Die Stadt und der Tod ...


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Auf zum letzten Tanz

Wenn der Tod im Musikvideo aufspielt

Andreas Mertin

15. Jahrhundert

Wenn der Tod aufspielt zum letzten Tanz, dann ist seine Erscheinung in aller Regel zeitgenössisch geprägt. Auf dem berühmten Basler Totentanz vom Ende des 15. Jahrhunderts trifft er vor allem auf die, die ihn nicht erwarten und die aufgrund ihrer geschützten gesellschaftlichen Stellung darauf gehofft hatten, dem Tod geordnet (d.h. möglichst spät) gegenüberzutreten.

Während der gemeine Mann „stirbt wie das Vieh“, sind die gehobenen Stände voller Hoffnung auf ein üppiges und erfolgreiches Leben – bis plötzlich der Tod auftritt und seinen makabren Tanz beginnt.

Dabei beweist der Tod viel Humor, er verhält sich keinesfalls nur gleichmacherisch, sondern zeigt in seinem Auftreten eine geradezu ins Mimetische gehende Ironie.

Dem Ritter etwa, der schon seinen Helm in der Schlacht verloren zu haben scheint, tritt er wie eine Spiegelung seiner selbst (oder eines seiner Opfer im Kampf) gegenüber, er ist mit einem Brustpanzer mit Plattenschurz versehen, in der rechten Hand trägt er ein Schwert, das er dem Ritter entrungen hat.

Aber er ist selbst durch einen schweren Schwerthieb auf dem Schädel gekennzeichnet, so dass der Tod hier die Verkörperung eines zuvor vom Ritter Getöteten sein könnte.

Tu fui, ego eris.


1992

Wenn der Tod aufspielt im Videoclip zu „November Rain“ von der amerikanischen Hardrock-Band Guns N‘ Roses, dann ist die menschliche Gesellschaft noch mitten in der Feier des Lebens, alle Zeichen sind auf Hoffnung gesetzt. Das ist die Ironie des makabren Tanzes, dass er nur in seltenen Fällen dort getanzt wird, wo man ihn gerne hätte. Eine ganze Minute umkreist die Kamera den Leadgitarristen Slash, während er vor einer kleinen Holzkirche mit einem kargen Friedhof in New Mexico zum letzten Tanz aufspielt. Der Zuschauer wähnt sich in diesem Moment noch mitten in einer Hochzeitfeier eines jungen Paares, das sich vor einiger Zeit in einer Kneipe kennengelernt hatte und danach spektakulär in einer Großstadtkirche geheiratet hat. Er muss das Gitarrensolo als Feier des Lebens selbst missverstehen. Und es wird im Video noch mehr als 1 ½ Minuten dauern, bis der Ton  der Musik umschlägt und der Leadgitarrist Slash das Piano besteigt und die Abschiedsmelodie intoniert, die das Sterben und die Beerdigung der Braut begleitet. Erst in der allerletzten Szene erkennt der Zuschauer: alles war nur ein (Alp-)Traum des Frisch-Verliebten, ein Memento mori, so wie es auch der Basler Totentanz den Betrachtern vor Augen führt.


1995

Wenn der Tod aufspielt im Videoclip zu „Tha crossroads“ der amerikanischen Hip-Hop-Gruppe Bone Thugs-N-Har­mo­ny, dann sind die Menschen in aller Regel gerade verstorben, denn hier agiert der Tod  als eine Art Seelenverwalter, sozusagen als Todesengel, der zwischen dem Ableben und dem Jüngsten Gericht die Seelen einsammelt und sie dann zum Berg des Weltgerichts bringt. Und er muss unentwegt und unerbittlich tätig werden: er holt den alten Mann beim Kartenspiel ebenso wie das Neugeborene auf der Säuglingsstation, den Aidskranken ebenso wie das Gangmitglied. Vorgestellt wird er hier in guter alter Shaft-Manier aus den 70er-Jahren: mit einem Schwarzen als Darsteller des Todes im Stil des coolen Action-Heldes. Entstanden ist das Video in Reaktion auf den Aids-Tod des Bandmitglieds Eazy-E (der auch persönlich als Schemen auch im Clip auftaucht): And, Wally, even though you're (gone, gone, gone) / You've still got love from (bone, bone, bone) / My nigga, just rest your (soul, soul, soul) / (and we'll see you at the Crossroad).


1996

Wenn der Tod aufspielt im Videoclip zu „How come, how long“ des Sängers Babyface, dann thematisiert er die schrecklich normale Banalität eines konkreten Todes und seiner Vorgeschichte.

Ja, der Tod ist in den Städten, in den Häusern, in den Wohnungen neben, über und unter uns. Und er kündigt sich nicht immer mit barocken Klängen, sondern allzu oft mit verzweifelten Schmerzensschreien und Wimmern an.

Konkret erzählt wird der Fall einer talentierten jungen Frau, die an den falschen Mann gerät, der sie wieder und wieder vor den Augen ihres Kindes schlägt. Die Nachbarn hören die Schreie, aber sie intervenieren nicht. Am Ende packt die Frau verzweifelt ihre Sache, um zu fliehen und wird dabei von ihrem Mann überrascht ...

Als nächstes sehen wir eine bedeckte Leiche vor dem Mietshaus des Paares liegen. Erst in der letzten Sequenz erkennt der Zuschauer, dass es die Frau war, die den Mann voller Angst zu Tode gestürzt hat.


1997

Wenn der Tod aufspielt im Videoclip zu „Ghost“ von Michael Jackson, dann befinden wir uns quasi schon ganz auf seinem Territorium. Hier ist das Skelett ein Wiedergänger, Anführer einer Gruppe von Geistern in einem verwunschenen Haus umgeben von einem Friedhof.

Ein Lehrer ist mit einer Schulklasse an einem außerschulischen Lernort, der sich dann als Geisterhaus erweist.

Der makabre Tanz, den Micheal Jackson mit „Ghost“ am Ende des 20. Jahrhunderts aufführt, ordnet sich ein in eine Totentanzmodewelle am Ende des 20. Jahrhunderts.

Plötzlich war es ‚in‘ als Skelett durch die Musikvideos zu geistern. Schon 1983 in „Thriller“ hatte Jackson seine Vorliebe für Horror-Szenarien zu erkennen gegeben.

In Ghost tritt Jackson gleich dreifach auf: als älterer Lehrer, in dem ein veritabler Tänzer steckt, als Geisterclanführer, der die Gesetze der Naturwissenschaft überschreitet und als tanzendes Skelett, das in einen Tanzwettbewerb mit dem Lehrer tritt.

Der Tod spielt als Tod, der das Leben beendet, im Videoclip keine Rolle. Dafür wird der Totentanz als solcher nach den technischen Möglichkeiten der Zeit eindrücklich inszeniert.

Aber Michael Jackson ist zu sehr in die technischen Möglichkeiten verliebt und vergibt so die Chancen, die im Thema liegen könnten.


1998

Wenn der Tod aufspielt im Videoclip zu „Rabbit in your headlight“ von U.N.K.L.E. (James Lavelle), dann wird er es zum ersten Mal bei den von uns gewählten Beispielen vergeblich tun. Der Zuschauer sieht einen Mann geradezu irrwitzig inmitten rasender Autos durch einen Autotunnel laufen. Der Mann brabbelt unverständliches Zeug vor sich hin und wird zunächst an-, dann überfahren.

Aber er stirbt nicht, ja er wird nicht einmal wirklich verletzt, bleibt nur kurz liegen, rappelt sich wieder auf (springt dem Tod von der Schippe, wie man so schön sagt) und setzt seinen surrealen Lauf fort.

In für den Zuschauer schmerzhafter Penetranz wiederholt sich das Ganze, bis der Mann schließlich stehenbleibt, seinen Parker ablegt und mit nacktem Oberkörper und christusgleich ausgebreiteten Armen auf den nächsten heranrasenden Wagen (einen Mercedes) wartet, der dann überraschenderweise spektakulär an ihm zerschellt. Thematisch wird so auch ein altes Motiv europäischer Märchen: die Geschichte vom genarrten Tod.


1999

Wenn der Tod aufspielt im Videoclip zu „Hey Boy Hey Girl“ der Gruppe The Chemical Brothers dann zeigt er sich als entscheidende Größe hinter allem.

Wohin man blickt, noch das blühendste Leben erweist sich unter der Hand/Haut als Totentanz.

Die Story ist simpel. Bei der Vorbereitung zu einem Besuch im Naturkundemuseum studiert ein Mädchen ein Buch über die Skelettstruktur der Tiere und sieht nun bald überall Skelette: in der eigenen Hand, bei den Tieren im Museum, auf dem Röntgenbild nach einem Unfall, im Spiegel bei der morgendlichen Toilette, beim Besuch und beim Tanzen in der Disko, später auf der Straße und zuletzt im Taxi ...

Ich sprach in meinem Herzen: Es geschieht wegen der Menschenkinder, auf dass Gott sie prüfe und sie sehen, dass sie an sich selbst sind wie das Vieh.

Denn es geht dem Menschen wie dem Vieh: wie dies stirbt, so stirbt er auch, und haben alle einerlei Odem, und der Mensch hat nichts mehr als das Vieh; denn es ist alles eitel. Es fährt alles an einen Ort; es ist alles von Staub gemacht und wird wieder zu Staub.

Es ist, als ob der Totentanz die Grundlage aller Dinge wäre.

Angeknüpft wird hier an die Memento-Mori-Kultur in Europa etwa des 16. Jahrhunderts.



2000

Wenn der Tod aufspielt im (zeitweise sogar indizierten) Videoclip zu „DJ Rock“ von Robbie Williams dann sind wir ebenfalls bei den tanzenden Skeletten.

Aber auch wenn die Darstellung den mittelalterlichen Totentänzen vielleicht sogar am nächsten kommt, so wirkt hier doch alles sensualistisch kalkuliert und damit unwahrhaftig.

Ums Memento mori geht es hier am allerwenigsten. Thema ist vielmehr die knappe Ressource Aufmerksamkeit. Was muss ein Popstar tun, um von seinen Fans beachtet zu werden?

Dazu zieht er sich zunächst den Pullover, dann die Unterwäsche und später die Haut vom Leib, bis schließlich nur noch der Auftritt als blutiges Skelett übrig bleibt.

Das kalkulierte Spiel mit dem Tod bzw. mit den letzten Dingen, so muss man das wohl verstehen, gehört heute zu den Handlungsoptionen der Popstars.

Was bei Robbie Williams aber durchaus noch (wenn auch wenig glaubwürdig) kritisch intendiert war, wurde dann spätestens von Lady Gaga missverstanden und als ganz normale Geste im künstlerischen Inszenierungs-Repertoire interpretiert.

Das sorgt zwar weiterhin für die erwünschte mediale Öffentlichkeit, aber trennt sich vollständig von irgendwelchen inhaltlichen Impulsen ab.

Das letzte, woran man bei Lady Gaga denkt, ist der Totentanz, eher schon denkt man an den Dance macabre.



2002

Kann man dem kommenden Tod selbst ein Lied vorspielen? Den eigenen Tod vor Augen singt der 2003 verstorbene Johnny Cash mit „Hurt“ einen Song, den er von der Gruppe Nine Inch Nails gecovert hat.

I hurt myself today
To see if I still feel
I focus on the pain
The only thing that's real
The needle tears a hole
The old familiar sting
Try to kill it all away
But I remember everything
What have I become?
My sweetest friend
Everyone I know
Goes away in the end
You could have it all
My empire of dirt
I will let you down
I will make you hurt.

Cash bzw. der hier tätige Video-Regisseur Mark Romanek bricht mit dem klassischen Totentanzdrama, inszeniert das Stück vielmehr im Sinne der neuzeitlichen religiösen Subjektivität, in der Tod nicht dem Menschen als objektives Faktum gegenübertritt, sondern zur existentiellen Fragestellung wird. Es ist nicht mehr der Tod, der den Menschen, sondern der Mensch der den Tod befragt.


2011

Wenn der Tod aufspielt im Videoclip zu „The Day“ von Moby, dann geht das eigentliche Geschehen erst los. Denn nach der hier gespiegelten katholischen Vorstellung kommt nun der entscheidende Kampf der Erzengels Michael mit dem Teufel um die Seele des Sterbenden / Verstorbenen, den wir hier grandios inszeniert beobachten können. [Vgl. Verf.: Last Day Angel. Zur aktuellen Ikonographie des Religiösen V.]


2013

Wenn der Tod aufspielt im Videoclip zu „True Love“ von Eivør, dann ist er zunächst wie auf den mittelalterlichen Totentänzen ganz traditionell der Bote, der die Verstorbenen abholt und analog zur griechischen Mythologie zur Fahrt mit dem Fährmann Charon über den Styx in den Hades geleitet.

Er hat eine Liste, die er abarbeitet, und auf der wie von Geisterhand die Namen derjenigen erscheinen, die er abholen muss.

So wie dieses Mal der Name einer alten Frau, die gestorben ist. Nur dass hier eine junge Frau am Totenbett wacht, in die der Tod sich unsterblich verliebt.

Aber alles, was er anfasst, muss sofort vergehen, weshalb er jeden körperlichen Kontakt mit der Frau vermeidet. Als er ihre Hände dennoch einmal berührt, altern diese sofort um Jahrzehnte.

Um diese Grenze zu überwinden, tauscht der Tod mit einem seiner „Opfer“ die Rollen. Er bekommt das menschliche Leben und der andere wird zum Tod.

Sofort eilt der Mensch gewordene Tod zu seiner Freundin – allein er kommt zu spät.


2015

Wenn der Tod aufspielt im Videoclip zu „Age of Transparency“ von Autre Ne Veut, dann knüpft er unmittelbar an die Vorstellungen an, die wir eben kennengelernt haben, nur dass er die Idee, dass der Tod alles was er anfasst, verwandelt, aus dem Mittelalter in die Zukunft transformiert. Hier laufen wir durch eine transluzide Zukunft, in der wir auf Menschen stoßen, die zu Stein erstarrt sind. Nach und nach erkennen wir, dass es der Sänger ist, der alles, was er anfasst, zu Tode erstarren lässt. Das Zeitalter der absoluten Transparenz ist das Zeitalter des abgestorbenen Lebens.


2016

Wie der Tod aufspielt im Videoclip zu „Blackstar“ von David Bowie erfahren Sie hier.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/101/am545.htm
© Andreas Mertin, 2016