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Magazin für Theologie und Ästhetik


Neue Musik und Liturgie

Dieter Schnebels Missa brevis

Klaus Röhring

"Geistliche Musik stellt sich aufgrund der geschichtlichen Entwicklung als in jeder Hinsicht völlig unabhängig von der Liturgie dar, sie ist der Liturgie entwachsen. Es wäre falsch und auch vergeblich, sie zurückholen zu wollen. Nicht eine Integration zeitgenössischer Kunst in die alten liturgischen Rituale wäre gefordert (oder gar die Produktion neuer Kunstwerke für liturgische Zwecke), sondern eine Neudefinition der Zeichen und der Grundformen der Liturgie aus den Erfahrungen heraus, welche die radikale Kunst unseres Jahrhunderts mit Zeichen und Form gemacht hat. Man möchte die heutige Situation als 'postliturgisch' bezeichnen, in dem Sinn, dass unsre Zeit eine Alternative zu der umfassend entfalteten, strahlend klaren alten Liturgie braucht: etwas Dunkles, Fragmentarisches, Offenes. Die Liturgie kann nur aus so etwas wie einem neuen Katakombenbewusstsein wiedergeboren werden."(1)

Neue Musik und Liturgie eröffnet ein Spannungsfeld, das von vielen Vektoren und von ebenso vielen widerstrebenden Kräften bestimmt ist, die miteinander kaum zu vermitteln sind. Als unmöglich sieht darum Hans Zender es an, solche Spannung zu halten. Unsinnig, sie überhaupt als ein "Feld" aufbauen zu wollen. Die alten Rituale, "strahlend klar", sind historisch, ästhetisch, Sediment der Geschichte, vergangen. Sie sind aufgehoben im Sinn von aufbewahrt und beseitigt, nicht im dritten Sinn dieses Wortes, wie Hegel es dachte, auf eine andere Stufe gehoben und somit neu gültig. "Postliturgisch" ist unsere Situation, der in den Katakomben vergleichbar. Die "Übung der schweigenden Meditation"(2) wäre als Alternative uns angemessen, so jedenfalls Hans Zender.

Doch könnte es nicht auch ganz anders sein? Lebt die Liturgie des christlichen Gottesdienstes nicht eben von dieser Spannung der alten Rituale und der Neuen Musik, und der aus ihr entwachsenen geistlichen Musik? Existiert sie nicht aus dieser Spannung von Tradition und Gegenwart, von Festgefügtem und Offenem? Will sie nicht gerade diese immer wieder neu zum Ausdruck bringen, nicht um sie nur zu reproduzieren oder jeweils neu zu produzieren, sondern um sie jeweils neu zu redigieren(3)? Ist sie nicht eigentlich erst in diesem Sinn ein "Spannungsfeld"? Wird sie nicht darum und deswegen immer wieder-holt?

Anhand von Dieter Schnebels Missa brevis will ich dieser Frage wie einer These nachgehen. Es ist Schnebels dritte Messe - und in dieser Form eine ganz und gar evangelische Messe. Kein "Hochamt" also, zentrale liturgische Form des römisch-katholischen Gottesdienstes, sondern nur die reformatorisch hervorgegangene kürzere Form derselben mit den klassischen Teilen:

Kyrie - Gloria - Credo - Sanctus - Agnus dei.

1956 - 1969 hatte Dieter Schnebel Für Stimmen (... MISSA EST) geschrieben mit den drei Teilen dt 31,6; amn und :! (madrasha 2) und als vierten, ergänzenden Teil die Choralvorspiele I/II. 1988 schrieb er seine zweite, die Dahlemer Messe und nun im Jahr 2000 als Auftragskomposition des "Klaus-Martin-Ziegler Preises" (Kassel) die Missa brevis für Stimme solo und Schlagzeug (auch von Mezzosopran selbst zu spielen) und für Sprecher und Chor, die im Credo hinzukommen. Es ist eine Auftragskomposition für einen liturgischen Zweck. Gedacht für die ökumenischen Stundengebete und einen Gottesdienst im Christus-Pavillon auf der EXPO, am 14. Oktober 2000 dort (ohne das später hinzugekommene Credo) uraufgeführt. Für den Gottesdienst hatte Schnebel gleichsam als gesungenen Predigttext noch ps 139 komponiert.

Tradition und Gegenwart

In einem eigenen Erfahrungsbericht hat Dieter Schnebel das mit der Messe und der Liturgie betretene Spannungsfeld von Tradition und Gegenwart, von Neuer Musik und liturgischem Ritus im Blick auf die Bedeutung der Tradition für seine eigenen Werke beschrieben:

Tradition bedeutet: "Empfangen und Weitergeben. Also geht es einmal darum, das Überkommene aufzunehmen, anzunehmen, seine Gehalte verinnerlichend zu bewahren, zum anderen aber darum, dieses Überkommene weiterzuführen, anderen zu übertragen und übersetzen - was zugleich ein Überschreiten beinhaltet: nicht bei dem stehen bleiben was ist, sondern es aufheben als ein Lebendiges und es grenzüberschreitend weiterreichen. Das bedeutet, das Überkommene eben nicht als Sedimentiertes, sondern als Potential zu sehen, und dafür zu sorgen, dass die ihm innewohnende Kraft wirksam zu werden vermag. So verstanden ist Tradition ein Lebensprozess, der ansetzt in der Erkenntnis der latenten, aber auch glühenden Kraft des vermeintlich Alten, und der sodann ihre Entbindung und weiterführende Entfaltung in sich schließt."(4)

Das und nichts anderes geschieht in der Liturgie unserer Gottesdienste. Wie sonst sollte die Memoria Christi eine "gefährlich, befreiende Erinnerung" sein, die "nicht trügerisch dispensiert von den Wagnissen der Zukunft" und die "Überlieferung als gefährliche Überlieferung und damit als kritisch-befreiende Potenz gegenüber der Eindimensionalität herrschenden Bewusstseins"(5) mobilisiert! "Erinnerung ist das Geheimnis der Erlösung", sagt ein jüdisches Weisheitswort. Darum haben jüdische und christliche Religion in den Liturgien ihrer Gottesdienste, sich in Gebet und Lobgesang an Gott gewendet, wie z.B. das biblische Vorbild aus Ps 25, 6 es tut mit den Worten: "Gedenke, Herr, an deine Barmherzigkeit und an deine Güte, die von Ewigkeit her gewesen sind." Ein Psalm, der den Sinn von Erinnern und Liturgie zum Namen eines Sonntags macht: Reminiscere. Erinnern macht das göttliche Erinnern zu unserem menschlichen, damit Gottes Güte uns gut macht, damit sie uns befreit von den Lasten, den Schulden, den Verfehlungen unserer Vergangenheit, so die theologische Tradition. Damit wir sie nicht verdrängen, verschweigen, beschönigen müssen. Damit wir zu ihnen stehen können und erlöst davon unser Leben leben können, frei und unbeschwert. "Solches tut zu meinem Gedächtnis", sagt Jesus zu den Brot- und Weinworten im Abendmahl. Wenn wir diese in unserer Liturgie erinnern, werden sie gegenwärtig. Sie erhalten unsere Gestalt, unsere Worte, und werden zu unserer Musik. So werden sie wirksam. Darum bedarf die Liturgie des Neuem im Alten, des Gegenwärtigen im Vergangenen und umgekehrt bedarf, nicht im Sinn der bloßen Reproduktion und einer vom Vergangenen losgelösten (Neu-) Produktion, sondern um der "Revision", des "Überschreitens" in die Gegenwart willen. Also kein "Katakombenbewusstsein", sondern ein Traditionsbewusstsein, im spezifischen Sinn jüdisch-christlichen Erinnerns. Liturgie ist also ein geschichtliches Spannungsfeld. Sie ist "Sprung ins Gewesene", bei dem die "Vergangenheit ins Heute"(6) tritt. Nichts anderes geschieht im Kyrie und Gloria, im Sanctus und Agnus dei und im Credo, wenn die gegenwärtige Gemeinde mit diesen Worten zu einer weltweiten Gemeinde in Geschichte und Gegenwart wird. Die christliche Liturgie lebt von dieser Spannung und ist im Vollzug die Darstellung dieses Spannungsfeldes selbst.

Schnebels Missa brevis ist Ausdruck solcher "Appräsentation" (Husserl). Was nicht unmittelbar erfahrbar ist, wird durch die unmittelbar erfahrbare Musik präsentiert.

Dieter Schnebel wählt darum z. B. bewusst die klassische Form eines dreifachen - dreiteiligen Kyrie, eingeleitet durch unmittelbare Klage- und Heullaute, als müsste sich solch deutliches, liturgisches Rufen erst herausringen aus einem tiefen Klagelaut, dem die "richtigen Worte" noch fehlen, die durch die Tradition vermittelt, bereit gestellt werden. Und Schnebel zeigt auf, welcher Kyrios gemeint ist und auf welcher Tradition sein komponierter Ruf fußt. Die Sängerin hat den biblischen Text aus Matthäus 9,11 zu sprechen: "Es folgten Jesus zwei Blinde und sprachen: Ach, du Sohn Davids, erbarme dich unser." Gegenwärtige Klage, Kyrieruf und biblisches Zeugnis kommen so zu einer Einheit zusammen. Sprung ins Gewesene, und Vergangenheit tritt ins Heute. Die Erfahrung der zwei Blinden wird unsere, meine ...

Nach einem dreifachen in weiten Intervallen gesungenen "Christe eleison" folgt nochmals ein mehrfaches Kyrierufen, das wieder ganz ins individuelle, gegenwärtige Klagen übergeht. Oder könnte es ursprünglich und schon immer so geklungen haben?

Ähnlich verfährt Schnebel in den anderen Teilen der Missa. Im Gloria, um ein weiteres Beispiel zu nennen, beginnt er liturgisch, zitiert das biblische Zeugnis, die Geschichte, aus der das Gloria, also die Doxologie stammt, um dann in der Ausweitung der großen Doxologie mit den in Deutsch vorgetragenen Wir-Bitten die liturgische Tradition und sprachliche Artikulation formal und inhaltlich für unsere Gegenwart zusammenzubringen.

"Kontinuität durch Diskontinuität" also, Lebendigkeit durch "redescription".(7)

Ritus und Individualität

Zu dieser Spannung von Tradition und Gegenwart tritt eine weitere, ebenfalls für die christliche Liturgie konstitutive, nämlich die zwischen dem Ritus und der Individualität. Ritus ist "institutionalisiertes Verhalten". Er "umfängt und trägt... mit feststehenden und bekannten Formen".(8) Er hat sprachliche und formale Elemente, die jedem Teilnehmer Identifikation erlauben, Elemente, die von großer Allgemeinheit sind und damit den Einzelnen entlasten, den hinter dem Ritus stehenden Sinn (die Vergegenwärtigung des Heils) selbst jeweils neu hervorbringen zu müssen. Darum stellt der Ritus das individuelle Schicksal als das allgemeine und gemeinsame dar, ohne jedoch das Individuelle darin aufgehen und verschwinden zu lassen. Im Kyrie ruft der Einzelne mit Einzelnen als Gemeinschaft das göttliche Erbarmen an. Im Credo bekenne "Ich" mit den anderen einzelnen den uns gemeinsamen Glauben. Ich werde durch meine Teilnahme an der Liturgie aufgenommen und eingeordnet in "übersubjektive Vollzüge, die gerade darin der Subjektivität ihren Raum lassen."(9) Damit ist der evangelische Gottesdienst als "Ausdruck und Darstellung unserer Beziehung auf den Grund unseres Lebens"(10) auch ein kommunikatives Spannungsfeld, das aus scheinbar drei divergierenden Elementen besteht, die aber nur zusammen und als Ganzes den Sinn evangelischen Gottesdienstes ergeben: 1. Der Gottesdienst soll helfen, uns zu Christen zu machen, unser Bewusstsein der Gottesbeziehung begründen, stärken und fördern. 2. Er ist persönliche Andacht. 3. Er ist als Fest und Feier ein Gemeinschaft stiftendes und Gemeinschaft zur Erfahrung bringendes Ereignis.(11) Liturgie ist somit die Darstellung des Allgemeinen und des Besonderen in ihrer spannungsvollen Einheit.

Auch hier ist Schnebels Missa brevis der musikalische Ausdruck dieser spannungsvollen Einheit. Das wird besonders deutlich im Sanctus und Agnus dei. Denn hier, im Sanctus, versammelt Schnebel die uns vorgegebenen liturgischen Sprachen, als wollte er die Geschichte des christlichen Ritus aus seiner jüdischen Wurzel, seiner griechischen und römischen Tradition uns vor Augen und Ohren führen. Und doch bleibt es eine ganz gegenwärtige, individuelle Aussage. Aber sie wird erst auf diesem sprachlichen, liturgischen Hintergrund als solche deutlich und bewusst.

Im Agnus dei wird diese Spannung von Ritus und Individualität ebenfalls deutlich in der von "liturgischem Zitat" oder Anklang und den individuell ausschweifenden Melismen, zwischen der lateinischen und der deutschen Sprache im zweiten und dritten Teil. Hier gehen einfache, fast archaische Rufe in völlig individuelle Melismen über. Im Dona nobis pacem gerät das rufende, singende Ich wie außer Rand und Band, artikuliert das Wort "Frieden" in Lateinisch, Englisch, Russisch, Hebräisch:

Im zweiten Teil des Agnus dei bleibt Schnebel ganz in der deutschen Sprache, verlässt sozusagen jede rituelle Erinnerung und ist in einer völlig individuellen und gegenwärtigen Sprachgestalt:

Übersubjektive, rituelle Bezüge geben, so erleben wir es in der Missa brevis, Raum für Subjektivität.

Kyrie und Gloria, Sanctus und Agnus Dei

Auch die einzelnen Teile der Liturgie ergeben ein Spannungsfeld eigener Art. Doch nur in dieser theologisch spannungsvollen Einheit sind sie ein Ganzes, eine Liturgie, eine Messe, Missa brevis. Sie bringt damit das Wesen und den Kern christlichen Glaubens zum Ausdruck, das Geheimnis des dreieinigen Gottes und des Sohnes, der wahrer Gott und wahrer Mensch zugleich ist. Sie hält in ihrem Vollzug beide Wirklichkeiten in spannungsvoller Einheit zusammen: Erde und Himmel, Tod und Leben, Zeit und Ewigkeit.

Das Kyrie: Erbarmungsruf aus uralten Zeiten, von den Naturvölkern über den Kaiserkult in die frühe Kirche und deren Liturgie als Wechselgesang geraten, bis heute in den komponierten Messen trinitarisch gedeutet. Es ist der Ruf der Erniedrigten und Beleidigten, der Leidenden und der Geknechteten. Aber im Widerspruch und in Spannung zu den Augusti, den glanzvollen Herrschern, vor denen in Staub liegend man deren Erbarmen erheischte, ist dieser Ruf in christlicher Liturgie der Ruf an einen "Herrn", der von gleicher Natur ist wie die, die ihn rufen, der in Übernahme der Gottesknechtsbilder des Propheten Jesaja "weder Gestalt noch Hoheit"(12) hatte. Es ist der drängende und bedrängende Ruf, einer aus der Tiefe an einen in der Tiefe, an einen dem Leiden und den Menschen nahen Gott.

Das Gloria: Es ist die große Doxologie, wie man sie nennt im Unterschied zur kleinen, mit der man akklamatorisch den Psalmen einen trinitarischen Schluss setzt. Sie macht die biblische Lobpreisung der Engel auf Bethlehem Fluren(13) zum Angelpunkt der Liturgie, die schon vor dem Jahr 150 mit den Wir-Lobpreisungen Gottes aus der morgenländischen Liturgie sich zusammenfügt: Laudamus te, benedicamus te, adoramus te, gorificamus te... bis hin zur trinitarischen Schlussform: Tu solus altissimus Jesu Christe cum sancto spiritu in gloria dei patris amen. Hier kommt überirdischer Lobpreis vom Himmel auf die Erde, strahlendes Licht, Goldgrund ins Schwarz und ins Dunkel der Welt. Radikaler kann der Unterschied zum Kyrie nicht sein.

Und doch gehören beide Rufe untrennbar zusammen, machen das Wesen christlicher Liturgie, christlichen Glaubens deutlich, ästhetisch erfahrbar. Ohne das Gloria wäre der Kyrieruf schlicht ein Ruf der Verzweiflung, ein schwarzer Fleck ohne einen Lichtpunkt am Ende. Ohne das Kyrie wäre das Gloria romantische Weltflucht in eine Welt des schönen goldenen Scheins. Nur zusammen sind sie, was sie sind: Ausdruck der Erlösungsbedürftigkeit des Menschen und Zusage seiner Erlösung allein aus göttlicher Gnade.

Das Sanctus: Es ist eine Anamnesis-Akklamation und als solche einer der ältesten Bestandteile unserer Messe. Jesaja 6, 3 und Matthäus 21,9 (Einzug in Jerusalem) liegen dieser Akklamation zugrunde, die als Trishagion vermutlich aus dem jüdischen Sch`ma übernommen wurde. Wie das Gloria ist das Sanctus eine Lobpreisung des dreieinigen Gottes, eine Vision des Zueinanders der drei göttlichen Personen, verbunden mit den verzückten Hosiannarufen derer, die im einziehenden Jesus von Nazaret den Messias erkennen. Wieder eine Musik, die wie auf Goldgrund eine andere Welt (ap)präsentiert.

Das Agnus dei: Es ist der letzte der fünf Gesänge des Ordinarium missae. Es fußt auf dem Evangeliumstext, auf den Ausruf Johannes des Täufers, Johannes 1,29. Das dreifache Miserere bzw. das Dona nobis pacem wurde später hinzugefügt. Es ist der Kommunionsgesang. Wir geraten noch einmal in die Sphäre des Kyrierufes. Der Blick fällt wieder in die Tiefe, ins Leiden, diesmal auf das stellvertretende, Sühne stiftende Leiden Jesu, des Lammes Gottes, der sich im Abendmahl in Gestalt von Brot und Wein den Menschen gibt.

Wieder haben wir einen radikalen Gegensatz vor uns, diesmal zum vorhergehenden Sanctus. Doch wie Kyrie und Gloria gehören auch das Sanctus und Agnus dei eng zusammen, sie bedingen sich gegenseitig. Ohne das Agnus dei wäre das Sanctus nur eine weltentrückte weltentrückende Vision. Ohne das Sanctus wäre das Agnus dei ein ohnmächtiges Rufen nach Erbarmen und Frieden. Nur zusammen sind sie, was sie sind: Ausdruck dessen, dass im Abendmahl, in der Eucharistie Gott sich erneut den Menschen zu ihrem Heil und Frieden hingibt.

Und so haben wir eine doppelte Spannung in der Messe, in der Liturgie selbst. Man könnte von einer sich überkreuzenden Spannung sprechen. Wie das Kyrie zum Gloria, so verhält sich das Agnus dei zum Sanctus, so dass sich im Verlauf der Messe Kyrie und Agnus dei und Gloria und Sanctus entsprechen.

Man könnte dieses formale Prinzip der Messe auch christologisch deuten, denn es ergibt sich durch diesen formalen Aufbau ein Chiasmus. Zwischen diesem als Schnittpunkt kommt das Credo zu stehen, das als Zentrum der Messe fungiert: Das Bekennen des christlichen Glaubens, das wiederum in seiner trinitarischen Form diese doppelte Spannung in sich trägt, nämlich die von Schöpfung und Erlösung und die von Erlösung und Heiligung.

Schnebels Missa brevis ist die Darstellung und Aussage dieses theologischen Spannungsfeldes, auch wenn ihre einzelnen Teile für sich selbständig sein können und es auch bleiben dürfen. Denn jeder dieser einzelnen Teile verweist auf sein Gegenüber und somit aufs Ganze.

Theologie und musikalische Ästhetik

Diesem geschichtlichen (Tradition und Gegenwart), kommunikativen (Ritus und Individualität) und theologischen Spannungsfeld (Kyrie-Gloria, Sanctus-Agnus dei) entspricht auch das musikalische. Es schlägt sich nieder im Gebrauch des kompositorischen Materials und in der kompositorischen Form der Missa brevis, wodurch in ihr Theologie und musikalische Ästhetik zu einer Einheit werden.

"Sprache - hin und zurück"(14), für Schnebel schon immer eine musikalische und kompositorische Herausforderung, bestimmt auch die Missa brevis. Der musikalische Charakter der Sprache, der ja auch die alte Liturgie und ihre Formeln prägte, wirkt ganz auf Schnebels Komposition ein. Weil Sprache "nicht bei sich selber bleiben, sondern weiter will", wählt Schnebel "entsprechend dem verkündigenden Charakter des Textes" Übersetzungen in die Sprachen, "wohinein hauptsächlich die biblischen Inhalts weitergelaufen waren."(15) Neben der deutschen Sprache tauchen die hebräische, griechische, lateinische und auch einmal die russische Sprache auf. Dazu treten gesprochene biblische Zitate, so dass Gesang ins Flüstern und Sprechen übergeht und umgekehrt. Und selbst das Singen muss sich - wie im Kyrie -aus Lauten, aus Seufzen und Heulen erst bilden. Dabei können das Sprechen (Flüstern) der Texte und das Singen (Vokale und Worte) äußerst schnell wechseln, wie an dieser Stelle des Gloria:

Oder der Gesang und das Sprechen geraten in eine Gleichzeitigkeit wie im Credo, wobei es zu verschiedenen Kombinationen der Ausdrucksformen kommen kann. Vor summenden Zweiklängen des Chores hat der Sprecher den ersten Artikel des Credo "scharf" zu flüstern, während er beim zweiten Artikel (normal) sprechen und im dritten mit "rauchiger Stimme", mezza voce die Worte artikulieren soll:

Neben diese Spannung von Sprechen und Singen oder zu ihr tritt die von Syllabik und Melismatik, die auch die Geschichte der Liturgie immer wieder bestimmte wie hier im Kyrie:

oder im Credo:

oder im Agnus dei:

Ein weiteres musikalisches Spannungsmerkmal ist das von Klang und Geräusch. Darum komponiert Schnebel zur Solostimme und zu den Stimmen von Sprecher, Chor, Solostimme im Credo ein Schlagzeug dazu, das die Solostimme (Mezzosopran) auch selbst spielen kann. Verschiedene Klang- und Geräuscherzeuger sind dazu nötig wie Sandblock, Chinesisches Becken, Tom-tom, Röhrenglocke, Papier (das knisterndes Geräusch wie Feuer macht), Steine (die gegeneinander gerieben werden), Crotales, Tempelblock, Schwirrholz, Wassergeräusch u.a. Der "reine", "schöne" liturgische Gesang erfährt damit eine geräuschhafte Brechung oder Ergänzung. Er wird kontrastiert. Er findet auf der Erde statt, und die sonst ausgeschlossenen, in der Kirche nicht nobilierten Instrumente erhalten bei Schnebel liturgische Weihe, wie schon bei den Choralvorspielen I/II, bei denen es solche "niederer Herkunft"(16) gibt:

Zu dieser kompositorischen Materialverarbeitung und den damit erzeugten musikalischen Spannungsfeldern tritt die von Schnebel in den einzelne Teilen der Missa gewählte Form. Zusammen ergibt dies die Einheit von Theologie und musikalischer Ästhetik.

So erhält das Kyrie ganz im Sinn seiner liturgischen Tradition eine trinitarische Form. Jedes der drei Teile wird nochmals dreigegliedert, so dass der 9-fache eleison-Ruf entsteht. Nur dass Schnebel dies auf eine komplexere Art macht als es die liturgischen Formeln vorgeben. Nach dem (schon erwähnten) "Einsingen" des Klagelautes zur liturgischen Form hin ertönt das erste "o Kyrie" fünfmal bevor das Eleison dreimal erklingt, um das sechste Kyrie als gesprochenes biblisches Zitat auftreten zu lassen. Das Christe eleison erscheint, bis auf ein das Klagen am Anfang erinnerndes "o", in der gewohnten einfachen und "schlichten" Form, während das folgende dreifache Kyrie wieder in den Klagelaut sich zurückzuverwandeln scheint und offen lässt, ob es nicht eigentlich so weitergehen sollte und müsste. Ein Ruf, der aus der Welt und ihren Leiden kommt, sich an den Kyrios wendet, ihn "trinitarisch bedrängend", um wieder Welt zu werden, weil dort noch kein Ende der Leiden abzusehen ist.

Das Gloria ist eines, das richtig gehört und gesungen oder gesprochen einem fast den Atem verschlägt, so unvorstellbar in seiner Botschaft. Es ist, als hätte Schnebel die Reaktion der diesen Lobgesang zuerst hörenden Hirten vor Augen gehabt: "Und sie kamen eilend"(17). Die schnelle Folge von Singen und Sprechen macht dies nicht nur der Sängerin bewusst. Sie teilt sich so als atemlos machende Eile auch den Hörern mit.

Das dreiteilige Credo, die Mitte der Missa, artikuliert fast in der rhythmischen Sprache von Rap (eine - liturgische - Kunst, die Schnebel von Komponisten als viel zu wenig beachtet und von ihnen aufgenommen findet) die drei Artikel und die drei göttlichen Personen, eingeleitet durch ein "...ja-ja-ja", das melismatische Halleluja nach dem ersten beiden Artikeln vorwegnehmend samt dem "Amen" am Ende, um mit dem "-ja" wie dieses als eine Bestätigung zu wirken. Die jeweils gleiche Form dieser Artikel wird jedoch jeweils anders nuanciert, durch den Sprecher, das Schlagzeug, den Chor und die Stimme: Der eine Gott und die Verschiedenheit der Personen in ihrer ökonomischen Trinität.

Das Sanctus komponiert Schnebel in einer geschichts-offenen Form. Herkommend vom fernen prophetisch gehörten "Kadosch" bis hin zum "Hosianna in der Höhe" und einem dreifachen a-Laut:

wendet es den Blick nach vorn, in eine Welt und eine Zeit der Ewigkeit, wenn wir vollends einstimmen werden in diesen Gesang der himmlischen Heerscharen ...

Das Agnus dei als fünfter und letzter Teil der Missa brevis schließt wie das beginnende Kyrie dreigliedrig, komponiert das Miserere, das "Erbarm dich unser" aus zu einem wellenförmigen "dona nobis pacem" hin, zum "Schalom". Das ausklingende Becken danach klingt wie eine Verheißung: "Ja, so wird es werden, so wird es sein, so ist es schon jetzt ..."

Syntagma: Neue Musik in einer Liturgie der Gemenge und der Gemische

"Innovationen werden plausibel, wenn ihre Funktion im Syntagma des dramaturgischen Entfaltungs- und Umfeld stimmt."(18) Diese Stimmigkeit lässt sich für Schnebels Missa brevis als Ganzes sagen. Freilich bewirkt dieses Ganze der Messe wieder eine Spannung zu all den anderen Elementen eines Gottesdienstes, in dem diese Missa erklingt. Denn der weitere Kontext von Musik (Chor, Orgel, Instrumente), Chorälen, Lesungen, Gebeten, Voten und Akklamationsformeln wird durch diese Missa betroffen. Sie stellt die Frage nach dem Syntagma,(19) dem Sinnganzen einer Liturgie und der ästhetischen Stimmigkeit derselben. In einer Zeit populistischer Beliebigkeit und ihrer potpourrihaften liturgischen (Abfall)Produkte könnte Schnebels Missa kathartische Wirkung haben. Denn von ihr könnte das ausgehen, was Zender erwartet, eine "Neudefinition der Zeichen und Grundformen der Liturgie", welche freilich ihre Spannungsfelder nicht aufhebt, sondern gemäß der syntagmatischen Regeln diese erzeugt. Was Zender sich nur durch eine Radikalkur, nämlich "die Reduktion aller 'künstlerischen' Aktivitäten auf nahezu Null"(20) vorstellen kann, erreicht Schnebel durch "Integration"(21). In diesem Sinn wäre die Integration der Missa brevis in eine "Liturgie der Gemenge und der Gemische", wie ich sie als Übergangsphänomen und Experimentierfeld forderte(22), ein läuternder Akt, der die Liturgie evangelischer Gottesdienste zu einem vielfältigen und lebendigen, ästhetisch und liturgisch stimmigen Spannungsfeld und damit auch wieder glaubwürdig werden lässt.

Anmerkungen
  1. Hans Zender: Happy New Ears. Das Abenteuer, Musik zu hören. Freiburg, Basel, Wien 1991, S.97
  2. Zender a.a.O. S. 96
  3. Vgl Rainer Volp: Liturgik. Die Kunst, Gott zu feiern. Gütersloh 1994. Bd 2, S. 1014
  4. Dieter Schnebel: Die Tradition des Fortschritts und der Fortschritt der Tradition. Ein Erfahrungsbericht. in: Anschläge - Ausschläge. Texte zur Neuen Musik. München Wien 1993, S. 113
  5. Johann Baptist Metz: Thesen zur Präsenz der Kirche in der Gesellschaft in: Freiheit in Gesellschaft. Freiburg. Basel. Wien 1971, S.7f
  6. Jürgen Ebach: Ursprung und Ziel. Erinnerte Zukunft und erhoffte Vergangenheit. Biblische Exegesen. Reflexionen. Geschichten. Neukirchen-Vluyn 1986, S.11
  7. Niklas Luhmann: Die Religion der Gesellschaft. Frankfurt 2000, S. 23
  8. Dietrich Rössler: Die Vernunft der Religion. München 1976, S. 31ff
  9. Dietrich Rössler: Grundriss der Praktischen Theologie. Berlin. New York. 1986, S. 392
  10. Dietrich Rössler: a.a.O., S. 391
  11. vgl Rössler a.a.O. S. 391ff
  12. Jesaja 53,3ff
  13. Lukas 2,14
  14. Dieter Schnebel: Denkbare Musik. Schriften 1952 - 1972. Köln 1972, S. 402
  15. a.a.O. S. 409
  16. Schnebel: Denkbare Musik, S. 439
  17. Lk 2,16
  18. Rainer Volp: Liturgik: S. 1016
  19. Volp: a.a.O. S. 1016f
  20. Zender: a.a.o. S. 99
  21. Eine solche soll beim Gottesdienst der Kasseler Musiktage 2002 zum Thema "Stimme" mit der UA der vollständigen Missa brevis erprobt werden.
  22. Klaus Röhring: Sermo voci copulatus - Wie die Kirche mit neuer Musik predigen und feiern kann. In: Neue Musik in der Kirche IV Internationaler Kongress für Kirchenmusik 1997 in der Kartause Ittingen. Basel 1999, S. 81ff

© Klaus Röhring 2001
Magazin für Theologie und Ästhetik 10/2001
https://www.theomag.de/10/kr1.htm