Das katoptrische Universum


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Warum die Zeitschrift einen so seltsamen Namen hat. Exegetische Überlegungen

Horst Schwebel

I.

Über dem einprägsamen Namen der Internet-Zeitschrift theomag.de, deren hundertste Ausgabe hier dokumentiert wird, steht ein kaum aussprechbarer Name: τὰ κατοπτριζόμενα. Das ist Griechisch und heißt das Gespiegelte; es begegnet im 2. Korintherbrief des Paulus, Kapitel 3, Vers 18.

Der exegetische Zusammenhang ist folgender. In Form eines rabbinischen Midraschs setzt sich Paulus in 2. Korinther 3, 7-18 mit der Übergabe des Gesetzes an Mose auseinander. Als Mose vom Berg Sinai zu den Israeliten herabkam, hatte sein Gesicht von der Gottesbegegnung einen Glanz, weshalb eine Decke über sein Gesicht gelegt war. Für Paulus war die Decke über dem Antlitz von Mose dazu da, damit das Volk nicht sehen sollte, dass der Glanz von Moses Angesicht allmählich verblassen würde. Denn für Paulus war das Gesetz ein Weg zum Tod, das durch den Christusglauben inzwischen überwunden ist.

Aber immerhin: Obwohl das Gesetz nach Paulus statt zum Leben in den Tod geführt hat, hatte es dennoch einen Glanz (Hebräisch kabod, Griechisch δόξα). Um wieviel größer ist dann aber die δόξα der Gnade Gottes in Jesus Christus, für die Paulus nur Überschwängliches zu sagen weiß: Glanz, Herrlichkeit, Geist, Freiheit, Lauterkeit.

Zurück zum paulinischen Midrasch. Die Decke über dem Angesicht des Mose ist für Paulus nicht verschwunden. Sie wurde sogar über die Herzen der Juden gelegt, weshalb sie, wenn die Worte des Testaments verlesen werden, sie die Worte falsch verstehen. Anders verhält es sich nach Paulus bei denen, die an Christus glauben. Dort ist die Decke nämlich hinweggenommen. Mit unverhülltem Haupt sind sie in der Lage, Gottes δόξα, den Glanz und die Herrlichkeit, anzuschauen; sie werden sogar in diese Herrlichkeit verwandelt (ἀπὸ δόξης εἰς δόξαν, von Herrlichkeit zu Herrlichkeit).

Was Paulus hier beschreibt - Gottes  Herrlichkeit sehen und fortschreitend in sie verwandelt werden –, ist die Gottesschau. Nirgendwo in seinen Briefen hat die Begeisterung ihn bis zu diesem Punkt geführt, dass er sogar von einem Verwandeltwerden in die δόξα schreibt. Gleichwohl hebt er nicht ab, sondern bleibt bei aller Begeisterung noch immer irdisch verbunden. Das geschieht dadurch, dass er bei der Beschreibung dieser einzigartigen Schau die Metapher des Spiegelns einführt. Und damit sind wir wieder zu unserem Ausgangspunkt, τὰ κατοπτριζόμενα, zurückgekehrt.

Gewiss, Paulus beschreibt etwas Einzigartiges, das Schauen Gottes, aber er sagt, dass dieses Schauen eine Spiegelung sei, dass es sich um eine Wahrnehmung wie in einem Spiegel handele. Von einer endgültigen Schau Gottes, diesem Letzten und Höchsten, kann unter irdischen Bedingungen also nicht die Rede sein. Der Christ erfährt den Lichtglanz Gottes wie in einem Spiegel, also nicht in der Direktheit der Anschauung – was ein Letztes und Höchstes wäre -, sondern in Form einer Brechung. Es ist nicht ein Schauen von Angesicht zu Angesicht, sondern ein Anschauen eines wie in einem Spiegel reflektierten Bildes.

Man kann zu unserem Text (2. Korinther 3,18) einen zweiten Text zum Vergleich heranziehen. Im Hohelied der Liebe  (1. Korinther 13), dem Text, in welchem Paulus zur Beschreibung von Glaube, Hoffnung und Liebe alle Register der Rhetorik zieht, um das seiner Meinung nach irdisch Höchste zu benennen, schließt der emotionale Überschwang mit den Sätzen: „Wir sehen durch den Spiegel ein dunkles Bild (ἐσόπτρου ἐν αἰνίγματι); dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.“ (Vers 12) - Seine Begeisterung bleibt also ungebremst. Aber gemessen an dem Schauen von Angesicht zu Angesicht, bei welchem das Erkennen in das Erkanntwerden übergeht, ist das Jetzige trotz seiner Klimax bloß ein dunkles Bild durch einen Spiegel.

Beiden Texten (2. Korinther 2,18 und 1. Korinther 13,18) ist gemeinsam, dass Paulus in einer jeweils emotional aufgeladenen Rede von einer lichthaften Erfahrung spricht. Geht es im 1. Korintherbrief um die Liebe als dem erfahrbar Höchsten, so geht es in 2. Korinther 2,18 um die doxa, um den Glanz und Herrlichkeit, in die der Christ nach Paulus verwandelt wird. Gemeinsam ist diesen Aussagen, dass, da Christen noch immer im irdischen Bereich leben, also nicht in Gottesunmittelbakeit, dieses Letzte, das Eschaton, nur in der Gebrochenheit und Spiegelung der Lichtstrahlen, erfahrbar ist, also wie in einem Spiegel.

II.

Dass das Göttliche mit dem Licht oder gar mit der Sonne verglichen wird und das menschliche Erkenntnisvermögen demgegenüber dunkel erscheint, ist eine Vorstellung, die Paulus mit den Gebildeten seiner Zeit teilt, etwa auch mit Philo von Alexandrien, einem Zeitgenossen. Bei Philo findet sich sogar die Spiegelmetapher angesichts der Einwirkung des Göttlichen auf den Menschen. Paulus braucht Philo deshalb nicht gekannt zu haben. In seinem Geburtsort Tarsus und seiner Bibliothek in Kilikien, einem Ursprungsort der stoischen Philosophie, dürfte er über Jüdisch-Apokalyptisches hinaus mit dem Common Sense zeitgenössischen hellenistischen Denkens in Berührung gekommen zu sein. Wie bei Philo war auch für Paulus nicht die Biblia Hebraica seine Bibel, sondern die griechische Septuaginta. Auch seine Art, biblische Texte zu allegorisieren und umzudeuten (was wir bei seiner Deutung von der Decke über dem Angesicht von Mose sehen konnten), teilt er mit seinem alexandrinischen Zeitgenossen, der ihm in der allegorischen Umdeutung biblischer Geschichten in nichts nachstand.

Die wahre (göttliche) Erkenntnis mit einer Lichterfahrung zu verbinden, geht auf Platons Höhlengleichnis in der Politeia (VII, 514-517) zurück. Solange die gefesselten Höhlenbewohner auf die Figuren auf der Höhlenwand schauen, halten sie diese für real. Als einer befreit wird und zum Höhleneingang gelangt, erkennt er, dass die von ihm für real gehaltenen Gestalten nur Schatten der hinter den Gefangenen sich bewegenden Figuren sind, die von dem dahinter aufstrahlenden Licht erleuchtet werden. Der von den Fesseln Befreite, aus dem Dunkel zum Höhleneingang Schreitende schaut als erstes in blendendes Licht, bevor er kapiert, wie sich die Sache richtig verhält, dass nämlich die Figuren hinter dem Rücken der Gefangenen real sind und dass das, was die Gefesselten als real anzusehen meinen, nichts weiter ist als ein Schattenspiel.

Plato verstand unter den zum Licht Befreiten die Philosophen, die im Unterschied zu den Gefesselten in der Höhle um die von Gott beschienene Welt der Ideen wissen, die Welt des Wahren und Guten. Die Identifikation des Göttlichen mit dem Geistig-Noetischen und die Abwertung des Sinnlich-Sarkischen blieb dem abendländischen Denken bis zum deutschen Idealismus als ein Selbstverständliches erhalten. Pneuma, Licht, Sonne, Glanz, Herrlichkeit sind dem Schattenreich von Körperlichkeit und Verdinglichung entgegengesetzt. Kehren wir zurück zu Paulus, der wie Philo von Alexandrien in diese Gedankenwelt einbezogen ist, so kommt der Glaubende durch Christus mit diesem Bereich des Glanzes und der Herrlichkeit in Berührung und wird – zumindest in Korinther 3,18 - sogar mithineingezogen. Doch dies geschieht nicht in Gottesunmittelbarkeit von Angesicht zu Angesicht (1. Korinther 13,12), sondern wie in einem Spiegel.

III.

Was hat es zu bedeuten, wenn eine Zeitschrift τὰ κατοπτριζόμενα heißt?

Dass ein Publikationsorgan Mirror oder Spiegel genannt wird, mag nachvollziehbar sein. In diesen Fällen geht es darum, die gesellschaftliche Wirklichkeit im Medium des Druckerzeugnisses in angemessener Weise abzubilden und zur Darstellung zu bringen. Dabei mag es vorkommen, dass der im publizistischen Medium dargestellte Sachverhalt nicht bloß wiedergegeben wird, sondern dass er ein Eigenleben entwickelt bis hin zur Verfälschung. Von einem Spiegeln kann dann keine Rede mehr sein.

Gleichwohl ist der Spiegel im Kontext der Literatur nicht auf die Wiedergabe eines Ist-Zustandes beschränkt. Es gibt den Zauberspiegel im Märchen, der Bilder aus fernen Regionen und Ereignissen aus der Vergangenheit und in der Zukunft aufscheinen lässt. Die Poeten lieben die Spiegel. Jean Cocteau lässt in seinem Film „Orphée“ Jean Marais durch einen Spiegel ins Totenreich steigen. - Die Spiegelmetapher ist mehrdeutig; nicht alles, aber manches lässt sich subsumieren.

Bei der Zeitschrift τὰ κατοπτριζόμενα. Theomag.de sind also mehrere Ansätze möglich, zumal das Gespiegelte, das Wie in einem Spiegel nicht nur Abbildhaftes zulässt, sondern auch der Utopie Raum zu geben vermag. Gleichwohl ist nicht zu bestreiten, dass auch das von Paulus mit κατοπτριζόμενα Gemeinte in der Internetzeitschrift zu Wort kommt, dass es also auch und gerade um Theologie geht. Das bedeutet, dass das Aufscheinen der δόξα in den Beiträgen seinen Platz findet, wenn auch (bloß) wie in einem Spiegel. Als habe Paulus, nachdem er im 2. Korintherbrief so überschwänglich vom Glanz und der Herrlichkeit geredet hat, Angst vor einer unkritischen Affirmation bekommen, spricht er im Anschluss daran von Bedrängnis, Not und Verfolgung. Gerade angesichts des Leidens und der Schwachheit scheint die über Christus vermittelte δόξα überwiegend in sub-contrario-Erfahrungen zum Vorschein zu kommen.

In den Beiträgen sind sich die Verfasser bewusst, dass ihr Theologietreiben auf der Erde stattfindet und nicht im Himmel. Im Spiegel spiegelt sich nicht nur die δόξα, sondern auch die Welt, die gesellschaftliche Wirklichkeit und die Gegenwartskultur. Bildende Kunst, Video, Film, Literatur, die Bereiche also, wo das kreative Vermögen auf Wirklichkeit stößt, werden auf ihre Wahrheitsansprüche befragt und mit Theologie und Kirche in Verbindung gebracht. Was diese Zeitschrift von anderen theologischen Publikationen unterscheidet, ist das Faktum, dass das kreative Vermögen, der Beitrag der Kultur in all ihren Wirkungsbereichen, nicht als Hilfsmittel zur besseren Vermittlung kirchlicher Inhalte begriffen wird. Die in den kirchlichen Ämtern sitzenden Bürokraten werden von der Zeitschrift keine Hilfe erwarten können, wie beispielsweise die Gottesdienste bunter werden können oder wie die Kirchenaustrittsbewegung zu stoppen ist. Die Begegnung mit der Gegenwartskultur ist kein Beitrag zur propaganda fidei. Theologie und Gegenwartskultur sollten sich vorbehaltlos begegnen, einander achtend, neugierig darauf, was der andere mitzuteilen hat, aber auch bereit, zu streiten und Konflikte auszutragen ...

Der Spiegel wird schon nicht zerbrechen.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/100/hs19.htm
© Horst Schwebel, 2016