenden Kunst heute fehlt diese prägende Kraft nicht. Vielmehr fehlt den Menschen unserer Zeit die nötige Aufgeschlossenheit; vielleicht fehlt ihnen auch einfach der Mut, sich einzulassen auf eine Kunst, die sie noch nicht verstehen.

Zum Beispiel vermittelt ein Kreuz von Robert Schad, trotz des kalten, harten Materials, ein starkes Gefühl von Leben, Geborgenheit, Wärme. Der Künstler hat die Querbalken ungleich am Längsbalken angeschweißt; der linke Balken ist merklich tiefer angebracht als der rechte. Alle drei Balken sind an ihren Enden verschieden abgeschrägt. Der linke, tiefer angesetzte Balken, ist uneben. Der Corpus Christi ist nicht sofort zu erkennen, weil er aus dem gleichen Vierkantstahl zusammengeschweißt ist, wie das Kreuz. Man muß genau hinsehen. Aber sobald der Corpus Christi wahrgenommen wird, ist zu spüren, wie sehr dieser angedeutete Corpus das Kreuz bestimmt und den Raum zu verändern beginnt. Jesu Leib ist gebrochen. Unter dem Haupt Jesu fehlt ein Teil seines Leibes; der Künstler hat ein ganzes Stück aus dem Corpus herausgesägt und weggelassen. Es fehlt auch der linke Arm Jesu. Die Unebenheit des linken Balkens lässt dieses Fehlen nicht sofort deutlich werden. Aber seltsam, ich erkenne und verstehe: Die Querbalken des Kreuzes reichen weit; sie machen deutlich, dass der todwunde, einarmige Christus die ganze Welt umfangen, lieben, trösten will.

Ein größeres Kreuz von Robert Schad, einige Jahre früher aus Holz und Stahl gearbeitet, hängt im Haus der Diakonie Wehr-Öflingen. Es scheint ähnlich zu sein und ist doch ganz anders. Staunend, auch dankbar begreife ich, dass Robert Schad mich den Kruzifixus, dieses alte Zeichen des leidenden Sterbens neu sehen, neu erleben, neu begreifen lässt.

Heute, im Zeitalter der vielfältigen Medien, werden wir überschwemmt von schlechten Bildern. Kunst ist von daher unverzichtbar geworden, um der unaufhaltsamen, undifferenzierten Bilderflut Einhalt zu bieten, um das Verweilen und Innewerden einzuüben, um wieder hinsehen und dann vielleicht auch wieder besser hinhören zu können. Gerade also unter dem Blickwinkel, dass Kunst eine eigene Akzentuierung des Wirklichkeitsverhältnisses, nämlich die diesseitigen Momente des Transzendenzbezugs - und damit die Differenzierung des Lebensverhältnisses - ins Bild fassen will, kann das Fehlen eigentlicher Kunst in der Kirche verhängnisvoll werden. In Anlehnung an einen Ausspruch Schleiermachers ließe sich fragen: Soll der Knoten der Geschichte so auseinander gehen, die Kunst mit dem Unglauben und die Kirche mit der Barbarei? Die Verabschiedung der Kunst aus dem Kirchenraum hat die Kirche viel von ihrer Wirkmächtigkeit verlieren lassen. Dies ist von um so größerer Tragweite, als das entlassen wirkmächtiger Kunst aus dem kirchlichen Raum nun diese ihre Eigendynamik entfalten lässt und ihr damit ein eigenes Wirkungsfeld zuspielt. Das mag man als solches für gut halten. Wird nun allerdings Kunstbetrachtung geradezu zum Gottesdienstersatz, dann leidet darunter auch das religiöse Bewußtsein. Ohne ein Einhalt stiftendes Wort wird unter der Hand religiöses Gefühl zum "Fetischismus" degradiert; Religion tritt auf eine niedrigere geistige Stufe. Die durch Kunst hervorgerufenen, mannigfaltigen Erfahrungen von Sinn und Wirklichkeit ermangeln eines Einheit stiftenden Rückbezuges, auf den hin die Erlebnisse verarbeitet werden können. Mit anderen Worten, wo ist der Gott, dem für das beeindruckende Erleben von Wirklichkeit, das die Kunst wachzurufen vermag, gedankt werden kann?

Die reformatorische Erkenntnis des allein seligmachenden Wortes nimmt ja mit Recht in Anspruch, die einzige Bastion gegen den Aberglauben zu sein. Führt nicht Schritt für Schritt die "gottlose Wirklichkeitserfahrung" durch isolierte Kunstbetrachtung zum Aberglauben zurück?

Es ist nicht von ungefähr, dass ohne eine Einheit stiftende Kraft die Kunst es nicht vermag, alle möglichen Mißformen von Sinnsuche in Form von Sektenstiftung, Astrologie, Okkultismus, Spiritismus abzuwehren. Alle diese Phänomene lassen sich unter dem Begriff "Wortverlust" fassen, im Sinne von Luthers Propagierung des Wortes als schöpferische Wirklichkeit Gottes. Die verheißende Kraft des Wortes, die sich als einende Macht der Wirklichkeit bewährt, wird immer unbekannter. Angesichts der Verselbständigung der Pluralen Formen von Sinnorientierung wird es immer schwerer, das einende Wort überhaupt zu erkennen und hörbar werden zu lassen.

Spitzt sich daher nicht alles auf eine doppelte Frage zu? Ist nicht der Auszug der Kunst aus der Kirche beziehungsweise ihre Verabschiedung durch die Kirche schuld an dem Verlust der einenden Kraft des Wortes und daher mitschuldig an einer Ideologisierung der Gesellschaft? Und könnte nicht die Einbeziehung der Kunst in das Gottesdienstgeschehen die einigende Kraft des Wortes verstehbar in die Wirklichkeitserfahrung hineinsprechen lassen?

Demnach bräuchte die Theologie die produktiven Impulse von Kunst. Kunst als Ausdruck und Verarbeitung von Zeitsituation, einer Wirklichkeit, die die Anwendung dogmatischer Formeln in der Predigt nur allzu oft vermissen lässt. Dass Kunst nicht nur in bildlicher Gestalt ausdrückt, was auch in Sprache gesetzt werden kann, sondern selbst als unmittelbar erfüllte Sinnform gesehen werden will, das kann nur zum Ausdruck kommen, wenn sie nicht von vornherein als Auftragskunst gehandelt wird. In ihrer befreiten, autonomen Gestalt vermag Kunst allerdings Kräfte zu entfalten, die das Wort leiten können, in die gegebene Wirklichkeit hineinzusprechen. Am häufig zitierten, eindrücklichen und wesentlich christlichen Wort aus dem Johannes-Evangelium: "Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns", wird sich weiterhin die christliche Wahrheit bewähren müssen. Was auf Seiten der "wortlosen" Kunst zu Aberglauben führt, zum Religionsstadium des "Fetischismus", ist andererseits beim kunstlosen Glauben in Gefahr, reiner Vernunftglaube zu werden. Vom lebendigen Glauben sind beide nahezu gleich weit entfernt. Beide verkümmern in ihrer Einseitigkeit, weil sie die Dialektik der Fleischwerdung des schöpferischen Wortes nicht begreifen können oder besser: nicht glauben wollen. Die Kunst ist zwar nicht das fleischgewordene Wort, aber dieses lässt sich mit ihrer Hilfe besser auffinden und aufzeigen, weil es der Vorzug der Kunst ist, im "Fleischgewordenen" ihr Metier zu sehen. Um Menschen anzusprechen, und das wollen ja auch die Kirchen, muß Substanz da sein, das heißt Wirklichkeit als erfahrbar präsent gemacht werden. Diese Leistung hat noch immer die Kunst am besten vollbracht.

Anmerkungen
  • Gekürzter und überarbeiteter Nachdruck aus: Paul Gräb / Karl-Christoph Epting, Wege (Ausstellungskatalogbuch), Karlsruhe 1993, S. 208-227.
  1. Evangelischer Erwachsenenkatechismus, Gütersloh 1975, S. 691
  2. Vom 25. März bis zum 29. April 1962 fand in Schaffhausen, im Museum zu Allerheiligen, eine große HAP Grieshaber-Ausstellung statt. Der Künstler hielt bei der Eröffnung seinen berühmt gewordenen Vortrag: "Umweg Holz".  Der Museumsverein hatte ihn gebeten, einige seiner Bilder zu erklären. Das wollte er nicht; er sei kein Marktschreier, der seine Bilder wie eine Ware anbiete. Aber für vieles und für alle Verständnis aufbringend gab er die Bitte der Schweizer an mich weiter: Ob ich könne, ob ich es wolle, und ob ich es tun würde? Also fuhr ich mit Freunden nach Schaffhausen. Ich weiß nicht mehr, was ich zu den Bildern 'Frau Welt', 'Hirte' und anderen großen Holzschnitten gesagt habe. Unvergesslich bleibt in meiner Erinnerung meine Frage an den Künstler: Darf ich Ihre Bilder so verstehen? Und seine Antwort: ich bitte Sie darum! Ich bin fest davon überzeugt, hätte ich ganz anderes aus seinen Bildern herausgelesen, seine Antwort wäre dieselbe gewesen.
  3. Vgl. dazu: A. Mertin: Der Heidelberger Fensterstreit, S. 104 f., in: Kirche und Moderne Kunst, herausgegeben von A. Mertin und H. Schwebel, Frankfurt/M. 1988
  4. Ebd. S. 99
  5. "Auszug aus dem Brief Grieshabers an P. W. Wenger vom 9. November 1966 in "Engel der Geschichte-5/1966, dem Sühneengel".
  6. Neuengamme war ein Ausländer-KZ, nahe bei Hamburg. Einer, der Neuengamme überlebte, Franz Glienke, hat elf Jahre lang Namen und Nummern der Ermordeten zusammengetragen. 50 000 Schulhefte hat er vollgeschrieben. Die Kosten für die Nachforschung bestritt er aus seiner Haftentschädigung mit Hilfe eines gegründeten Freundeskreises und Zuschüssen der Kirchenbehörden. HAP Grieshaber schenkte Franz Glienke auf seine Bitte um Hilfe den Holzschnitt "Das Rad" von 1965, gedruckt in einer Auflage von 20 Exemplaren. Das Geld reichte nicht, das Buch drucken zu lassen. Darum bestimmte HAP Grieshaber den Erlös aus dem "Sühneengel" für das Totenbuch in Neuengamme.
  7. Vgl. dazu E. Herms, Die Sprache der Bilder und die Kirche des Wortes, in: Die Kunst und die Kirchen, hg. v. R. Beck, R. Volp u. G. Schmirber, München 1984, S. 242-259.

© Paul Gräb 2001
Magazin für Theologie und Ästhetik 9/2001
https://www.theomag.de/09/pg1.htm