August 2016

Liebe Leserinnen und Leser,

mit dieser Ausgabe des Magazins für Kunst, Kultur, Theologie und Ästhetik beglückwünschen wir unseren Autor und Freund Hans-Jürgen Benedict zum 75. Geburtstag. Viele Bilder hätten als Leitbild der aktuellen Ausgabe dienen können. Der Jubilar hatte sich, befragt nach einem adäquaten Titel des Heftes zu seinem Jubiläum, für „Vita brevis ars longa“ entschieden. Dieses Zitat wird dem griechischen Arzt Hippokrates zugeschrieben:
Ὁ μὲν βίος βραχύς, ἡ δὲ τέχνη μακρά.

Der sprichwörtlich gebrauchte lateinische Wortlaut wird in indirekter Rede in der Schrift De brevitate vitae (‚Über die Kürze des Lebens‘) des römischen Philosophen Seneca überliefert:

„Der größere Teil der Menschen ... beklagt sich über die Missgunst der Natur, nämlich dass wir nur für eine kurze Lebenszeit geboren werden und dass so schnell und stürmisch die uns gegebene Lebensfrist abläuft, und zwar so, dass mit Ausnahme nur weniger das Leben die übrigen bereits bei der Vorbereitung des Lebens im Stich lässt. Und über dieses allgemeine Übel, wie man meint, seufzt nicht nur die große Masse und der unwissende Pöbel. Dieses Gefühl hat auch Klagen berühmter Männer hervorgerufen. Dazu gehört jener Ausspruch des größten Arztes, das Leben sei kurz, lang die Kunst.“

Deshalb war eigentlich ein Bild aus dem Alten Rathaus in Göttingen Favorit der Redaktion. Es zeigt unter dem Sprichwort einen Gelehrten, der über einen Totenschädel meditiert.

Es ist ein wenig wie auf den frühneuzeitlichen Bildern von Hieronymus im Gehäuse (etwa von Marinus von Reymerswaele), bei dem dieser auch immer einen Totenschädel auf dem Schreibtisch hat und über das Leben, über die Vergänglichkeit der Schöpfung, vor allem aber inmitten einer Fülle von Literatur über die Heilige Schrift nachdenkt.

Letzteres führte uns dann zur jetzt getroffenen Bildauswahl. Es ist ein Kunstwerk von Ludger tom Ring d. Ä. (1496–1547) und zeigt den Dichter Vergil (70v.-19n.). Das Bild wurde um 1538 mit Öl auf Holz gemalt und ist handliche 44 x 31 cm groß. Es gehört zu einer Bildfolge von fünfzehn Sybillen und Propheten, die ursprünglich an den Wandfeldern im Chorumgang des St.-Paulus-Domes in Münster angebracht war.

Das LWL-Museum für Kunst und Kultur in Münster, wo das Bild heute hängt, schreibt dazu:

Nach der Überlieferung hatten die Seherinnen und Seher bereits in der Antike die Ankunft Christi vorausgesagt. Ludger tom Rings Bildfindungen sind in der Tradition der westfälischen Tafelmalerei der Gotik verankert und zeigen die weiblichen und männlichen Wahrsager in orientalischer Gewandung, um das fremdländische ihrer Kultur zu betonen, und auch in bürgerlicher, zeitgenössischer Tracht, um das Thema für den Betrachter zu aktualisieren. Eine imposante Gestalt ist der Dichter Vergil, dessen Werk nach Ansicht der Zeit ebenfalls Christusprophezeiungen enthielt. Vor dem aufgeschlagenen Buch, in ausholender Geste die Nietbrille vor Augen haltend, ist er als Gelehrter und „Sehender“ dargestellt. Mit realitätsnahen Naturdetails und Gegenständen des häuslichen Lebens im Hintergrund der Tafeln, zeigt sich der Einfluss des Wirklichkeitssinn der frühniederländischen Malerei Robert Campins. Dessen Werke könnte der münstersche Maler während seiner Lehr- und Wanderjahre gesehen haben.

Auf dem genmalten Steinblock unter dem Bild steht jener Spruch aus der Vergilschen Ekloge, der im Mittelalter als Christusprophezeiung gelesen wurde:

Ultima Cumaei venit iam carminis aetas; magnus ab integro saeclorum nascitur ordo. (Schon kam das letzte Zeitalter nach der Prophezeiung der Sibylle von Cumae und die große Abfolge der Jahrhunderte beginnt von Neuem.)


Unsere Festgabe im Hauptteil VIEW besteht aus biographischen Erinnerungen von Christoph Störmer sowie Texten von Horst Schwebel, Andreas Mertin, Jörg Herrmann und Wolfgang Vögele.

Unter RE-VIEW finden Sie Ausstellungsbesuche von Barbara Wucherer-Staar, Überlegungen zu Steve Jobs als religiösem Phänomen von Thomas O.H. Kaiser, eine Erinnerung an die Ostsee-Biennale von Karin Wendt, sowie Rezensionen und ikonographische Reflexionen von Andreas Mertin.

Unter POST finden Sie wie gewohnt die Notizen von Andreas Mertin zu Themen der letzten zwei Monate und eine weitere Ausgabe zu aktuellen Videoclips.

Wir wünschen eine angenehme und erkenntnisreiche Lektüre!

Andreas Mertin, Jörg Herrmann, Horst Schwebel und Wolfgang Vögele