Das katoptrische Universum


Heft 100 | Home | Heft 1-98 | Newsletter | Impressum und Datenschutz

Erinnerung im Wandel

Kirchengebäude als Spiegel von Geschichte

Andreas Mertin

„Nicht jedes Gebäude hat eine Geschichte. Nur diejenigen haben im Grunde eine solche, welche entweder sehr merkwürdige Umwandelungen zum Dienste der verschiedenartigsten Zwecke erfuhren, oder an welche sich merkwürdige geschichtliche Erinnerungen, wichtige Begegnisse, entscheidende Thatsachen oder bedeutende Veränderungen für ein Land, einen Ort, einen gesellschaftlichen Verein anknüpfen.“[1]

Mit diesen Worten eröffnet 1848 Salomon Vögelin eine Schrift über ein historisches Kirchengebäude, das uns im Folgenden noch genauer beschäftigen wird. Nun ist bereits dieser erste Satz etwas paradox formuliert: Nicht jedes Gebäude hat eine Geschichte. Doch, möchte man entgegnen, jedes Gebäude wird von Menschen mit Intentionen entworfen, von Menschen bewohnt oder genutzt und damit geradezu automatisch mit Erinnerungen, Geschichten und Gefühlen verbunden. Das gilt selbst noch für den kärgsten Raum und die kleinste Hütte.

Aber wir wissen natürlich, was Salomon Vögelin gemeint hat. Der Satz Nicht jedes Gebäude hat eine Geschichte spielt mit den Bedeutungsvariationen des Wortes Geschichte. Sicher, man kann aus allem Geschichte machen, aber nicht alles verdient es, dazu gemacht zu werden. Oder, um eine bissige Bemerkung des Soziologen Niklas Luhmann aufzugreifen, "nicht 'jeder Fabrikschlot aus Ostwestfalen' [verdient] die Erhebung in den Rang eines nationalen Kunstdenkmals."[2] Wenn alles zur Geschichte erklärt wird, ist nichts mehr Geschichte.

Salomon Vögelin präzisiert seinen einleitenden Satz nun dahingehend, dass insbesondere jene Gebäude es verdienten, geschichts­trächtig genannt zu werden, die „merkwürdige Umwandelungen“ und das auch noch „zum Dienste der verschiedenartigsten Zwecke“ erfahren haben. Nebenbei gesagt: Das werden jene Kirchenleitungen in Deutschland gerne hören, die gerade über die Umnutzung von Kirchengebäuden nachdenken müssen und auf den Widerstand ihrer Gemeinden stoßen. Auch Umnutzung kann also geschichtsträchtig sein, ja manche „merkwürdige Umwandelung“ kann unter bestimmten Voraussetzungen überhaupt erst die Bedingung dafür sein, dass etwas geschichts­trächtig wird.

Die weiteren Kriterien, die Salomon Vögelin 1848 für die Bedeutsamkeit herausragender Gebäude nennt, sind „merkwürdige geschichtliche Erinnerungen, wichtige Begegnisse und nicht zuletzt Veränderungen für ein Land, einen Ort, einen gesellschaftlichen Verein.“ Das leuchtet ein, denn sofort fallen uns Orte und Gebäude ein, die dauerhaft mit Begegnungen und sich anschließenden Veränderungen für ein Land oder sogar für einen Kontinent verbunden sind.

Wer ist nun dieser Salomon Vögelin? Er ist ein Pfarrerssohn, selbst reformierter Pfarrer, Kirchenrat in Zürich, Archäologe, Lokalhistoriker und Publizist. Er lebte von 1774 bis 1849. Er war ein begeisternder Prediger, ein liturgisch ambitionierter Pfarrer und vor allem war er ein kunst- und kulturinteressierter Mensch und hat zahlreiche Schriften über Zürich und seine Gebäude verfasst.

Das einleitende Zitat stammt aus einer dieser Schriften, genauer müsste man sagen aus einer Schriftenreihe über die „Geschichte der Wasserkirche und der Stadtbibliothek in Zürich“. Diese Wasserkirche, so schreibt Vögelin, gehöre ganz vorzüglich in die Klasse jener Gebäude, die als geschichtsträchtig bezeichnet werden können.

„Kaum eines oder vielmehr keines der alten Gebäude Zürichs hat so verschiedene und wichtige Perioden seit seiner Existenz aufzuweisen, welche sich zugleich als Epochen unserer Kulturgeschichte bezeichnen lassen, wie diese an sich unbedeutende Kapelle.“[3]

Und dieser Satz gilt, was Salomon Vögelin zu seiner Zeit natürlich noch nicht wissen konnte, bis in die Gegenwart des 21. Jahrhunderts, denn nach 1848 geht die bewegte Geschichte dieses Gebäudes weiter und schlägt noch einmal eine historische Volte.[4]

Die Entwicklung der Wasserkirche in Zürich interessiert mich vor allem deshalb, weil ihre wechselhafte Geschichte über nun 1200 Jahre immer neue und zum Teil extrem gegensätzliche Bindungen und Erinnerungen hervorgerufen hat.

  • Von den ersten ins Vage verlaufenden Daten im 8. Jahrhundert, die diese Kirche mit Karl dem Großen in Verbindung bringen ...
  • bis zur Zeit der Vorreformation, in der die Kirche mit Ablassgeldern neu errichtet wird;
  • von den reformatorischen Umwälzungen, die diesen „papistischen Kult- und Götzenanbetungsort“ in einem Götzenkrieg zu zerstören trachteten
  • über die merkantile Nutzung des Ortes
  • bis zur bürgerlichen Ingebrauchnahme
  • und schließlich zur religiösen Neunutzung in der Gegenwart.

Immer war den Menschen dieses Gebäude entweder heilig, oder eben gerade deshalb unheilig, nützlich oder wegen seiner Nutzung unangemessen profaniert, kulturell bedeutsam oder schon jenseits der Grenze eines kulturellen Kultortes.

Wenn wir also fragen: Was ist uns heilig? oder etwas abgemildert: Was ist für uns bedeutsam? dann müssen wir immer zurückfragen: zu welcher Zeit, in welcher Funktion, im Blick auf welches Gefühl? Und diesen Wandel der Gefühle und der Bindungen, den kann man gut am Beispiel der Wasserkirche verfolgen, nicht zuletzt deshalb, weil sich über diese ganze Zeit hinweg immer wieder Zeitgenossen über das Gebäude und seine Bedeutung für die jeweilige Zeit geäußert haben.

Darüber hinaus gibt es natürlich eine höchst reizvolle Parallele zur Johannes a Lasco Bibliothek in Emden. Aber das werden Sie anhand der Projektion einiger Kunstdrucktafeln selber erkennen, die ich Ihnen noch zeigen werde. Gestoßen bin ich auf mein Beispiel, weil in einem kunsthistorischen Grundlagenwerk darauf hingewiesen wurde, dass eines der ersten Kunstmuseen, die öffentlich zugänglich waren, eben nicht das Fridericianum in Kassel oder der Louvre in Paris, sondern seit 1629 eine Kirche in Zürich sei.[5] Dem wollte ich nachgehen.

Ich begreife das Kirchengebäude und seine Geschichte sozusagen als eine Zwiebel der Erinnerung, bei der sich nach und nach immer mehr Schichten freilegen bzw. entdecken lassen. Ich beabsichtige im Folgenden keine Rekonstruktion der Geschichte der Wasserkirche, sondern interessiere mich für die Emotionen und Gedanken, die die Menschen, wenn man den schriftlichen Überlieferungen folgt, mit dem Gebäude verbinden. 

Erinnerung 1:  Der mythische Kern

Der mythische Kern der Kirche[6] rankt sich um Felix und Regula, die beiden Stadtheiligen von Zürich. Ihre Legende ist erstmals in der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts schriftlich fixiert worden[7] und erzählt die Geschichte zweier Mitglieder der Thebäischen Legion, die wegen ihres christlichen Glaubens nach Zürich flüchteten und dort von kaiserlichen Häschern gefangen und auf einer kleinen Insel im örtlichen Fluss Limmat enthauptet wurden. Einer späteren Erweiterung der Legende nach schritten die Getöteten danach mit ihren Köpfen in der Hand selbst 40 Schritte den Berg hinauf zu ihrer Grabstätte.

Der Hinrichtungsort soll nun jene Insel im Limmat gewesen sein, auf der später die Wasserkirche errichtet wurde, der Bestattungsort jener, an dem heute das Großmünster steht. Dort werden dann auch die ersten durch die Märtyrer bewirkten Wunder geschildert.

Nach und nach verbindet sich eine spezifische Volksfrömmigkeit mit dem Ort der Hinrichtung, nicht zuletzt deshalb, weil sich dort ein Findling befindet, auf dem die Enthauptung der Märtyrer vollzogen worden sein soll. 1480 schreibt der Augustinerchorherr Martin von Bartenstein dazu: «Do machtent die christen menschen eyn cappell an der statt vff dem steyn über das blut, das sy vergossen hatten.» Eine spätere Erzählung führt diesen ersten Kapellenbau auf eine durch ein Wunder bewirkte Anordnung Karls des Großen zurück.[8] Letztlich wird hier der Rahmen für das konstruiert,  was Menschen in vorreformatorischen Zeiten als heiligen Ort erfahren haben, also ein Bruch in der Homogenität des Raumes, für den dann der Kirchenbau ein Bild darstellen soll. Für die Menschen war dort, wo der Findling zu sehen war, ein Bruch in der Homogenität des Raumes[9], eine besondere Stelle, die sie nach und nach in ihrer Erinnerung als wirkungsmächtigen, heilsamen und daher heiligen Ort ansahen.

Erinnerung 2: Der Ort der Wunder

An die Stelle des ersten romanischen Gebäudes muss irgendwann nach 1280 ein frühgotischer Bau mit zwei Altären getreten sein, der somit auch vom Erfolg einer nicht zuletzt vom örtlichen Stift betriebenen regionalen Verortung des Heiligen kündet. Martin von Bartenstein schreibt 1480 rückblickend über die religiöse Wirksamkeit der Wasserkirche: «Vnd geschahen do alle zit on underlassung grosse wunder vnd zeichen». Ehrlicherweise muss man zugeben, dass diese Wunder und Zeichen aber erst richtig einzusetzen begannen, als die Wasserkirche in den Besitz des Stifts übergegangen war. Und da die Menschen diesen Ort und das auf ihm stehende Gebäude aber nun als wirkungsmächtig ansahen, spendeten sie für die Kirche so viel, „dass die Zahl der Altäre wie der sie betreuenden Kapläne sich bis zum Ende des fünfzehnten Jahrhunderts auf sechs vermehrte.“[10] Zwei davon waren den Stadtheiligen gewidmet, einer den heiligen drei Königen, einer  Stephanus und Laurentius, einer dem heiligen Antonius und einer dem Heiligen Kreuz.[11]

Eine kleine Kapelle zwischen zwei Großkirchen, die allein sechs Altäre samt Kaplänen hatte! Zu diesem Erfolg trug sicher nicht zuletzt eine geschickte Inszenierung der Erinnerungskultur bei, durch die sich ein Miniatur- Pilgerpfad zwischen dem Fraumünster in Zürich als Reliquienort, der Wasserkirche als Hinrichtungsstätte und dem Großmünster als Grablege der Stadtheiligen ergab. Erinnerung will kultiviert und inszeniert werden. Dadurch wurde die Wasserkirche zur „hochheilige(n) Kapelle, welche der Grund und Ursprung des Heils, ja des Daseins unserer ganzen Stadt geworden“ – wie eine Verlautbarung von 1274 bekanntgab.[12] Aus den Chroniken der Stadt Zürich ergibt sich, dass 1418 „unter einem großen Gedränge zuschauenden Volkes ‚arme Frauen in der Wasserkilchen‘ tanzeten“, also einen Veitstanz aufführten.[13] Die Stadtverwaltung trug ihren Teil zur Bedeutungssteigerung bei, indem sie öffentliche Prozesse unter einem Vordach der Wasserkirche abhielt und, wie es damals für Kirchen allgemein üblich war, einige städtische Veranstaltungen in die Kirche verlegte. So wurde die kleine Kapelle zur populärsten Kirche Zürichs, hier schlug das Herz der Stadt.


Zeichnung von Franz Hegi, 1845

Erinnerung 3: Der Bildersturm

Als Zwingli 1519 in Zürich tätig wurde und reformatorisches Gedankengut verbreitete und sich 1523 überdies konkret gegen die Bilder aussprach, musste die Wasserkirche geradezu als Inbegriff dessen gelten, wogegen er anging. Hier konzentrierte sich die populäre Heiligenanbetung und hier wurde Bilderkult betrieben, so dass die Kirche in den Augen der Reformatoren als wahre „Götzenkirche“ erschien. Heinrich Bullinger hat in seiner Reformationsgeschichte von 1564 unter dem Stichwort „Götzenkrieg“ eine interessante Beschreibung der nun folgenden Vorgänge gegeben.

Als am Anfang dieses Götzenkrieges in der Stadt Zürich etliche anfingen, aus den Kirchen Zürichs die Bilder zu reißen, befahl ein Rat, dass niemand Bilder aus den Kirchen entfernen solle, es sei denn, sie gehörten ihm. Durch dieses Mittel kamen viele Bilder aus den Kirchen. Am 20. Juni wurden angefordert die 5 Leutpriester ... sowie einer von jeder Zunft ... und dazu noch der Büro- und Werkmeister der Stadt, mit Schmieden, Schlossern, Steinmetzen, Zimmerleuten und Knechten. Die sind in die Kirchen gegangen, haben sie von innen verschlossen und alle Bilder nicht ohne Aufwand hinweg getan. Diese sind mit der Zeit alle zerbrochen, verbrannt und zunichte gemacht worden. ... Und innerhalb von 13 Tagen waren alle Kirchen in der Stadt  geräumt. Da sind köstliche Werke der Malerei und Bildschnitzerei, insbesondere eine schöne köstliche Tafel in der Wasserkirche, und andere köstliche und schöne Werke zerschlagen worden. Das haben die Abergläubigen sehr bedauert, die Rechtgläubigen aber für ein großen fröhlichen Gottesdienst gehalten.[14]

Das Ergebnis des Bildersturms hat drei Jahrhunderte später Franz Hegi auf einer Kupfertafel festgehalten bzw. imaginiert: eine leere sonnendurchflutete Kirche, an der nur auffällt, dass vor dem Altar der alte Schacht zum Findling, also die Erinnerung an den Ursprungs-Mythos sorgsam freigehalten wurde. Ansonsten blicken wir hier auf einen Kirchenraum, der von vielen Menschen weltweit als typisch reformierter Kirchenraum erinnert würde: ganz reduziert, ohne Bilder und Figurenschmuck. In Wirklichkeit wurde die Wasserkirche aber gar nicht zum reformierten Gottesdienst genutzt, sondern – eben weil sie als Götzenkirche erinnert wurde - stillgelegt.


Zeichnung von Franz Hegi, 1845

Erinnerung 4: Der Handelsplatz

Das führt uns zur vierten Erinnerung, die mit diesem Gebäude verknüpft ist und die man als ihre merkantile Inbesitznahme bezeichnen könnte. Hatte bis dahin immer schon ein gewisser Handel unter dem hölzernen Vordach der Wasserkirche stattgefunden, so wurde nun nach zwanzig Jahren des Leerstandes um 1545 eine Markhalle in der Kirche eingerichtet. Das war für die Händler so ertragreich, dass sie 1581 in die Kirche zwei Zwischenböden einzogen, um das große Raumvolumen besser für zusätzliche Warenlager nutzen zu können. Fast alle alten Kirchen, die wir kennen, haben im Laufe ihrer Geschichte zeitweise einmal ein derartiges Schicksal erlitten, aber hier war der Absturz von der ‚Heiligen Kapelle‘ zur Markthalle doch sehr groß. Unser Zeuge, der reformierte Pfarrer und Lokalhistoriker Salomon Vögelin fasst das so in Worte:

„Das Schicksal unserer Kapelle macht somit auch eine wichtige Epoche unserer Handelsverhältnisse anschaulich. Aber daß sie, ursprünglich für die höchsten geistigen Zwecke erbaut, nun den rein materiellen Interessen dienstbar gemacht; daß sie aus einem ,,Gotteshause" zu einem Lagerhause für Kaufmannsgut herabgewürdigt, und dazu ihre architektonische Schönheit traurig verunstaltet wurde; daß in ihren untern Räumen, wo einst stille feierliche Andacht waltete, jetzt das laute verworrene Geschrei der Käufer- und Verkäufer-Stimmen ertönte, oben aber, von wo herab sonst die hellen und erhebenden Töne der Orgel erklangen, nun dumpfes Gepolter von hin und her geworfenen Waarenballen das Ohr erschütterte und beleidigte – das war der Wasserkirche tiefste Erniedrigung!“[15]

Man muss auf die Ambivalenz dieser Beschreibung achten, die geradezu un-reformierten Zwischentöne, die Vögelin hier anschlägt. Zum einen ist er ganz mit der Zeit, wenn er den erfolgreichen Handel beschreibt, der in Zürich stattfindet. Dann aber schlägt sein Entsetzen über die Differenz zwischen ursprünglichem Zweck des Gebäudes und der späteren Nutzung durch. Auf der einen Seite „höchste geistige Zwecke“, auf der anderen „rein materielle Interessen“. Auf der einen Seite „architektonische Schönheit“, auf der anderen Seite funktionalistische Verunstaltung. Auf der einen Seite „stille feierliche Andacht“, auf der anderen Seite „lautes verworrenes Geschrei“. Auf der einen Seite „die hellen und erhebenden Töne der Orgel“, auf der anderen Seite das „dumpfe Gepolter“ das „das Ohr erschüttert“. Besser hätte auch ein katholischer Kritiker die wahrnehmbaren Folgen der Reformation für das Gebäude nicht auf den Begriff bringen können. Offenkundig geht Vögelin davon aus, dass Kirchengebäude mehr als nur räumliche Umfassung des Gottesdienstes sind, dass sie einen Mehrwert besitzen, der durch profanen Gebrauch minimiert werden kann. Wenn es aber schon einem Reformierten in seiner Erinnerung an die ursprüngliche Funktion dieser Kirche so geht, wie mussten dann Katholiken von diesem „Frevel“ denken?

Erinnerung 5: Das Ärgernis

Die Wasserkirche, und damit komme ich zur fünften Erinnerung, war vor allem für die zahlreichen durchreisenden katholischen Pilger auf dem Weg zum Kloster Einsiedeln bzw. weiter nach Santiago de Compostela ein Problem. Sie machten hier Rast und stießen auf ein, Gebäude, das der äußeren Form nach eine Kirche war, im Inneren aber eine Markthalle beherbergte. Da musste man ja notwendig an Johannes 2, 16 denken: Macht meines Vaters Haus nicht zum Kaufhaus! War das repräsentativ für die Praxis der Reformierten?

Der reformierte Pfarrer und Antistes Johann Jakob Breitinger schreibt deshalb 1643 an den Rat der Stadt Zürich über die Wasserkirche:

Euch den alten Unsren Gnädigen Herren ist zum Theil selbs, zum Theil aus Euerer Lobl. Voreltern Mund gar unverborgen, wie daß gleich von Anfang unserer Christlichen Reformation und hernach allen frommen verstendigen vatterlendischen Herzen sehr widrig gynn, daß die jetzig Wasserkilchen zwaren gleich gesehen einer Kilchen, und der außeren Form nach ein Kilchen verbliben, darneben in alweg mißbrucht, entgestet und zum Kouffhauß gemachet worden. Darum vil Ehrenleuth gewünscht, daß gleich anfangs der Reformation die Wasserkilchen wer uf den Boden geschliffen, oder in andere Gestalt were veeendert worden, zur Abschaffung der Ergenuß der Papisten.«[16]

Es wird nicht ganz deutlich, was den obersten Protestanten Zürichs mehr ärgert: die Nutzung der Kirche als Markthalle und Warenlager (die ihm als Reformiertem ja eigentlich gleich sein könnte) oder der verächtliche Blick der „Papisten“ und der Bildungsbürger über den Umstand, dass Reformierte ein früheres Kulturgut so zuschanden kommen ließen. Vermutlich war es letzteres.

Breitingers Argumentation hat übrigens eine interessante Parallele in Martin Luthers Argument zum Kirchenbau in seiner Kirchenpostille von 1522. Da sagt Luther zu Zweck und Nutzen des Kirchenbaus und den Folgen, wenn dieser nicht mehr vorliegt:

Denn keyn ander ursach ist kirchenn zu bawenn, ßo yhe eyn ursach ist, denn nur, die Christen mugen tzusammenkomen, betten, predigt horen und sacrament emphahen. Und wo dieselb ursach auffhoret, sollt man dieselben Kirchen abbrechen, wie man allen andernn hewßeern thutt, wenn sie nymmer nütz sind.[17]

Kirchenpädagogisch gesprochen sind sich also Luther und Breitinger einig: Bevor es zu einer falschen Nutzung kommt, sollte man ein Kirchengebäude lieber abreißen, vor allem damit es nicht zu Missverständnissen kommt.

Erinnerung 6: Die Kulturrevolution

Das Unbehagen am Status Quo müssen aber einige Zürcher auch schon in den Jahrzehnten zuvor mit ihm geteilt haben. Jedenfalls kommt es in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts im Blick auf die Wasserkirche faktisch zu einer Art Kulturrevolution, meiner sechsten Erinnerung.[18] 1629 kommen in Zürich vier junge Wissenschaftler aus begüterten Familien zusammen und sprechen in einer abendlichen Runde darüber, dass eine Kulturstadt wie Zürich eigentlich so etwas wie eine jedermann zugängliche öffentliche Bibliothek brauche, ein Magazin des geteilten Wissens sozusagen. Ein Magazin, das ausgestattet werden müsse mit Bücher- und Sachspenden der Mitbürger. Ihr Mentor Professor Heinrich Ulrich bestätigt sie in ihrem Anliegen, und so beginnen eifrig sie mit ihrer Sammlung. Der erste Beitrag zur Bibliothek war übrigen die 2-bändige illustrierte Koberger Bibel von 1483 mit 109 Holzschnitten. Und die jungen Männer sind so erfolgreich, dass in kürzester Zeit ihr privater Raum für die Lagerung der Bücher zu klein wird. Und daher beantragen sie 1631 beim Rat der Stadt Zürich, ihnen die oberen Räume in der Wasserkirche „zur bequemen und öffentlichen Aufstellung“ ihrer Bibliothek zu Verfügung zu stellen. Und der Rat sagt nicht nur zu, sondern finanziert auch den notwendigen Umbau. Die Wasserkirche teilt sich nun in drei Ebenen: unten die Markthalle, darüber die eigentliche Bibliothek und auf der dritten Ebene eine Art Kunst- und Raritätenkammer, die vor allem Münzen und Medaillen, naturwissenschaftliche Geräte, aber auch Porträts und andere Bilder enthält. Diese öffentliche Bürger-Bibliothek mit angeschlossenem Museum ist sicher etwas Einzigartiges in Europa, wenn sie auch dem Trend der Zeit entsprang, ehemals private Sammlungen der Allgemeinheit zugänglich zu machen.[19] In der öffentlichen Wahrnehmung und damit auch in der Erinnerung wurde die Wasserkirche nun zunehmend mit ihrem Nutzen als Bibliothek und Museum verbunden. Sie wurde damit vom einstigen Kultort über den zwischenzeitlichen Handelsort schließlich zum Kultur­ort. Jeder dieser Orte hat aber seine eigene Form der Erinnerung und das wirkt auch nach dem Ende der jeweiligen Periode weiter fort. Die Frage, die sich als nächste stellte, war, in welchem Verhältnis der frühere Kultort zum jetzigen Kulturort stand.


Zeichnung von Franz Hegi, 1845

Erinnerung 7: Die Macht des Kirchenraums

Was macht ein Raum mit seinen Inhalten? Dürfen Bilder wieder an einen Ort gebracht werden, der doch Erinnerungsort reformatorischen Bildersturms ist? Dieser Frage gilt die siebte Erinnerung. Der erwähnte Antistes Breitinger, der den Aufbau der Bibliothek stark förderte, hatte gegenüber dem Ausbau der Kunstkammer dagegen starke Bedenken. Bücher schön und gut, aber Bilder als Ausstellungsstücke in einer stillgelegten Kirche? Er mahnte zunächst verhalten an ...

„... daß, um allbereits [hervor]bIickenden Mißbräuchen zu begegnen, vorderst Maß gehalten werde mit Aufstellung von Conterfaiten fremder und dazu solcher Personen, derenthalben keine Gewißheit, daß sie unserer wahren christlichen Confession recht zugethan oder günstig gewesen seyend ...; deßnahen daß an diesem Orte einige musikalische Instrumente, wie die Narren haben, oder unter was Schein man sie aufbrächte, nicht geduIdet werden, da man solcher Dinge weder für den obern noch untern Theil der Kirche bedürfe, wohl aber dieselben allerhand Verdacht und Gedanken sowohl bei unsern Nachbarn als bei unsern eigenen Leuten verursachen müßten, was alles besser vermieden bliebe.“[20]

Da er sich nicht durchsetzen konnte, konkretisiert er seine Einwände: insbesondere eine der Bibliothek gestiftete kleine Orgel ärgert ihn. Auf ihr wurde natürlich auch gespielt, so dass nach außen hin der akustische Eindruck entstand, in Zürich würde die Reformation quasi kirchenmusikalisch rückgängig gemacht. Auch einige der ausgestellten Bilder seien unerträglich, so „daß er ein Stück solcher Abgötterei mit eigener Hand abgerissen und zu nichte gemacht“ habe.[21] Ebenso inkriminierte er die als Kulturgut ausgestellten Reliquienkästchen. Es bestünde die Gefahr, dass aus der Bibliotheca eine Iconotheca werde, was im Blick auf die frühere Geschichte des Gebäudes höchst problematisch sei. Er schreibt an die Leiter der Bibliothek, worum es ihm geht:

Aussert den Kilchen zieret Eure Häuser mit ehrbaren Kunststücken Euers Gefallens. Dulden wir doch die Bildnisse des Mahomets, des Pabsts, des Türken. – Aber, liebe Herren! Hüthet Euch vor allem Schein des Bösen, und zweifelt nit, daß das ganze Pabstthum einen solchen Anfang genommen von ... Dingen, die Niemand für Sünd gehalten oder denken können, daß mit der Zeit das Christenthum gerathen würde in ein solch Heidenthum.[22]

Bei aller Liberalität im privaten Umgang mit Bildern, so gilt das nicht für jeden Kontext. Das alte Kirchengebäude ist es, das seine Besorgnis erregt. Es könnte sein, so sein Einwand, dass der Raum wirkungsmächtiger ist als man dachte und das Gebäude unter der Hand beginnt, die darin ausgestellten Gegenstände zu heiligen. Erinnerung hat eine gefährliche Eigendynamik. Und die musste unter Kontrolle der reformierten Theologie bleiben.


Zeichnung von Franz Hegi, 1845

Erinnerung 8: Der Erfolg des Kulturmodells

Die Einwände von Antistes Breitinger vermochten die Bibliothekare und die Zürcher Öffentlichkeit nicht zu überzeugen, allzu sehr erfolgreich war das Modell einer in eine frühere Kirche eingebauten Bibliothek mit angeschlossener Kunstkammer und später sogar mit einem Vortragssaal. Die achte Erinnerung gilt daher den Gründen für den Erfolg dieses Kulturmodells. Letztlich besagt das Handeln der Bibliothekare ja, dass der Gewinn des räumlichen Rahmens höher zu schätzen sei als die Gefahr der fortdauernden Sakralisierung. Sie wollen vom Sakralraum den kulturellen Mehrwert abschöpfen ohne des Preis des Sakralismus zu bezahlen. Die Frage ist, ob das funktioniert. Zumindest aber ist das Modell einer Kirche, in die man geht, nicht um zu beten oder Andacht zu halten, sondern um zu lesen und mit anderen darüber zu debattieren, so erfolgreich, dass der Bibliothek immer mehr Bücher und Gelder zufließen. Der neu eingerichtete Vortragssaal wird nun dringend für die Bücher benötigt. Das führt zu einem kompletten Umbau der Inneneinrichtung, der nun auf der einen Seiten den kirchlichen Charakter wieder stärker hervorhebt, insofern er das ganze Kirchenschiff wieder sichtbar macht, auf der anderen Seite dem Ganzen aber eine ästhetische Anmutung gibt, wie wir sie von den etwas früher entstandenen Tempeln der Hugenotten kennen [Abb. oben: Temple de Paradis in Lyon (1564); unten: Temple in Charenton (1623)]. Universitätsflair und kirchlicher Versammlungsraum verschmelzen. Vielleicht wird die Wasserkirche erst mit diesem Umbau zu einer mehrstöckigen Bibliothek zu einem wirklichen reformierten Versammlungsraum. Damit wäre die Metamorphose vollzogen und der ursprüngliche Kultcharakter des Raumes endgültig verabschiedet, um nun als Tempel der Wissenschaft zu dienen:

Sie stand nun auch in ihrem Innern wiederum da als ein Tempel, zwar nicht mehr zur Verehrung jener Märtyrer oder Schutzheiligen, zu deren Ehren sie einst erbaut ward, wohl aber als ein höherer – als ein Tempel der Weisheit und Wissenschaft, wie schon die Alten die Bibliotheken nannten, auf dessen innerer einfacher Ausschmückung das Auge mit Wohlgefallen ruhte ... Fortdauernd gewährt Fremden und Einheimischen beim Eintritt in das Innere dieses Tempels die Weite und Höhe des Raumes, die beiden hohen auf Säulen ruhenden Galerien, die Bekleidung der Wände mit Büchern bis zu oberst hinauf ...., die überall entgegenkommende Ordnung, Reinlichkeit, Bequemlichkeit einen überraschenden Anblick und erfüllte viele mit angenehmen Erstaunen.“[23]


Zeichnung von Franz Hegi, 1845

Zumindest bis ins 20. Jahrhundert hat das gerade Geschilderte seinen Bestand. Ein altes Foto aus dem Jahr 1900 zeigt noch einmal den Raumeindruck von oben. Wir erkennen nicht nur die Fülle an Folianten in den Regalen und auf den Brüstungen der Emporen, sondern auch zahlreiche Gelehrtenbüsten im unteren Raum und großformatige Gemälde über den Büchern in der dritten Etage. Die ausgestopften Tiere (Krokodil und Schwertfisch sind zwischenzeitlich verschwunden):

 
Bürgerbibliothek, Foto um 1900

Erinnerung 9: Der reformierte Versammlungsraum

Unsere Geschichte wäre damit zu Ende, wenn es nicht noch im 20. Jahrhundert eine überraschende Wende gegeben hätte, die die Erzählung um die neunte Variante der Erinnerung ergänzt. Im 19. Jahrhundert stieß die Bibliothek endgültig an ihre Grenzen. 1916 wird in Zürich am Zähringerplatz eine neue Stadtbibliothek gebaut, in die die bisherigen Buchbestände umziehen, während die Reste der Kunst- und Raritätenkammer auf andere Museen verteilt werden. Die bürgerliche Bibliotheksgesellschaft der Wasserkirche löst sich nach 287 Jahren des Bestandes im Mai 1916 auf. Der „Tempel der Weisheit und Wissenschaft“ steht nach fast 300 bzw. 400 Jahren wieder leer. Es folgt eine längere Auseinandersetzung über die künftige Nutzung des Gebäudes.

„Schliesslich wurde sie in ihren ursprünglichen Zustand zurückversetzt und dient seit 1943 der zürcherischen Landeskirche wieder als Gotteshaus. Mit freudig bewegten Worten begrüsste man damals das Ereignis: «Im Verlaufe der Jahrhunderte ist an diesem Bauwerk viel und arg gesündigt worden. Ohne Respekt für seinen Charakter und ohne Verständnis für seine Schönheit wurde es verschandelt. Nun aber sind die üblen Zutaten beseitigt ...»“[24]

Auch das ist eine Form der Erinnerungskultur. Selbst wenn sich die Aussage eher auf die barocken Einbauten der Kirche als auf ihre Nutzungen bezieht, ist es doch interessant, dass die neuen reformierten Nutzer sich auf vorbehaltlos positiv auf die ursprüngliche katholische Konzeption der Kirche (ihren Charakter und ihre Schönheit) beziehen. In einem Informationsblatt zur Wasserkirche ist zu lesen: „1940/41 entfernte man die barocken Einbauten aus der leer stehenden Wasserkirche und baute sie in einen Kirchenraum um.“ Das ist insofern interessant, als es unterstellt, die barocken Einbauten seien der Wahrnehmung als Kirchenraum hinderlich. Vor dem Hintergrund des reformierten Kirchenbaus – mit einer Fülle barocker Kirchen samt Emporen – will das überhaupt nicht einleuchten. Der Umbau geschah aber in einer Zeit, in der das „Ursprüngliche“ und nicht das „Gewordene“ geschätzt wurde. Dazu passen die von Augusto Giacometti gestalteten Chorfenster, die das Leben Jesu samt Kreuzigung wenn auch im Kontext eines modernen Menschen zeigen. 

Heute gliedert sich die Wasserkirche in verschiedene Erinnerungsorte. Die Kirche selbst erscheint so, wie sie nach Zwinglis Bildersturm 1524 ausgesehen haben mag. Sie wird einmal in der Woche für den Gottesdienst genutzt. Ein archäologischer Teil erlaubt den Zugang zum „Märtyrerstein“ der Stadtheiligen Felix und Regula, deren Heiligenlegende ausführlich erzählt wird. Manche Besucher, so schreibt eine Zeitung, „legen Kerzen und Blumen nieder, andere umarmen den Stein.“[25]


Innenraum der Wasserkirche in Zürich
Foto Roland zh - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5047819

Erinnerung 10: Die Erinnerung im Wandel

Ich komme zum Schluss: Die Erinnerung im Wandel. Ist das nun die eierlegende Wollmichsau? Von allem etwas? Der freigelegte Findling als anbetungswürdiger Hinrichtungsort im Basement der Kirche? Die auf Schautafeln erzählte Geschichte dieses Ortes zur Vergegenwärtigung seiner Bedeutung? Der Hinweis auf den potentiellen kulturellen Veranstaltungsort? Mittwoch bis Freitag von 14 bis 17 Uhr, Samstag 12 bis 17 Uhr für die private Andacht geöffnet? Hinter dem Taufstein der gekreuzigte Christus im Chorfenster von Giacometti? Und sonntags um 18 Uhr der reformierte Gottesdienst? Der christliche Versammlungsraum wie früher als Wegekirche auf den Chor als Zentrum ausgerichtet? Und dienstags um 7:30 Uhr eine Morgenandacht? Ist es das, was von dieser Kirche in Erinnerung bleibt, ein postmodernes Patchwork von Geschichte und Geschichten – zum Beispiel für mein Patenkind, das gerade in Zürich studiert und sich vielleicht mal in diese Kirche verirrt? Was würde es erfahren? Was von der katholischen Volksfrömmigkeit des 15. Jahrhunderts atmet der Raum noch, was von der merkantilen Geschäftigkeit des 16. Jahrhunderts, was von den Bücherwelten des 17. bis 19. Jahrhunderts und was von den vielen erregten Debatten, die in diesem Raum über die Jahrhunderte geführt wurden? Oder atmet man froh auf, weil diese „üblen Zutaten beseitigt“ wurden? Aber sind sie das?

Meine erste Erinnerung an diesen Ort war eine kurze Notiz in einem Fachbuch über die Geschichte der Museen, die die Wasserkirche nicht einmal beim Namen nannte. Nur dass in einer nicht mehr genutzten Kirche in Zürich 1629 die Geschichte der öffentlichen Museen begonnen hat. Nun, das Datum stimmte nicht und auch war es nicht wirklich ein Museum. Aber es war ein Mythos, der erzählt werden konnte und der in die Tradition der Reformierten passt.

Frühere Raummythen gehen niemals ganz unter. Darin hatte Antistes Breitinger Recht, wenn er mit seinen Einwand auf die fortdauernde Wirkungsmacht des Gebäude verwies. Unrecht hatte er in seiner Schlussfolgerung. Denn diese kann nicht lauten, auf alles Anstößige, sprich: alles zur Erinnerung Verleitende – also die „üblen Zutraten“ – zu verzichten. Die Konsequenz muss lauten: einen reformierten Umgang damit zu pflegen. Das entspricht dem, was Walter Hollenweger einmal als den Vorbildcharakter der Bibel bezeichnet hat: „Die Kriterien zur Unterscheidung des Mythos im allgemeinen und des ‘wahren Mythos’ werden aus dem Umgang der biblischen Schriftsteller mit dem ihnen vorliegenden Mythenmaterial erhoben.“[26] Wir werden daran gemessen, wie wir uns die Geschichte erinnernd aneignen und deuten und nicht daran, ob es uns gelingt, deren Spuren auszulöschen.

Am Anfang meiner Ausführungen stand der Satz von Salomo Vögelin:

„Nicht jedes Gebäude hat eine Geschichte. Nur diejenigen haben im Grunde eine solche, welche entweder sehr merkwürdige Umwandelungen zum Dienste der verschiedenartigsten Zwecke erfuhren, oder an welche sich merkwürdige geschichtliche Erinnerungen, wichtige Begegnisse, entscheidende Thatsachen oder bedeutende Veränderungen für ein Land, einen Ort, einen gesellschaftlichen Verein anknüpfen.“

Wenn das die Kriterien für Orte der Erinnerung sind, dann gehört eben nicht nur die ursprüngliche Gestalt der Wasserkirche aus dem Jahr 1487, sondern jede ihrer einzelnen Erinnerungsstationen dazu. Im Zusammenhang entsteht daraus ein neuer Raummythos für die Gegenwart, der Auskunft gibt über die Geistesgegenwart einer Religion bzw. Konfession – der reformierten.

Die Geschichte der Wasserkirche ist daher hoffentlich noch nicht zu Ende.

***



Dieser Text ist in leicht veränderter Form und ohne die Abbildungen zuerst erschienen in:

Kuhn, Thomas K.; Stricker, Nicola (Hg.) (2016): Erinnert Verdrängt Verehrt. Was ist Reformierten heilig? Vorträge der 10. Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus. Neukirchener Theologie. 1. Aufl. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Theologie (Emder Beiträge zur Geschichte des reformierten Protestantismus, 16).

Anmerkungen

[1]    Vögelin, Salomon (1848): Geschichte der Wasserkirche und der Stadtbibliothek in Zürich. Zürich.

[2]    Zit. nach Gumbrecht, Hans Ulrich (2005): Vom Nachteil der Historie für das Leben. Wie die Erinnerungsobsession am Ende zur Geschichtsvergessenheit führt. DIE WELT, 30.07.2005.

[3]    Ebd.

[4]    Helfenstein, Ulrich (1961): Geschichte der Wasserkirche und der Stadtbibliothek in Zürich. Mit 6 farbigen Kunstdrucktafeln nach Originalen von Franz Hegi. Zürich. Rütsche, Claudia (1997): Die Kunstkammer in der Zürcher Wasserkirche. Öffentliche Sammeltätigkeit einer gelehrten Bürgerschaft im 17. und 18. Jahrhundert aus museumsgeschichtlicher Sicht. Bern: Lang.

[5]    Grasskamp, Walter (1981): Museumsgründer und Museumsstürmer. Zur Sozialgeschichte des Kunstmuseums. München: Beck, C. H.; Grasskamp bezieht sich dabei auf Bazin, Germain (1967): The Museum Age. Brussels: Desoer (L'Art témoin).

[6]    Vgl. Hollenweger, Walter J. (1977): Schöpferische Liturgie. In: Rainer Bürgel (Hg.): Umgang mit Raum. Gütersloh: Mohn, S. 89–98: „Es gibt beobachtbare Tatsachen, die uns zeigen, dass eine Kirche ohne Mythos, ein Glaube ohne Mythos von der Mehrheit der Christen (inklusive der Pfarrer), ganz zu schweigen von den Nichtchristen, nicht verstanden werden kann. Das ist deshalb so, weil Kommunikation von Informationen ohne Mythenrahmen sich in allen Bereichen menschlichen Wissens als undurchführbar erwiesen hat.“ (S. 89)

[7]    St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 225, p. 473-478. (online)

[8]    Vögelin, Salomon (1848): Geschichte der Wasserkirche, a.a.O., S. 4.

[9]    Eliade, Mircea (1984): Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen. Frankfurt am Main, S. 23: „ein heiliger Ort stellt einen Bruch in der Homogenität des Raumes dar; dieser Bruch ist durch eine ‚Öffnung’ symbolisiert, die den Übergang von einer kosmischen Region zur anderen ermöglicht (...)“

[10]   Helfenstein, Ulrich (1961): Geschichte der Wasserkirche, a.a.O., S. 7.

[11]   Vögelin, Salomon (1848): Geschichte der Wasserkirche, a.a.O., S. 12

[12]   Zit. nach Vögelin, Salomon (1848): Geschichte der Wasserkirche, a.a.O., S. 9.

[13]   Ebd., S. 13.

[14]   Bullinger, Heinrich (1838): Reformationsgeschichte. Band 1. Hg. v. Johann Jakob Hottinger und Hans Heinrich Vögeli. Frauenfeld, S. 175

[15]   Vögelin, Salomon (1848): Geschichte der Wasserkirche, a.a.O., S. 34.

[16]   Zit. nach Vögelin, Salomon (1848): Geschichte der Wasserkirche, a.a.O., S. 39, Anm. 1.

[17]   So Luther in der Kirchenpostille 1522 (WA 10/I, 1, 252).

[18]   Vgl. zum Folgenden Vögelin, Salomon (1848): Geschichte der Wasserkirche, a.a.O., S. 39ff.

[19]   Wenige Jahre später erwarb das reformierte Basel 1661 das so genannte Amerbach-Kabinett mit 9000 Büchern und zahlreichen berühmten Gemälden und Kunstwerken und macht es 1671 öffentlich zugänglich. Dieses war aber der Universität Basel zugeordnet.

[20]   Vögelin, Salomon (1848): Geschichte der Wasserkirche, a.a.O., S. 49.

[21]   Ebd. S. 50. Es reichte schon, dass ein Bildnis den lutherischen Gustav Adolf zeigte, um seinen Zorn zu erregen.

[22]   Zit. Ebd. S. 53, Anm. 59

[23]   Vögelin, Salomon (1848): Geschichte der Wasserkirche, a.a.O., S. 82. Diese Beschreibung ähnelt sehr stark jener, die der junge Goethe vom ersten Besuch der Dresdner Schlossgalerie gibt.

[24]   Helfenstein, Ulrich (1961): Geschichte der Wasserkirche, a.a.O., S. 14.

[25]   http://www.tagesanzeiger.ch/zuerich/stadt/Zuerichs-verschollene-Heilquelle/story/16578854

[26]   Hollenweger, Walter J. (1977): Schöpferische Liturgie, a.a.O., S. 90

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/100/am537.htm
© Andreas Mertin, 2016