Das katoptrische Universum


Heft 100 | Home | Heft 1-98 | Newsletter | Impressum und Datenschutz

Talking free: Über Kunst, Kultur, Theologie und Ästhetik

Karin Wendt

Die andere Seite der Welt

Anna Lavinia kniete auf Moos und schaute ins Wasser. Wo ihr eigenes Spiegelbild hätte sein sollen, erblickte sie das Gesicht eines sommersprossigen Jungen in blauem Hemd und langärmeligem grünen Pullover, mit zwei Taschen und vorn einer Reihe Knöpfe. Auch er beugte sich über einen bemoosten Stein und hinter ihm bemerkte sie Äste von Eicheln unter einem Himmel von tiefstem Lavendelblau. […] „Wo steckst du überhaupt?“, fragte sie. „Auf der anderen Seite des Teiches“, antwortete er. Anna Lavinia blickte über den Teich. Dort war niemand. „Auf der Unterseite, meine ich“, rief der Junge und lachte wieder. Seine Bemerkung schien Anna Lavinia so sonderbar, dass sie eine Eichel nach ihm war.

„Autsch!“, hörte sie den Jungen rufen. […] Dann fragte sie: „Warum kommst du nicht herauf?“ Toby verzog das Gesicht. „Das geht nicht. Ich hab meiner Mutter versprochen, es nie zu tun.“ „Aber du könntest es, wenn du dürftest?“, fragte Anna Lavinia. „Und ob“, antwortete Toby, „so gut wie die Eicheln. Auch du kannst herunterkommen, wenn du willst.“ „Wirklich?“ fragte Anna Lavinia verblüfft. „Du brauchst nur ins Wasser zu springen, so tief du kannst“.[…]

Sie drückte die Eidechse fest in den Arm, schöpfte tief Atem, kniff die Augen zu –und sprang. Während sie durch die Luft flog, überlegte sie sich, ob sie nicht besser kopfvoran getaucht wäre. Aber dieser Gedanke kam ihr ein bisschen spät. „Donnerwetter! Du hast es tatsächlich geschafft“, rief Toby begeistert. […] Anna Lavinia lag rücklings im Gras und sah verwundert um sich. Hinter ihr nichts als Himmel. Unter ihr, auf dem Boden, stand Toby. Anna Lavinia wollte lachen, aber so einfach war das nicht. Der Sprung auf die andere Seite der Welt hatte ihr die Sprache verschlagen.[1]

Das was Anna Lavinia im Wasserspiegel entdeckt, ist nicht ihre eigene, sondern die andere Seite der Welt – zwar der ihr vertrauten sehr ähnlich, aber doch mit anderen Schwerpunkten, mit anderen Gesetzen, anders gelagerten Problemen und anderen Lösungswegen. Dass sie in einer Welt lebt, die auch anders sein könnte, versteht sie erst, als sie von der anderen Seite aus darauf blickt, als sie sie von der anderen Seite aus erfährt. Darum geht es auch im Ästhetischen. Die Pointe der ästhetischen Spiegelung liegt nicht darin, dass wir die Welt – wie in einem Spiegel – wiedererkennen, sondern dass wir sie als gespiegelte – von der anderen Seite aus – erfahren. Diese Erfahrung ist keine tiefere, keine wesentliche, keine 'eigentliche' Erfahrung, sie ist einfach eine andere Erfahrung, genauer: eine andere Erfahrungsform. Der Sprung hinter den Spiegel gelingt aber – wie bei Anna Lavinia oder dem berühmten literarischen Vorbild Alice[2] – immer nur ganz oder gar nicht. Wir können uns nicht auf beiden Seiten aufhalten. Es gibt keinen dritten Ort. Wir können die Spiegelfläche nicht greifen. Wir können nur erfahren, dass es sie gibt, indem wir den Blick ändern.

Ordnungen

Gegenwärtig wird auf allen Ebenen um Ordnungen gerungen, besser gesagt: es wird die Lebensform für sich und alle behauptet, die man jeweils für die einzig richtige hält, weit entfernt von dem freiheitlichen Gedanken, als Mensch eine Form des Lebens entwerfen und (für sich) wählen zu können. Die Ordnung des Lebens ist jedoch immer (nur) die Ordnung, die wir dem Leben geben, wie der Philosoph und Schriftsteller Michel Serres reflektiert.

„Das Leben arbeitet, das Leben ist Werk, das Leben ist Arbeit, Energie, Kraft, Information. Es ist nicht möglich, die Beschreibung in einen ethischen Diskurs zu übertragen. So ist es; ob es so sein muss, weiß ich nicht. Die Arbeit des Lebens ist ein Werk und eine Ordnung, aber sie vollzieht sich nur soweit, wie es von anderswoher Ordnung aufnimmt. Sie schafft eine Ordnung hier, aber auf Kosten einer anderen dort. Und sie vergrößert die Unordnung und das Rauschen.

Es kostet eine Menge Arbeit, den Hasen aus dem Garten zu vertreiben, damit eine bessere Ordnung unter den Salaten einkehre, aber der Herr richtet Verwüstungen an, will sagen, er richtet sich auf Dauer ein [...] und setzt sich an die Stelle des Gartenfreundes. Er lässt sich nieder, ganz wie ein Hase, aber eher wie ein Raubhase. […] Der Parasit, der an die Stelle eines anderen tritt, zieht andere Register, er wechselt die Ordnung.“[3]

Es ist also die Frage, ob wir überhaupt zwischen guten und schlechten Ordnungen unterscheiden können oder nicht immer nur einen Sinn voraus setzen, tatsächlich aber nur die Seite wechseln.

Die christlichen Buß- und Armutsbewegungen des Mittelalters waren Versuche, die geltende Ordnung in Frage zu stellen. Ende des 12. Jahrhundert entstand eine Protestbewegung von Laien, die sich gegen die reichen Ordensgemeinschaften wandten. Auch sie mündeten vielfach in die alte Ordnung, nur unter anderen Vorzeichen. In der Nahsicht entfalten sie gleichwohl eine Faszination, vielleicht gerade, weil sie das eigene Leben so vehement ins Spiel bringen. Ein Beispiel hierfür ist Klara von Assisi.

Die gesellschaftliche Ordnung, in die sie 1193 in Assisi hineingeboren wird, scheint stabil, in Wirklichkeit ist sie aber bereits von Grund auf in Bewegung, wie die Theologin Martina Kreidler-Kos erklärt: Als älteste Tochter der Adeligen Favarone di Offreduccio und seiner Frau Ortulana wächst Chiara di Favarone

„wohlbehütet hinter den dicken Mauern des Palazzo in der vornehmen Oberstadt auf. Gemeinsam mit jungen Nachbarinnen und Verwandten erhalten sie eine gute Erziehung und reiche Bildung. Sie sollen einmal gewinnbringend verheiratet werden, eine durch Heiratspolitik gezielte Vernetzung der Adelsclans garantiert stabile Machtverhältnisse in der Stadt.

Dieses Machtgefüge gerät zu Beginn des 13. Jahrhunderts ins Wanken. Die aufstrebende Bürgerschicht, durch Handel reich und erfahren geworden, beansprucht in einer frühen Demokratisierungswelle ihren Platz in städtischer Verantwortung. Die kleine Klara erlebt Krieg zwischen Adelsstand […] und Bürgerlichen [...] in Assisi, ihre Familie muss auf Landgüter und ins benachbarte Perugia fliehen. Erst nach dem Friedensschluss von 1203 kann der Adel allmählich in die Stadt zurückkehren, das Bürgertum noch einmal in die Knie zwingend. Doch nicht nur außerhalb des familiären Rahmens beginnt sich die Welt zu verändern. Die Töchter selbst durchkreuzen die ehrgeizigen Pläne ihrer Sippe, allen voran die Älteste.“[4]

Klaras eigener Weg, der hier beginnt, erscheint noch aus heutiger Sicht ungewöhnlich eigenständig und wagemutig. Mit siebzehn Jahren flieht sie nachts aus ihrem Elternhaus und schließt sich der Bewegung von Franz von Assisi (181/82-1226) an. Ihre Entscheidung ist da bereits innerlich gereift. So betont der Theologe und Franziskaner Niklaus Kuster,

„Ortulanas Tochter weiß, was sie tut – schon bevor sie mit Franziskus zusammentrifft und um die Aufnahme in seine 'fraternitas' kämpft: Sie weiß bereits vor 1210 klar, dass sie der familiären Heiratspolitik nicht dienen will. Sie sucht immer entschiedener ihren Weg, das Evangelium in radikaler Armut zu leben. 'Arm den armen Christus umarmen', fasst sie ihr Ideal später zusammen.“[5]

Giovanni Battista Bernardone mit Rufnamen Francesco, ältester Sohn des städtischen Tuchhändlers Pietro Bernardone, hatte sich in einem spektakulären Prozess vor dem Bischofspalast von seinem bürgerlichen Leben und seinem Vater losgesagt und zog seitdem als Bußprediger mit einer kleinen Gefolgschaft umher. Klara hatte seinen Werdegang bis dahin fasziniert verfolgt: seine Umkehrung der (eigenen) Werte und Ziele, seine andere Lesart Christi, nicht als König und Weltenherrscher, sondern als Mensch gewordener Gott, seine Aufmerksamkeit für den Rand der Gesellschaft und ihre Aussätzigen, sein Entwurf einer anderen Ordnung des Lebens, in Armut für die Armen. Über einige heimliche Begegnungen baut Klara die Verbindung zu ihm auf und beschließt dann ihre Flucht.

San Damiano[6], eine Kirche in der Nähe der Stadt, die Franz mit einigen seiner Anhänger in den Jahren zuvor restauriert hatte, baut sie in den nachfolgenden Jahrzehnten zu einer klösterlichen Gemeinschaft aus; sie nennen sich selbst „sorelle povere“ (ital.: arme Schwestern). Hier beginnt sie, an einer eigenen Ordensregel zu schreiben, für die sie erst kurz vor ihrem Tod die päpstliche Approbation erhält. Im Rückgriff auf das Vorbild der benediktinischen Regel sowie auf die noch zu ihren Lebzeiten bullierte Regel des Franziskus, vor allem aber aus der Beobachtung und Reflexion des (alltäglichen) Lebens entwickelt sie ihr eigenes Modell für ein gemeinschaftliches Leben ohne persönlichen Besitz, den  praktisch-religiösen Entwurf einer ganzheitlichen Nachfolge Jesu.

Gespiegeltes Leben

Klara von Assisi verfasste als erste Frau der Geschichte eine eigene Ordensregel für Frauen, die in einer klösterlichen Gemeinschaft leben wollen. Diese in Regeln gegossene Lebensform, die sie einfach forma vitae[7] nannte, ist das Ergebnis einer inneren und äußeren Umkehr; der Versuch, die Welt anders in den Blick zu nehmen, um so (das) Leben anders zu perspektivieren.

Klaras Denken und Handeln, 'infiziert' und begleitet von den vielfältigen religiösen Emanzipationsbewegungen ihrer Zeit, kreist zeitlebens um den Gedanken der Armut als Kern des Evangeliums. Sie reflektiert Armut als proprium der Menschwerdung Gottes, als die Art und Weise wie Jesus geboren wurde („arm in einer Krippe“), wie er lebte („arm unter den Menschen“) und wie er starb („nackt am Marterholze“); Armut, folgert sie, war die Art und Weise, wie er zu den Menschen in Beziehung getreten ist, weil es um die Beziehung als solche ging, weil es ganz um den Anderen gehen sollte. Aus ihrer Sicht bedeutete Armut daher nicht Privation und Mangel, sondern umgekehrt die Bedingung der Möglichkeit, dieser genuinen Lebensweise Jesu uneingeschränkt folgen zu können. So kann sie Armut im Gegenteil sogar als ein besonderes „Privileg“ auffassen, das Privilegium Paupertatis, welches sie für sich und ihre Gemeinschaft institutionell erstreitet und immer wieder verteidigt. Vermutlich erstmals ausgestellt von Papst Innozenz III., zwischen 1215 und 1216, erbittet sie das Privileg, „niemals ein Privileg, also Besitz, annehmen zu müssen.“ Diese Absage gilt jeder Form von Besitzstand als Ausdruck einer heteronomen Ordnung des Lebens. Ihr Armutsplädoyer will Zeichen der Einsicht in die eigene Endlichkeit, die eigene Armut, sein. Diese Armut deutet sie umgekehrt als besonderen Raum der eigenen Freiheit, mithin als inneren Reichtum.

Spiegel der Ewigkeit

Neben dem Regelwerk, der forma vitae, sind vier Briefe von Klara erhalten, die Auskunft über ihr Denken geben, verfasst zwischen 1234, als Klara vierzig Jahre alt war, und 1253, dem Jahr, in dem sie stirbt. Sie sind an die Prinzessin Agnes von Böhmen (1211–1282) gerichtet, die in Prag ein Kloster nach dem Vorbild von San Damiano gegründet hatte und mit der sie sich über die von beiden gewählte klösterliche Lebensform austauschte. In der höfisch-ritterlichen Kultur aufgewachsen, hatte Klara gelernt Latein zu lesen und „in einem sehr gewandten Stil“ auch zu schreiben, so die Klarisse Ancilla Röttger. Klara hatte Kenntnis „von der Lebensform der Beginen, die sich von Nordeuropa her ausbreitete und auch Einzug in Italien fand“, aus ihren Briefen „spricht die Prägung durch 'biblische Inspiration, durch aktive Teilnahmen an der Liturgie der Kirchen und durch ihr aufmerksames Lesen der Schriften aus der großen Tradition der spirituellen Theologie'“.[8]

Ich bin auf Klaras Briefe durch einen einzigen Satz aufmerksam geworden, der in der Klara-Rezeption vielfach zitiert wird. Er findet sich im dritten erhaltenen Brief an Agnes.[9] Dort gibt sie der Freundin folgenden Rat:

„Stelle dein Denken vor den Spiegel der Ewigkeit“
[pone mentem tuam in speculum aeternitatis]

Der Spiegel „durchzieht“ als eine „Metapher für Erkenntnis die Geschichte des Abendlandes“, schreiben Elena Filippi und Harald Schwaetzer.

„Sieht man genauer hin, so wird […] deutlich, dass der Zusammenhang zentraler Stränge abendländischen Philosophierens historisch wie systematisch an den Auseinandersetzungen der jeweiligen Denker mit dieser Metapher ersichtlich ist. Als ein wichtiges Beispiel wäre auf die Linie Augustinus – Eckhart von Hochheim – Nikolaus von Kues zu verweisen. […] Gerade in dieser Linie verknüpft sich […] das Motiv des Spiegels mit demjenigen des Bildes. Die Metapher des Spiegels für das Erkennen und der anthropologische Gedanke von Genesis 1,26 von der Bildnatur des Menschen werden so aufeinander bezogen, dass […] auf der Grundlage dieser beiden Komplexe Intellekttheorie und Subjektivitätsdenken gemeinsam neu gefasst werden.“[10]

Klara war aufgrund ihrer Bildung mit der abendländischen Spiegelmetaphorik und ihrer Verbindung zur Theologie des Bildes von der Antike, über die frühchristliche Theologie bis in die zeitgenössische Mystik ihrer Zeit sicher vertraut; sie kann souverän auf diese weite Semantik zurückgreifen und davon ausgehen, dass ihre Brieffreundin diesen Horizont teilt. Wenn ihr Denken um das Paradigma der Armut als Beziehungsgeschehen kreist, wie es die jüngste Klara-Forschung facettenreich herausgearbeitet hat, drückt sich dann auch in ihrem Gebrauch des Spiegel-Motivs eine reflexive Verbindung dazu aus?

Es ist ein sprachgewaltiges Bild – was kann das heißen, sein Denken vor den Spiegel der Ewigkeit zu stellen? Gewaltig ist das Bild wohl deshalb, weil es einen Raum vorstellt, so Ancilla Röttger. Dieser Beobachtung folgend möchte ich ein paar Gedanken dazu skizzieren, wie sich das Bild des Spiegels mit der Anthropologie Klaras verknüpfen könnte. Das von ihr verwendete, mit „Denken“ übersetzte lateinische Wort lautet „mens“. Es umfasst im antiken Denken so verschiedene Begriffe wie „Denken“, „Denkvermögen“, aber auch „Geist“ und sogar „Seele“. Hatte Klara – wie nach ihr etwa Eckart von Hochheim (1260-1328) – auch die augustinische Begriffsprägung im Sinn? Mens nennt Augustinus die „menschliche Geistseele“, in der sich die Vorgänge des Erinnerns, Denkens und Wollen vollziehen, die sich also aus den drei Vermögen von Gedächtnis, Intellekt und Willen zusammensetzt. Dabei spielt die memoria, das Gedächtnis, eine zentrale Rolle. In der platonischen Denktradition zuhause, stellt Augustinus das Gedächtnis als inneren, unendlich differenzierten Raum der (Selbst-) Erkenntnis vor:

„Groß ist die Macht des Gedächtnisses. Welch schauerliches Geheimnis, mein Gott, welch tiefe, uferlose Fülle! Und das ist die Seele, und das bin ich selbst? Was bin ich also, mein Gott? Was bin ich für ein Wesen? Ein Leben, so mannigfaltig und vielgestalt und völlig unermesslich! Mein Gedächtnis, siehe, das sind Felder, Höhlen, Buchten ohne Zahl, unzählig angefüllt von unzählbaren Dingen jeder Art, seien es Bilder, wie insgesamt von den Körpern, seien es die Sachen selbst, wie bei den Wissenschaften, seien es irgendwelche Begriffe oder Zeichen, wie bei den Bewegungen des Gemüts, die sich, wenn die Seele auch schon nicht mehr leidet, im Gedächtnis erhalten und also mit diesem in der Seele sind: durch alles dieses laufe ich hin und her, fliege hierhin, dorthin, dringe vor, soweit ich kann, und nirgend ist Ende, von solcher Gewaltigkeit ist das Gedächtnis, von solcher Gewaltigkeit ist das Leben im Menschen, der da sterblich lebt.“[11]

In diesem Gedächtnis-Raum „erinnert“ sich die Seele und wird sich darüber zunehmend ihrer selbst bewusst. Zugleich begreift sie die Begrenztheit der eigenen Wahrnehmung. So kann das Denken der Welt, des Selbst und das Denken Gottes im Menschen seinen Anfang nehmen:

„Im Innern tue ich dies, im ungeheuren Raume meines Gedächtnisses. Dort sind mir gegenwärtig Himmel, Erde, Meer und alles […] dort begegne ich auch mir selbst […] Groß ist die Macht meines Gedächtnisses, gewaltig groß, o Gott, ein Inneres so weit und grenzenlos. Wer ergründet es in seiner Tiefe, diese Kraft gehört meinem eigenen Ich hier an […], und gleichwohl fasse ich selber nicht ganz, was ich bin. So ist der Geist zu eng sich selbst zu fassen. Wo aber ist es, was er an Eigenem nicht fassen kann? Ist es etwa außer ihm, nicht in ihm selbst? Wie also fasst er's nicht? Ein groß Verwundern überkommt mich da, Staunen ergreift mich über diese Dinge.“[12]

Wenn Klara Agnes dazu auffordert, das eigene Denken vor einen Spiegel zu stellen, entsteht in ähnlicher Weise so ein innerer Raum der (Selbst-)Erkenntnis, der einerseits unermesslich scheint und sich andererseits, zugleich, selbst nicht zu fassen vermag. Klara spezifiziert nun jedoch den Spiegel, indem sie vom „Spiegel der Ewigkeit“ spricht. Der Begriff der Ewigkeit ist keine abgeleitete Bezeichnung für das unbegrenzt Seiende im Unterschied zum zeitlich Begrenzten, sondern ein genuiner Begriff, der das unbegrenzt Gültige auszeichnet. Ewigkeit verleihen wir dem, was nicht nur unbegrenzt dauert, sondern was unbegrenzt dauern soll, weil es genau so, wie es ist, sein soll und daher andauern soll. Zeit ist mit den Worten von Augustinus immer nur Lebenszeit, das heißt vom Menschen erinnerte Zeit, man könnte auch sagen qualifizierte, subjektiv erlebte Zeit. Vergangenheit und Zukunft können nur gegenwärtig erlebt werden. Was kann es also heißen, sein Denken vor einen Spiegel der Ewigkeit zu stellen? Was geschieht mit unserem Denken, was erkennt unsere „Seele“, wenn wir uns der Gegenwart stellen? Ist es eine Anleitung sehend zu denken, eine Anleitung zum inneren Sehen, zum Betrachten? Geht es um eine Selbst-Reflexion, die den Vorgang des Denkens als Prozess des Empfangens erläutert? Geht es um die Umkehrung unseres Denkens?

Wir sind es gewohnt, unser Denken als zielgerichtete Bewegung des Erkennens und Verstehens zu beschreiben. Vor dem (Hinter-)Grund der Ewigkeit scheint nun gerade dieses Ziel nicht mehr greifbar. Es geht offenbar also nicht um ein endloses Denken, ein Denken der Unendlichkeit, das sich verlieren würde, sondern um ein Denken, das sich selbst – seine eigene Logik – in den Blick nimmt bzw. nehmen lässt. Ein Denken, das einsieht, selbst immer nur perspektivisch zu sein und damit die Differenz – das Undenkbare – in die eigene konkrete Begrenztheit einbezieht. Das imperativische Bild „stelle dein Denken vor den Spiegel der Ewigkeit“ stellt mithin kein wiedererkennendes, identifizierendes Denken vor, sondern ein offenes Denken, das sich selbst zum Gegenstand wird. Der entstehende Reflexionsraum, das Bild des eigenen Denkens im Spiegel des zu Denkenden – im Spiegel dessen, was es zu denken gibt – ist kein unendlicher Raum, sondern ein unendlich perspektivierter Raum. Bezogen auf den Kerngedanken der von Klara entworfenen neuen Lebensform, Armut als Paradigma des Lebens zu verstehen, geht es daher vielleicht auch um eine Form der Armut des Denkens, um ein Denken, das sich selbst zurücknimmt aus Achtung vor der Unabgeschlossenheit unseres Verstehens. Das Gewicht von Klaras Sprachbild liegt in der darin reflektierten Negativität eines Denkens, das eingedenk der eigenen Armut von sich selbst absieht, um den Anderen ganz – um ganz den Anderen – zu bedenken.

Dass es Klara letztlich um einen Prozess der Verwandlung geht, wird mit den nachfolgenden Sätzen deutlich: Sie variiert den Imperativ noch zweimal:

„stelle deine Seele in den Glanz seiner Herrlichkeit“
[pone animam tuam in splendore gloriae]
„stelle dein Herz vor das Bild seiner göttlichen Wesenheit“
[pone cor tuum in figura divinae substantiae],

und mündet in die Aufforderung zur völligen Transformation:

„und forme dich selbst durch Betrachtung ganz um in das Bild seiner Göttlichkeit selbst.“
[et transforma te ipsam totam per contemplationem in imagine divinitatis ipsius.]

Mit dieser Aufforderung, sich ganz „in das Bild seiner Göttlichkeit selbst“ umzuformen, ruft sie ausdrücklich die Vorstellung der Gottebenbildlichkeit des Menschen auf.

Die frühchristliche Theologie der Gottebenbildlichkeit unterschied zwischen der geschöpflichen Ebenbildlichkeit des Menschen, dem Bild des Menschen (eikon - imago), und einer sich durch den Geist Christi erst vollendenden Ebenbildlichkeit, also der (Gott-)Ähnlichkeit (homoiosis – similitudo) des Menschen, dem schrittweisen Ähnlichwerden durch die Einwirkung des Geistes. So schreibt Irenäus von Lyon (um 135- 200),

„Wenn aber dieser Geist mit der Seele vermischt, mit dem Gebilde vereint wird, ist der Mensch wegen der Ausgießung des Geistes Pneumatiker und vollkommen geworden. Und dieser ist es, welcher nach dem Bild und Abbild Gottes gemacht wurde. Wenn aber der Geist der Seele fehlt, ist ein solcher wahrhaft (nur) psychisch und wird als fleischlicher unvollkommen zurückgelassen: Er hat die Imago im Gebilde, nimmt aber nicht die Similitudo durch den Geist an.“[13]

Erst der Geist Christi formt und vervollkommnet also das Bild des Menschen, macht ihn Gott immer ähnlicher und wird so im theologischen Diskurs zu einer eigenen anthropologischen Größe. An diese frühe pneumatologische Tradition knüpft Klara meines Erachtens an, wenn sie das „Denken“ vor dem „Spiegel der Ewigkeit“ als das Innewerden der eigenen Seele in Beziehung zu Gott, also als Auftakt zum Ähnlichwerden, zur Aufnahme der Gottesbeziehung, entfaltete. Sie erläutert diese geistige Verwandlung, sicher auch weil sie sie im Briefgespräch, im Gegenüber entfaltet und daher darstellt, nicht als unio mystica oder als visio beatifica, sondern prozessual, als existentielle, immer tiefer gehende und gleichwohl erfüllende Differenzerfahrung. Diese konkrete Christologie hat sie vielleicht auch bei Augustinus vorgefunden. Für Augustinus ist die menschliche Geistseele Abbild des trinitarischen Gottes. Anders als das zeitliche Gedächtnis des Menschen ist Gott „ewige Geisttiefe“, anders als die passive Einsicht des Menschen ist der Gottessohn „schöpferischer Logos“, und anders als der schwache Wille des Menschen ist der Wille Gottes „heilende Liebe“. Bezogen auf Klaras Anfangsimpuls eines Denkens angesichts der Ewigkeit hieße das: In der Perspektive der Ewigkeit erkennen wir, dass all unsere Vermögen begrenzt sind und erfahren erst darin unser Denken als frei, ein Gegenüber zu denken, unserer Selbst als ein Anderes zu denken.

So vermeidet Klara zudem einen zu ihrer Zeit auftauchenden Streit zwischen einer „innerweltlichen“ Gottesschau, wie sie von Beguinen und Begharden vertreten wurde und später als Häresie verurteilt wurde, und einer eschatologisch gedachten Schau, die erst am Jüngsten Tag möglich sein würde. Dass Klara Selbsterkenntnis als Erkenntnis im Anderen denkt, wird in einem letzten Brief an Agnes deutlich, den sie kurz vor ihrem Tod schreibt. Dort nennt sie Christus einen Spiegel, in den man täglich schauen soll, um sich selbst in Beziehung zu Leben und Sterben Jesu wahrzunehmen, um (sein) Leben als Leben für den Anderen zu erfahren. In der (Spiegel-)Bildtheologie Klaras geht es also nicht um einen solipsistischen Moment der mystischen Vereinigung, sondern um die Durchdringung und Verwandlung des eigenen Lebens, mithin um konkrete Veränderung durch die Erfahrung, die Wahrnehmung des Anderen. 

Thomas Rentsch bemerkt in seinem Aufsatz „Der Augenblick des Schönen. Visio beatifica und Geschichte der ästhetischen Idee[14] zur Formgleichheit in der Beschreibung ästhetischer Erfahrung und religiöser Erfahrung, dass auch das ästhetische Sehen versucht, die Dinge sub specie aeternitatis zu sehen, also so, dass sie „'die ganze Welt als Hintergrund haben (Wittgenstein)'.“ In der modernen Kunst findet sich dieser Gedanke ausdrücklich in der Arte Povera wieder, etwa in den Arbeiten von Michelangelo Pistoletto (* 1933), der Bilder und Fotos von Menschen oder Alltagsgegenständen auf polierte Stahlplatten applizierte, so dass die Betrachter in diesen 'Spiegel-Bildern' mitspielen, sie Teil des Kunstwerks werden.[15]

Klaras Lebensentwurf spiegelt eine Haltung, die versucht, in der Welt ein menschliches Antlitz zu erkennen, die Dinge so sehen, dass das Bild einer menschlich verfassten Wirklichkeit entsteht. Dieser besonders in Italien kultivierte Blick für die Schönheit des Alltäglichen vermittelt auch die Malerei von Giorgio Morandi (1890-1964). „In langen Jahren und in großen Abständen fand Morandi einmal in Florenz bei einem Händler eine Flasche, ein andermal in Rom in einer Vitrine eine Vase, oder in der Via Fondezza in Bologna, wo er lange lebte, ein Tongefäß, in der Nähe seines Ateliers, also im Viertel der Kunsthandwerker, des Bologna minore. […] Diese Objekte also galten Morandi als Gegenstände, geeignet das Licht einzufangen, sein Licht der Emilia im Bilde zu vermitteln: das Empfinden des Lichtes als Aufheben von Zeit als ihr suggestives Anhalten, so wie es einzig im Kunstwerk zu geschehen scheint“, schreibt Castor Seibel und zitiert nachfolgend, was der Schriftsteller Leone Longanesi über Morandis Kunst gesagt hat: „Eines seiner Bilder sehen heißt, sein Wesen, sein Haus, seine Stadt zu erkennen. Seine wie staubverschleierten Farben sind jene des Bologna der kleinen stillen Straßen mit den Terracotta-Boutiquen, den Öfen, der kleine Geschäfte. Seine delikaten und zarten Farben sind jene gefilterten der Straße, in der er wohnt, seiner Via Fondezza.[16]

In der zeitlichen Perspektive ist das Leben unendliche Wiederholung der immer gleichen Prozesse von Entstehen und Vergehen; in der Perspektive der Ewigkeit, in der Perspektive dessen, was dauern soll, wird das Leben dagegen zu einem Weg, dem Lebensweg jedes einzelnen – wie in dem Video „Ein Leben“ (1987) von Marius Müller-Westernhagen, der singt „Ich kann dir nicht erklären, was ich dir sagen will. Ich kann dir nicht erklären, was ich fühl. Doch wenn ich das Licht seh, kann ich dich verstehen. Doch wenn ich das Licht seh, will ich mit dir gehen. […] Nimm mich mit, zeige mir den Weg. Nimm mich mit, eh der Wind sich dreht. Nimm mich mit - über den Horizont. Nimm mich mit, die Anderen warten schon ...“.

Nachhaltige Bildung oder: der pädagogische Spiegel

Klaras Modell der ungeschminkten Selbstbetrachtung mahnt vielleicht auch unser mühsam erstrittenes und vielfach deformiertes Bildungsmodell an: Bildung – das ist eine Errungenschaft der Aufklärung – darf nicht nur als Besitz verstanden werden, als Kompetenz, die es zu erwerben gilt, um sozial wettbewerbsfähig zu sein, wie es in gegenwärtigen Bildungsdebatten wieder und wieder beschworen wird. Bildung muss vielmehr als Einsicht in die Offenheit des Menschen, als Zutrauen in die Selbstbildung durch andere und anderes erläutert werden. Bildung ist ein offenes Projekt der Menschwerdung. In diesem Sinne hält der Brockhaus fest:

„Unter Bildung versteht man sowohl den Prozess, in dem der Mensch seine seelisch-geistige Gestalt gewinnt, als auch diese Gestalt selbst („innere Bildung“). Darüber hinaus wird auch das Wissen, insbesondere das Allgemeinwissen auf traditionell geisteswissenschaftlichem Gebiet, und mittlerweile auch die berufliche Bildung […] als Bildung bezeichnet. Gleichwohl wird nach wie vor zwischen Bildung schlechthin, bei der die Freiheit zu Urteil und Kritik im Vordergrund steht, und Ausbildung, der gewissermaßen als 'Makel' die Anpassung an vorgegebene Verhältnisse anhaftet, unterschieden.“

Bildung ist auch ein Besitz, ja. Man kann auf sie zurückgreifen, sie einsetzen, um Dinge zu verstehen und um sich verständlich zu machen, um sich untereinander zu verständigen. Aber Bildung darf zugleich kein Besitz sein, wie Adorno reflektiert:

„Bildung ist in sich antinomischen Wesens. Sie hat als ihre Bedingung Autonomie und Freiheit, verweist jedoch zugleich […] auf Strukturen einer dem Einzelnen gegenüber vorgegebenen, in gewissem Sinne heteronomen und darum hinfälligen Ordnung, an der allein er sich zu bilden vermag. Daher gibt es in dem Augenblick, in dem es Bildung gibt, sie eigentlich schon nicht mehr.“

Bildung in einem emanzipatorischen Sinne, d.h. als Vision einer selbst ausgebildeten Bildung auf der einen und als Idee einer institutionellen Fortschreibung von Allgemeinbildung auf der anderen Seite, hat offenbar etwas mit sensiblem Gegenwartsbewusstsein zu tun, um sich Vergangenheit und Zukunft vorstellen zu können und zu wollen. Es muss für Menschen vorstellbar sein, die Welt neu zu gestalten, die eigene und die umgebende, und es muss dabei ein Wissen um die Gestalt der vergangenen und gegenwärtigen Welt geben. Nur wer sich in dieser Weise orientieren kann, gibt sich und anderen die Möglichkeit zur Veränderung. So wie es Prozesse der kulturellen Aneignung geben muss, muss es auch Prozesse der Enteignung von Kultur geben, dann nämlich, wenn „kulturelle Rückbildungen“ einsetzen, Regressionen, Überformungen, die sich bilden „wenn das Kraftfeld, das Bildung hieß, zu fixierten Kategorien erstarrt ist.[17]

Immanuel Kant ging davon aus, dass die Pädagogik eine Wissenschaft werden müsse, eine praktische Wissenschaft. Denn nur wenn wir reflektieren, was die Bedingungen der Möglichkeit einer Erziehung zum Menschen sind, erziehen wir Menschen. D.h. nur wenn wir einsehen, in welchem Verhältnis Erziehung zur Freiheit steht, erziehen wir zur Freiheit. Erst wenn Erziehung in der Vergegenwärtigung ihres Grundes aus Freiheit vorgeht, erfüllt sie für Kant den Anspruch einer Wissenschaft und kann überhaupt Pädagogik genannt werden.

Die Bedeutung, die die Pädagogik bzw. Erziehung in Kants Denken hatte, entnehmen wir heute einer Zusammenstellung von Aufzeichnungen aus seiner Pädagogik-Vorlesung 1776, die sein Schüler D. Friedrich Theodor Rink 1803 veröffentlichte.[18] Sie hatte offenbar in seinem Denken eine Art Scharnierstellung, insofern er darin die Theorie des Erkennens mit der des Handelns zusammendenkt. Um Menschen zu selbst denkenden und aus Freiheit verantwortlich Handelnden zu erziehen, muss man den Menschen als selbst denkenden und aus Freiheit Handelnden voraussetzen; so heißt es in der Pädagogik-Vorlesung: „Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung […] Es ist zu bemerken, dass der Mensch nur durch Menschen erzogen wird, durch Menschen, die ebenfalls erzogen sind.“ Lutz Koch pointiert diesen scheinbaren Zirkel, indem er schreibt: „Da die Pädagogik [...] auf Anregung und Erweckung von etwas zielt, was der Heranwachsende und überhaupt jeder nur selbst erwirken kann, ist sie im Kernbereich der Erziehung wirkungslos.[19] Die Betonung liegt jedoch auf „Kernbereich“. Im Kern geht es eben nicht um Einwirkung, um Formung, um Prägung, sondern darum, diesen ungegenständlichen Kern im Menschen für den Menschen freizulegen und so Vertrauen in die Eigenbewegung zu schaffen.

Nach Kant vermag nur das Setzen auf Freiheit aus Freiheit Pädagogik als Wissenschaft zu etablieren, diese Einsicht ist also Voraussetzung unseres Auftrags zur Bildung und nicht sekundär. Es geht um eine Bildung, die Hilfestellung gibt im Umgang mit einem zunehmenden Wissen um die Grenzen und Möglichkeiten der eigenen Freiheit. Kant findet dafür die Bezeichnung „Erziehungskunst“. „Weil die Entwicklung der Naturanlagen bei dem Menschen nicht von selbst geschieht, so ist alle Erziehung – eine Kunst. - Die Natur hat dazu keinen Instinkt in ihn gelegt.“ Sie sei keine reine Anleitung zur Anpassung an bestimmte Gegebenheiten und Anforderungen, sondern sie ermöglicht die Erfahrung und Gestaltung der eigenen Freiheit, um den selbstbestimmten und verantwortlichen Umgang mit diesem singulären Vermögen zu entwickeln und zu lernen. Kant unterscheidet zwischen einer rein „mechanischen“ Ausbildung, die nur darauf zielt, mit Bestimmtem „fertig zu werden“, und einer „judiziösen“ Erziehung, also einer Erziehung zur eigenen Urteilsfähigkeit, zu einem mündigen Menschen. Zu dieser „Kunst der Erziehung“ heißt es:

„Der Ursprung sowohl, als der Fortgang dieser Kunst ist entweder mechanisch, ohne Plan, nach gegebenen Umständen geordnet, oder judiziös. Mechanisch entspringt die Erziehungskunst bloß bei vorkommenden Gelegenheiten, wo wir erfahren, ob etwas dem Menschen schädlich oder nützlich sei. Alle Erziehungskunst, die bloß mechanisch entspringt, muss sehr viele Fehler und Mängel an sich tragen, weil sie keinen Plan zum Grunde hat. Die Erziehungskunst oder Pädagogik muss also judiziös werden, wenn sie die menschliche Natur so entwickeln soll, dass sie ihre Bestimmung erreiche. […] Der Mechanismus in der Erziehungskunst muss in Wissenschaft verwandelt werden, sonst wird sie nie ein zusammenhängendes Bestreben werden, und eine Generation möchte niederreißen, was die andere schon aufgebaut hätte […] Kinder sollen nicht dem gegenwärtigen, sondern dem zukünftig möglich bessern Zustande des menschlichen Geschlechts, das ist: der Menschheit.. erzogen werden. Dieses Prinzip ist von großer Wichtigkeit. Eltern erziehen ihre Kinder nur so, dass sie in die gegenwärtige Welt, sei sie auch noch so verderbt, passen. Sie sollten sie aber besser erziehen, damit ein zukünftiger besserer Zustand dadurch hervorgebracht wird.“

In der eigentlichen Abhandlung zur wissenschaftlichen Pädagogik unterscheidet Kant die physische und die praktische Erziehungslehre. Zur physischen Erziehung gehört die körperliche Pflege und die Sorge um das Kind, das Anleiten zur Kultivierung des eigenen Körpers durch Bewegung, die nachahmende Gestaltung und geistige Übungen, etwa des Gedächtnisses. Es geht mit heutigen Worten um einen offen, angstfreien Charakter. Die praktische Erziehung ist die eigentlich moralische Erziehung, „durch die der Mensch soll gebildet werden, damit er wie ein frei handelndes Wesen lieben könne. (Praktisch nennt man alles dasjenige, was Beziehung auf Freiheit hat.) Sie ist Erziehung zur Persönlichkeit, Erziehung eines frei handelnden Wesens, das sich selbst erhalten, und in der Gesellschaft ein Glied ausmachen, für sich selbst aber einen innnern Wert haben kann.“ Wie sich diese Erziehung zur verantwortlichen Freiheit vollzieht, beschreibt Kant in drei Schritten: Es bedarf nach Kant der Unterweisung, d.h. der Vermittlung von Traditionen und Wissen, er nennt dies die „scholastisch-mechanische Bildung“. Sie soll Erfahrungen vom Wert des Individuums und damit auch des eigenen Ichs vermittelt. Daran schließt sich die „pragmatische Bildung“, sie vermittelt dem Heranwachsenden eine Vorstellung von der Gemeinschaft, der er als Bürger angehört. Als drittes folgt die „moralische Bildung“, sie vermittelt ihm die menschliche Würde jedes einzelnen. Kant erläutert diese Erziehung als einander aufbauende Stufen einer allgemeinen Bildung zum selbstverantwortlichen, erwachsenen, moralisch integren Menschen. Obwohl die moralische Bildung, „insofern sie auf Grundsätzen beruhet, die der Mensch selbst einsehen soll“, die „späteste ist“, muss doch von Anfang auf sie geachtet werden, „denn sonst wurzeln sich leicht Fehler ein, bei denen nachher alle Erziehungskunst vergebens arbeitet.“ Darin liegt der Scharniercharakter der Pädagogik, die bei allem zu vermittelnden Wissen immer die Freiheit des zu Erziehenden, also seine Grenzen, in den Blick rücken und zu achten lehren muss. 

Kant warnte: „Eltern erziehen ihre Kinder gemeiniglich nur so, dass sie in die gegenwärtige Welt passen, sei sie auch noch so verderbt. Sie sollten sie aber besser erziehen, damit ein zukünftiger besserer Zustand dadurch hervorgebracht wird.“

Was das heißt, reflektiert eine Arbeit der Künstlerin Georgina Starr (*1968). Im Projekt „The Bunny Lakes“ (2002) re-inszeniert sie die Narrative zweier amerikanischer Thriller aus den 60er Jahren: „Bunny Lakes is missing“ (1965) von Otto Preminger und „Targets“ (1967) von Peter Bogdanovich. Im ersten verschwindet ein Kind mit Namen Bunny Lake aus dem Kindergarten. Je länger die Suche der verzweifelten Mutter nach ihrer Tochter Bunny andauert, umso mehr zweifelt ihr Umfeld – und mit ihm der Zuschauer –, ob es Bunny überhaupt gibt oder die Mutter nicht psychisch erkrankt ist, bis sich herausstellt, dass Bunny doch Opfer eines Verbrechens wurde und ihr Mörder eben der Mensch war, der der Mutter am nächsten stand. Im zweiten Film geht es um den Amoklauf eines jungen Mannes, Bobby, der sein Cabriolet mit Waffen füllt, seine Eltern und eine junge Frau ermordet und schließlich in einem Autokino durch ein Loch in der Kinoleinwand Zuschauer erschießt.

Auf ihren Internetseiten zeigt Starr das Storyboard, mit dem sie ihre Route in die Erzählungen plante:

„The painting acts as a portal to a parallel universe whose setting is the former 'Reseda Drive-In' in the San Fernando Valley, California (the original drive-in used in Bogdanovich's film). It functions as a schematic for the entire 'Bunny Lake Series'.“

Starr entwirft verschiedene Szenarien, die einzelne Filmszenen nachstellen. Statt der Protagonisten tauchen aber immer „Bunny Lakes“ auf, Kinder in einem weißen Häschen-Kostüm und schwer bewaffnet. Diese „Häschen“ sitzen im Cabriolet (The Bunny Lakes Are Coming), sie fahren auf den Rastplatz vor das Kino (Bunny Lake Drive-In), sie haben sich unter eine Role-Model-Modenschau gemischt (The Bunny Collection), und sitzen in einem Garten und feiern Kindergeburtstag (Bunny Lake Garden).

So „explodiert“ in der Fiktion ein „paralleles Universum“, in dem unsere moderne (weiße) Gesellschaft mit all ihren Verdrängungen und ihrer Lust an Gewalt wie in einem Brennspiegel sichtbar wird. „Unsere Welt möchte kindlich sein, um den Anschein zu erwecken, die Erwachsenen stünden draußen in der realen Welt. Man will verbergen, dass die wirkliche Infantilität überall ist und dass die Erwachsenen selbst hier Kind spielen ...[20]. In weißen Häschen-Kostümen verkleidet, mit ernstem Blick und einer Waffe in der Hand – das haben wir aus unseren Kindern gemacht, damit sie in die Welt passen, das ist das (Spiegel-)Bild, nach dem wir Menschen formen.

Nachtrag oder: endless war

„Der Zaun am Ende der Welt“ heißt ein Buch von Reinhard Kaiser aus dem Jahr 1989, in dem er Erzählungen und Mythen über das Ende der Welt literarisch nachgeht. In dem Kapitel mit der Überschrift „Flüchtige Gäste“ schreibt er:

„Was sich die Menschen und ganze Gesellschaften erträumen, was ihnen für den Augenblick unerreichbar ist, das siedeln sie – näher oder ferner – in Räumen an. Entweder im geographischen Raum oder im Zeit-Raum, hinter dem Horizont oder in der Zukunft. Beide, der 'Wunschraum' und die 'Wunschzeit' sind nicht für immer und ewig unzugänglich. Der Fortschritt führt hin. Diesen Fortschritt denken wir uns gewöhnlich als Bewegung in der Zeit, hin zu einer besseren Zukunft. Aber was geschieht mit dem Fortschritt, wenn die Wunschzeit knapp zu werden droht?“[21]

Ja, was geschieht mit dem Fortschritt? Es scheint gegenwärtig mehr denn je, wie Baudrillard schrieb: „Keine unserer Gesellschaften ist dazu fähig, ihre Trauerarbeit über den Verlust des Realen, der Macht und sogar des Sozialen selbst zu leisten.“ Wir verlieren uns immer mehr in „unserer Wüste, in der Wüste des Realen selbst“.

Anmerkungen

[1]    Palmer Brown: Anna Lavinia und die andere Seite der Welt, Benziger Verlag: Zürich, Köln 2/1973.

[2]    Lewis Carroll: Through the Looking-Glass, and What Alice Found There, Macmillian publ. UK, 1871.

[3]    Michel Serres: Der Parasit, Frankfurt/M. 1981, S. 135.

[4]    Martina Kreidler-Kos: Profil entwickeln – Zur Geschichte Klaras, in: Gewagtes Leben. 800 Jahre Klara und ihre Schwestern. Martina Kreidler-Kos / Ancilla Röttger (Hrsg.), Freiburg/Br. 2011, S. 14-15.

[5]    M. Kreidler-Kos / N. Kuster / A. Röttger: „Den armen Christus arm umarmen“. Das bewegte Leben der Klara von Assisi: Antworten der aktuellen Forschung und neue Fragen, in: Klara von Assisi. Zwischen Bettelarmut und Beziehungsreichtum. Beiträge zur neueren deutschsprachigen Klara-Forschung, hrsg. v. Bernhard Schmies. Franziskanische Forschungen, Bd. 51, Münster 2011 [künftig zitiert: Franziskanische Forschungen], S. 88.

[6]    Ancilla Röttger: Die archäologischen Untersuchungen in San Damiano. Interpretierende Zusammenfassung des Grabungsberichts, in: Franziskanische Forschungen, S. 529-558.

[7]    Chiara di Assisi. Una vita prende forma. Iter storico [Secundum Perfectionem Sancti Evangelii. La forma di vita dell'ordine delle sorelle povere vol. II], Federazione S. Chiara di Assisi delle Clarisse di Umbria-Sardegna (ed.), Padua 2005.

[8]    A. Röttger, a.a.O., in: Franziskanische Forschungen, S. 77.

[9]    Dritter Brief von Klara an Agnes von Prag (3ClEp 6: III Epistola S. Clarae ad eandem S. Agnetem de    Praga, in: Opuscula S. Francisci et Scripta S. Clara. Assisiensium. Variis adnotationibus et indicibus cura et studio Ioannis M. Boccali ofm [Pubblicazioni della Biblioteca Francescana Chiesa Nuova – Assisi. 1], Assisi 1978, S. 429).

[10]   Elena Filippi / Harald Schwaetzer (Hrsg.): Spiegel der Seele. Reflexionen in Mystik und Malerei [Texte und Studien zur europäischen Geistesgeschichte, Reihe B, Bd. 3], Münster 2012.

[11]   Augustinus Bekenntnisse. Nachwort und Anmerkungen von Hans Urs von Balthasar, München 1955, S. 186.

[12]   Ebd., S. 179.

[13]   Irenäus, zitiert nach: Wolf-Dieter Hausschild: Gottes Geist und der Mensch. Studien zur frühchristlichen Pneumatologie, München 1972, S. 209.

[14]   Thomas Rentsch: Der Augenblick des Schönen. Visio beatifica und Geschichte der ästhetischen Idee, in: Jörg Herrmann / Andreas Mertin / Evenline Valtink (Hrsg.): Die Gegenwart der Kunst, München, S. 126.

[15]   Castor Seibel: Im Lichte Giorgio Morandis, in: Ausst.Kat. Giorgio Morandi. Mit der Sammlung Lohmann, hrsg. v. Heiner Hachmeister, Münster 1998, S. 6-7.

[16]   Vgl. Colette M. Schmidt: Michelangelo Pistoletto. Der Blick ins eigene Gesicht und in die arme Welt hinaus. Zur Ausstellung seines Frühwerks in der Neuen Galerie, Graz 2012, Der Standard, 12.6.2012.

[17]   Adorno: Adorno, Theorie der Halbbildung, in: Soziologische Schriften 1, Frankfurt/M. 1979, S. 93.

[18]   Immanuel Kant: Über Pädagogik. Hrsg. v. D. Friedrich Theodor Rink, Königsberg 1803. [In:     Immanuel Kant. Ausgewählte Schriften zur Pädagogik und ihrer Begründung. Besorgt von Hans-Hermann Groothoff unter Mitwirkung von Edgar Reimers. Abgedruckt in: Schöninghs Sammlung pädagogischer Schriften, hrsg. von Theodor Rutt, Paderborn 1963]).

[19]   Lutz Koch: Kants Revolutionen, in: Lutz Koch / C. Schönherr (Hrsg.): Kant – Pädagogik und Politk, Würzburg 2005, S. 17.

[20]   Jean Baudrillard: Agonie des Realen, Berlin 1978. S. 27. Die nachfolgenden Zitate: S. 41 und S. 8.

[21]   Reinhard Kaiser: Der Zaun am Ende der Welt, Frankfurt/M. 1989, S. 76.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/100/kw72.htm
© Karin Wendt, 2016