Das Gesangbuch der Gesandten

Eine kirchenmusikpolitische Erkundung

Andreas Mertin

Hans Holbein der Jüngere, Die Gesandten, 1533, Öl auf Holz, 207 x 209 cm, National Gallery, London
[Laute, Gesangbuch und Flöten hervorgehoben].


Spielerischer Prolog

Man muss sich Zeit nehmen für dieses Bild. Ich empfehle den Leserinnen und Lesern, an dieser Stelle nicht mit der Lektüre des Textes fortzufahren, sondern zunächst einmal das Gemälde online z.B. bei Google Arts & Culture zu betrachten. Dort ist es mit einer Bilddatei präsent, die insgesamt satte 215 Megabyte umfasst, was bedeutet, dass man noch den kleinsten Pixel auf dem Bild erkennen kann [Download hier]. Lassen Sie sich Zeit für die Betrachtung des Bildes, beginnen Sie links oben in der Ecke, zoomen Sie z.B. auf 70% und schauen Sie, was Sie entdecken können. Wandern Sie nach und nach durch das Bild, zoomen Sie auf Details und dann zurück zur Totalität des Bildes. Wenn Sie sich satt gesehen und genug Details entdeckt haben, kehren Sie zurück zur Lektüre des Aufsatzes.

Nachdem Sie das Bild erkundet haben, haben Sie Lust auf ein kleines Quiz? Sie können ja jederzeit zur Betrachtung des Bildes zurückkehren.

  • Das Bild datiert in das Jahr 1533 und zeigt auch das Jahr 1533. Wann aber sind dann die beiden dargestellten Protagonisten geboren?
    Die Antwort lautet: der linke im Jahr 1504, der rechte im Jahr 1508. Erkennbar wird das an zwei Details, die der Künstler im Bild versteckt hat. Der linke Protagonist trägt einen Ehrendolch mit der Angabe seines Lebensalters (Aet suae 29), der rechte lehnt sich auf ein Buch, dessen Schnitt auf sein Lebensalter verweist (Aetatis suae 25).

  • Und welchem Orden gehört der linke Protagonist an?
    Antwort: Dem Michaelsorden (siehe die Medaille vor seiner Brust).

  • Erkennbar ist schließlich im Vordergrund des Bildes ein großer, verzerrt dargestellter Totenschädel. Aber es gibt es noch einen zweiten Totenschädel auf dem Bild. Wo ist dieser zweite Schädel? Suchen Sie nach dem kleinen Detail, das hier rechts (um 45° gedreht) abgebildet ist. In der Heraldik wird der Totenkopf in dieser Zeit vor allen von Humanisten genutzt.


Der Maler des Bildes

Hans Holbein, der Maler des Bildes, zählt zu den bedeutendsten Renaissance-Malern, die Deutschland hervorgebracht hat. Er wird 1498 in eine Augsburger Künstlerfamilie geboren, mit der er 1515 nach Basel zieht, weil man sich dort ein besseres Einkommen erhofft. Und hier bekommt der von seinem Vater Ausgebildete seine ersten Aufträge. Er illustriert unter anderem das Lob der Torheit von Erasmus von Rotterdam und die Utopia von Thomas Morus. Beide Personen wird er später im Verlauf seines Lebens auch in Porträts festhalten. Schon hier wird ein Charakterzug Holbeins erkennbar, nämlich mit den großen Gelehrten seiner Zeit zu verkehren und auf sie Bezug zu nehmen. Nach einem Zwischenaufenthalt in Luzern kehrt 1519 nach Basel zurück und wird als Meister der Künstlergilde „Zum Himmel“ aufgenommen. Im gleichen Jahr heiratet er. Die folgenden Jahre sind die produktivsten Jahre von Holbein in Basel. 1521/22 entsteht sein Bild vom Leichnam Christi im Grabe, ein Ölgemälde im extremen Querformat von 30x200 cm, wahrscheinlich für ein Epitaph gedacht. Es ist ein Bild, das von der gemalten Logik her nicht frontal, sondern links von der Seite betrachtet werden muss.

Auch acht Szenen der Passion Christi entstehen in dieser Zeit. 1524 wendet sich Holbein nach Frankreich, vielleicht um dort noch lukrativere Aufträge zu bekommen. Vor allem aber entwickelt er dort seine Technik. Nach seiner Rückkehr nach Basel schafft er u.a. den berühmten Totentanz. 1526 zieht es Holbein nach London.

1528 bis 1532 ist Holbein dann wieder in Basel. Er kauft dort ein Haus und kann später sogar das Nachbarhaus erwerben. Er muss aber auch erleben, dass erstmals in Basel Bilder gestürmt werden: “As early as April 1528 works of art were being removed from several churches in Basle and in February of the following year the churches were deserted during the Bildersturm and the remaining works of art were burned or given away as firewood.”[1] Ob dies ein Grund dafür ist, dass er sich 1532 wieder nach England wendet, ist umstritten. Jedenfalls kommt nun seine große produktive Zeit in London. Und dort entsteht dann 1533 das Bild Die Gesandten. Für den Rest des Lebens wird Holbein in England bleiben, das Angebot des Basler Rats, für ein Jahresgehalt von 50 Gulden zurückzukehrten, schlägt er aus. 1536 wird er Hofmaler von Heinrich VIII. Kolportiert wird, dass der König eine große Schwäche für ihn hatte. Als sich ein Lord über Holbein beschwert, antwortet der König: „Wisset, dass ich aus sieben Bauern in einer Minute sieben Lords, wie ihr es seid machen kann, dass ich aber aus sieben Lords von Eurem Schlage nicht einen einzigen Holbein machen kann.“ 1543 stirbt Holbein an der Pest in London.


Das Bild

Das Gemälde „Die Gesandten“, 1533 Öl auf Holz gemalt, ist 206x209 cm groß. Das bedeutet, dass die beiden Personen in etwa in Lebensgröße abgebildet sind. Dargestellt sind die Diplomaten Jean Dinteville auf der linken und Georges de Selves auf rechten Seite. Das war nicht immer klar, lange Zeit waren die beiden nicht identifiziert. Erst um 1900 gelang es dem Forscher Mary F.S. Hervey, ihre Identität zu ergründen.[2] Man versteht die beiden heutzutage vielleicht am besten, wenn man sie als Hipster ihrer Zeit interpretiert, jung, aufgeweckt, den neuesten Entwicklungen ihrer überaus aufregenden Zeit auf der Spur. Sicher, sie waren je auf ihre Weise in die staatlichen und kirchlichen Machtorgane ihrer Zeit eingebunden, aber Hans Holbein legt sehr viel Wert darauf, durch verschiedene Hinweise ihre Individualität und ihr Interesse an Bildung und Wissenschaft hervorzuheben.

Der Auftraggeber des Bildes, Jean Dinteville, ist ein französischer Gesandter am Hof Heinrichs VIII. Er ist, soweit wir wissen, ein liberaler-humanistischer Katholik, in engem Kontakt mit den Vorläufern der Reformation in Frankreich, einige aus seinem Freundeskreis werden später Protestanten. Dinteville sah durchaus die Probleme der katholischen Kirche seiner Zeit und hoffte auf eine Überbrückung der Differenzen zwischen den Protestanten und den Katholiken. Analoges gilt für Georges de Selve, der bereits als 18-Jähriger 1526 Bischof von Lavaur wurde. Er wurde vom „Ritterkönig“ Franz I. von Frankreich mehrfach als Diplomat eingesetzt. Er besuchte u.a. den Reichstag in Speyer 1529 und konnte dort die Argumente der Protestanten kennenlernen. Die beiden Diplomaten waren miteinander befreundet. Und angesichts eines Treffens der beiden 1533 in London wurde Hans Holbein beauftragt, ein Doppelporträt anzufertigen.

Dafür, dass es sich um ein Doppelporträt handelt, ist die Aufmerksamkeitsökonomie allerdings erstaunlich fehlgeleitet. Die beiden werden etwas randständig dargestellt, die Aufmerksamkeit fokussiert sich sehr schnell auf die dargestellten Gegenstände. Daran hat sich die Kritik lange Zeit gestört. Sie erwartete, dass Menschen zentral gezeigt und durch ihre Charakterzüge dargestellt werden. Im Humanismus ist es aber ebenso plausibel, die Menschen durch die sie umgebenden Gegenstände der Bildung und der Wissenschaft zu charakterisieren.


Der Humanismus im Bild

Das Gemälde Die Gesandten spiegelt in vielfacher Hinsicht das Interesse Holbeins an der intellektuellen humanistischen Kultur seiner Zeit. Sicher, das Bild ist eine Auftragsarbeit für den dargestellten Jean Dinteville, aber zahlreiche Details verweisen darüber hinaus implizit auf Personen der europäischen Hochkultur.

Nichts auf dem Bild ist zufällig, weniges ist sofort offensichtlich, vieles ist verschlüsselt wie in einem Krimi oder rätselhaft wie in einer Folge von Akte X. So sehen wir zum Beispiel auf dem Seitenbord eine kunstfertig erstellte 12-seitige Sonnenuhr. Wir wissen nicht, wer die Sonnenuhr dort abgelegt hat und wem sie gehört. Vielleicht hat Holbein sie selbst mitgebracht. Denn dem Kenner des Oeuvres von Holbein kommt diese Sonnenuhr bekannt vor, sie taucht bereits 5 Jahre zuvor auf einem Porträt des deutschen Humanisten, Mathematikers und Astronomen Nicolaus Kratzer (1487-1550) auf. Nur war die Sonnenuhr damals noch gar nicht fertig, sie wurde auf dem Bild von Kratzer erst kunstvoll zusammengestellt. Auf jenem Gemälde sehen wir übrigens auch einige der astronomischen Instrumente, die wir einige Jahre später auf dem Gemälde Die Gesandten auf dem Seitenbord wiedersehen.

Einen ähnlicher Vorgang der Mehrfachwendung von Ausstattungsutensilien können wir vermutlich auch bei Holbeins Bild eines Unbekannten mit Flöte und Gesangbuch beobachten, das heute in der Berliner Gemäldegalerie hängt und in das Jahr 1534 datiert wird. Leider ist es in einem schlechten Erhaltungszustand, so dass wir nicht wissen, was auf den Blättern des Liederbuches ursprünglich zu sehen war. Aber es dürfte sich um die Laute und das Gesangbuch aus dem Bild Die Gesandten handeln. Dass Holbein die Gegenstände wiederverwendet dürfte nicht etwa der Bequemlichkeit geschuldet sein, sondern verweist auf den symbolischen Charakter, der diesen Stücken zugewiesen wird.

Der zeitgenössische Betrachter sah eben nicht nur eine Sonnenuhr, einen Globus, ein Rechenbuch, eine Laute oder ein Gesangbuch – sondern er sah Elemente der humanistischen Lebenswelt, die für das Quadrivium der Artes Liberales standen, also für den selbstbewussten, kulturell gebildeten Zeitgenossen des 16. Jahrhunderts.


Die Religion im Bild

Nur auf den ersten Blick scheint das Gemälde „Die Gesandten“ kein besonders religiöses Bild zu sein. In Wirklichkeit spielt Religion eine wichtige Rolle. Dafür spricht nicht nur der Zeitpunkt seiner Entstehung. 1531 hatte Papst Clemens VII. unter Androhung der Exkommunikation dem Parlament und anderen staatlichen Institutionen verboten, die Ehe Heinrichs VIII. wie von diesem gewünscht zu scheiden. Trotz noch bestehender Ehe mit seiner Frau Katharina und ohne päpstliche Erlaubnis heiratete Heinrich Anne Boleyn am 25. Januar 1533. 1534 vollzieht Heinrich VII. die endgültige Trennung Englands von der römischen Kirche. Das heißt, die Zeit, in der das Gemälde entsteht ist eine Zeit der hektischen diplomatischen und kirchenpolitischen Aktivitäten. Genau deshalb sind die beiden Abgebildeten in London.

Beide sind keine erzkonservativen Vertreter der katholischen Religion, sondern sehen durchaus die Notwendigkeit für binnenkirchliche Reformen.

Dass wir es mit einem religiös strukturierten Gemälde zu tun haben, zeigen uns vor allem zwei Details ganz deutlich. Zunächst einmal natürlich jenes merkwürdige Element im Vordergrund, das perspektivisch verzerrt ist und das man von einem bestimmten Standpunkt aus betrachten muss. Würde man es entzerren, dann würden wir auf den nebenstehend abgebildeten Totenschädel blicken.

Er sagt den Betrachtenden: Memento mori! Bedenkt, dass ihr bei all dem Handel und all dem Händel dennoch sterben müsst. Er gibt sozusagen die Leitmotivik des gesamten Bildes vor.

Man hat in diesem Totenschädel eine Anspielung auf das letzte Blatt von Hans Holbeins Totentanz von 1526 sehen wollen. Dort steht unter der Überschrift „Das Wappen des Todes“ die Erinnerung an den Satz „Bedenk das Ende, so wirst Du nimmermehr Unrecht tun“ aus dem Buch Jesus Sirach (7, 40). Und zwischen zwei Figuren ist dort ein Totenschädel zu sehen. Angesichts der Prominenz der Platzierung wird man  jedenfalls davon ausgehen können, dass dies auf Wunsch von Jean Dinteville geschah.

Kommen wir zum zweiten Detail. Ganz links oben in der Ecke hängt, fast vollständig hinter dem grünen Vorhang versteckt, ein silbernes Kruzifix von etwa 60 cm Höhe mit einem Corpus von ca. 23 cm. Es ist dennoch ein Detail, das man in der Gesamtkomposition leicht übersieht.

Trotzdem kann man davon ausgehen, dass es von Hans Holbein ganz bewusst – vielleicht auf Wunsch seines Auftraggebers – ins Bild gebracht worden ist. Mary F. S. Hervey nennt es in seiner bereits erwähnten grundlegenden Studie aus dem Jahr 1900 “the most puzzling object of the whole elaborate mise-en-scene”.[3]

Anders als der Totenkopf im Vordergrund, der kaum unterschiedliche Lesarten zulässt, ist die Stärke dieses Details sicher seine Ambivalenz und Deutungsbedürftigkeit. Man weiß ja kaum, ob das Kreuz gerade hinter dem grünen Vorhang verschwindet oder ob es auftaucht, ob es sich um ein gemaltes Silberkruzifix oder um ein gemaltes „gemaltes Silberkruzifix“ handelt.

Mary F. S. Herveys Vermutung im Blick auf die Bedeutung dieses Gegenstandes lautet: „Was it intended as a further indication of the only means by which, in his opinion, the divisions of the Church could be healed and unity re-established?”[4]

Diese Deutung macht meines Erachtens aber nur dann Sinn, wenn man das Kruzifix auf den rechts abgebildeten Bischof Georges de Selve beziehen könnte, denn nur dieser hätte Anlass, sich konkret auf Jesus Christus als einheitsstiftende Kraft der Kirche zu setzen – anders als der Diplomat Jean Dinteville.

Weitergehender scheint mir der Bezug auf jene grundlegende Bedeutung, die der verhüllende Vorhang insgesamt in der Geschichte der Kunst hat und die Leonardo da Vinci in seinem nachgelassenen Traktat über die Malerei so beschreibt:

„Sieht man nicht die gemalten Bilder, welche das Göttliche darstellen mit den kostbarsten Vorhängen verhüllt? Und geschieht es nicht mit feierlichen Riten und Gesängen, wenn man sie enthüllt? Werfen sich nicht alle, die zu diesem Ereignis zusammenströmen, im Augenblick der Bildenthüllung zu Boden, um jenen anzubeten und um … ewiges Heil anzuflehen?“[5]

Das würde dann auch eine Beziehung zum Totenschädel im Bildvordergrund herstellen. Jedes Mal geht es darum, an die Bedeutung des ewigen Heils für den einzelnen Gläubigen bzw. für den Betrachter zu erinnern.


Die Musik im Bild

Bevor wir uns genauer mit dem Gesangbuch beschäftigen, werfen wir noch kurz einen Blick auf die sonstige Darstellung von Musik im Bild. Wir sehen neben dem Liederbuch eine Knicklaute und einige Flöten in einem Bündel. Mary Rasmussen ist in einem Aufsatz den von den meisten Interpreten vernachlässigten Flöten nachgegangen und meint, natürlich könnte in ihnen eine Anspielung auf die militärischen Auseinandersetzungen in Deutschland vorliegen.

In The ambassadors, if the case of flutes is to be interpreted as a military symbol, it might simply represent the Protestant forces of the Schmalkaldic League …[6]

Noch naheliegender findet sie aber einen komplexen Verweis auf Mars und Venus, den sie im Gesamtarrangement zu finden meint:

Or it could represent the planet Mars, whose Children are predominantly soldiers (and their victims) … Just as Venus received Music when the Seven Liberal Arts were paired with the Seven Planets, so Mars received Arithmetic … Perhaps more important to Holbein's iconographical scheme than Mars's potential to symbolize disharmony, was the notion that Mars (here symbolized by the case of flutes) and Venus (here symbolized by the lute) were the parents of Harmonia.[7]

Zumindest ist dies eine weitere Möglichkeit der Deutung des Gemäldes und zeigt, wie viele Gesichtspunkte bei der Analyse zu berücksichtigen sind.

Sehr viel Bedeutung ist in der Rezeption auch der gesprungenen Saite der Laute zugemessen worden.[8] Lauten werden mit Saitenpaaren, so genannten Chören, besaitet, wobei einer der Chöre nur aus einer Saite besteht (hier ganz links zu sehen). Seit dem Anfang des 16. Jahrhunderts gab es die hier abgebildete Laute mit 6 Chören, bis 1500 hatten Lauten vier oder fünf Chöre, später werden es dann immer mehr. Das heißt, die 15 von Holbein abgebildeten Saiten sind in dieser Zeit der Normalfall. Die sechste Saite ist nun gesprungen:

Closer inspection reveals, however, that one string of the lute is broken – a  discovery which yields some further curious results. It is hardly necessary to dwell on the universally accepted interpretation of a broken string as an emblem of Death. In the lute we have thus a further insistence on those melancholy symbols which play so large a part in the composition of the picture. But, beyond this, another more specialized meaning may perhaps have been intended … Viewed in this light, the lute of Holbein's "Ambassadors" acquires a meaning which well agrees with the important position assigned to it in the picture and with the political significance of some of the surrounding objects.[9]

Wie immer man die gesprungene Saite der Laute deutet, sie verweist auf jeden Fall auf eine Welt, in der Brüche existieren und die nicht mehr im harmonischen Zusammenklang ist. Ob man dies tatsächlich auf die Reformation in Deutschland oder die sich abzeichnende religiöse Trennung Englands von Rom beziehen muss, scheint mir nicht zwingend. Mir persönlich würde auch die Assoziation mit der Symbolik des Todes reichen.

Insgesamt ist die Darstellung einer einzelnen Saite einer Laute eine wunderbare Herausforderung für Künstler, wie das nebenstehende Detail aus Caravaggios etwa 60 Jahre später entstandenem Gemälde eines jugendlichen Lautenspielers zeigt.

Auch Caravaggio lässt es sich nicht nehmen, einzelne abstehende Saiten zu malen.


Das Gesangbuch im Bild

Kommen wir nun also zu dem eigentlich Anlass für unsere Betrachtung, zu dem aufgeschlagenen Gesangbuch auf dem Gestell im Bild, das direkt neben der Knick-Laute liegt. Aufgrund der Präzision, mit der Holbein seine Bilddetails ausgeführt hat, können wir das Liederbuch sehr gut identifizieren. Denn die beiden abgebildeten Lieder sind erst wenige Jahre vorher in der vorliegenden Form entstanden. 

Es handelt sich um „Eyn geystlich Gesangk Buchleyn“, herausgegeben von Johann Walter (1496−1570). Es ist das erste Chorgesangbuch der evangelischen Kirche. Es erschien zuerst 1524 in Wittenberg mit einer Vorrede Martin Luthers. Das Buch, auf das wir im Gemälde „Die Gesandten“ blicken, ist freilich nicht die Erstauflage, sondern die 1525 in Worms erschienene zweite Auflage – wenn auch in einer von Holbein leicht veränderten Form.

„Der im thüringischen Kahla geborene Kantor [Johann Walter] gilt als der Urvater der evangelischen Kirchenmusik. Nach der Studienzeit in Leipzig, während der er zum An­hän­ger Martin Luthers wurde, trat Walter 1520 in die sächsische Hofkapelle unter Kurfürst Friedrich dem Weisen ein. Schon bald darauf muss Walter mit dem Reformator selbst in Berührung gekommen sein: 1524 erschien die erste Auflage seines Geistlichen Gesangbüchleins, später nur noch Chorgesangbuch genannt, zu dem Martin Luther die Vorrede geschrieben hat. Diese Choralsammlung wurde von Walter im Laufe seines Lebens mehrfach revidiert und neu herausgegeben und markierte somit Beginn und Fortentwicklung protestantischer Mehrstimmigkeit sowie die Bereitstellung neuer Weisen für den Kirchengesang unter sorgsamer Pflege des deutschen geistlichen Liedsatzes.“[10]


Die Erstauflage erschien 1524 in Wittenberg, eine zweite Ausgabe 1525 in Worms, 1537 die dritte Ausgabe, 1544 die vierte und 1551 die fünfte Ausgabe in Wittenberg. Dabei handelt es sich nicht um Nachdrucke, vielmehr werden immer wieder Umstellungen der einzelnen Lieder vorgenommen, wie die Übersicht in der neuen Partitur-Ausgabe durch Otto Kade 1878 zeigt.



Die Kirchenmusik im Bild I

Zoomt man ganz nah an das auf der linken Seite abgedruckt Lied heran, kann man es unschwer identifizieren. Es handelt sich um das Lied „Komm, Heiliger Geist, Herre Gott“.[11] Die erste auf dem Gemälde zu sehende Strophe stammt aus dem 15. Jahrhundert und ist eine Übersetzung der Antiphon für Pfingsten „Veni Sancte Spiritus, reple tuorum corda fidelium“. Martin Luther dichtete zwei weitere Strophen, die in Johann Walters Gesangbuch 1524 erstmalig erschienen. Die erste Strophe ist mit der heute noch üblichen Melodie um 1480 im Kloster Ebersberg nachgewiesen. Martin Luther setzte dann mit seiner zweiten Strophe reformatorische Akzente, indem er die Bedeutung des Wortes hervorhob: Du heiliges Licht, edler Hort, / laß leuchten uns des Lebens Wort / und lehr uns Gott recht erkennen, / von Herzen Vater ihn nennen. / O Herr, behüt vor fremder Lehr, / daß wir nicht Meister suchen mehr / denn Jesus mit rechtem Glauben / und ihm aus ganzer Macht vertrauen. Halleluja, Halleluja.

Die erste Strophe ist ökumenisch und war im katholischen Gotteslob bis 1975 enthalten.

Der genaue Vergleich der Darstellung auf dem Gemälde mit dem Lied in der zweiten Ausgabe des Walter­schen Gesangbuchs (aus dem es offenkundig übernommen wurde) zeigt nun, dass Holbein die Vorlage fast exakt kopiert hat. Fast, weil er den Schluss des Liedes weggelassen hat und an Stelle des Halleluja, Halleluja die Wiederholung des Wortes gesungen gesetzt hat.

Markus Jenny hat nun vermutet, die auffällige Weglassung des Halleluja diene der Tarnung bzw. der Steigerung der Rätselhaftigkeit des Bildes. Denn jene Betrachter des Bildes, die der deutschen Sprache nicht mächtig waren, hätten spätestens durch das wiederholte Halleluja das Lied als geistliches Lied und – weil deutschsprachig – als potentiell reformatorisches Lied erkannt.[12] Das scheint mir auf den ersten Blick ein durchaus naheliegender Gedanke zu sein [Veronese wurde nicht zuletzt deshalb vor die Inquisition gezerrt, weil auf seinem Gemälde deutsche Landsknechte anwesend waren, weshalb man in ihm einen Sympathisanten der Reformation vermutete]. Freilich kollidiert diese Vermutung etwas mit der anderen These, dass das Lied deshalb dezidiert ausgewählt wurde, weil es die durch den Heiligen Geist bewirkte Einigkeit der Kirche kommuniziere. Das macht aber nur Sinn, wenn es nicht nur eine geheime Botschaft ist, sondern ihr appellativer Charakter auch für den normalen Betrachter erkennbar bleibt. Wenn es aber gar keine ‚normalen‘ Betrachter gibt, sondern nur den eingeweihten Besitzer, macht das Weglassen des Halleluja wenig Sinn. Unbestritten ist aber, dass das Halleluja nicht zufällig weggelassen wurde, wie der Blick auf das zweite Lied zeigt.


Die Kirchenmusik im Bild II

Das zweite Lied ist Luthers Zehn-Gebote-Lied. Spontan könnte man denken, Hans Holbein wolle hier das lutherische Generalthema „Gesetz und Evangelium“ aufgreifen. Zumindest würde das die Gegenüberstellung der beiden Lieder begründen. Die Frage ist, warum Dinteville als Auftraggeber des Gemäldes ein dezidiertes Interesse an diesem Thema gehabt haben sollte.

Unbestreitbar ist aber, dass sich hinter der Darstellung der beiden Lieder eine Botschaft verbirgt. Der Blick in Johann Walters Gesangbuch zeigt schnell, dass es die beiden Lieder in keiner Ausgabe auf gegenüberliegenden Seiten gibt. Komm Heiliger Geist ist das zweite Lied des Buches (in späteren das erste), Mensch willst Du leben seliglich steht auf Seite 19 (in späteren Ausgaben auf Seite 11 bzw. 12). Da bei Holbeins Bildern nichts zufällig geschieht, muss also in der Zusammenstellung der Lieder eine Absicht liegen. Fragt sich nur, welche.


Kirchenmusik als kirchenpolitisches Symbol

Wir verdanken einem fulminanten Aufsatz des reformierten Liturgikers und Hymnologen Markus Jenny im Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie die Einsicht in die kirchenpolitische Bedeutung der Platzierung des lutherischen Gesangbuches auf dem Gemälde von Holbein. Der Text aus dem Jahr 1963 trägt den programmatischen Titel „Ein frühes Zeugnis für die kirchenverbindende Bedeutung des evangelischen Kirchenliedes“.[13] Denn anders, als manche es deuten, muss man den kirchenpolitischen Schwerpunkt nicht auf die gesprungene Saite der Laute (also die entstandene Disharmonie) legen, sondern kann in der Eigentümlichkeit der Darstellung des Gesangbuches einen ökumenischen Impuls erkennen.

Daß das Kirchenlied ein ernstzunehmender „ökumenischer Faktor" ist, hat wohl als erster Graf Nikolaus Ludwig von Zinzendorf deutlich gesehen und diese Erkenntnis auch praktisch fruchtbar zu machen versucht. Die Einsicht aber, daß das Kirchenlied, gerade auch das seit 1524 von Wittenberg aus weithin erschallende evangelische Kirchenlied, eine tragfähige Brücke zwischen den – getrennten Brüdern – und ein Zeugnis für das trotz allen notwendigen Auseinandersetzungen ihnen vom Herrn der Kirche zur Aufgabe gemachte Einssein werden kann, ist viel älter. Das wohl älteste, ebenso eindeutige wie überraschende und ergreifende Zeugnis dafür liefert uns die Kunstgeschichte.

Folgt man Jenny, dann hat Holbein bzw. haben seine Auftraggeber die Auswahl der Lieder bewusst so vorgenommen, dass sie von katholischer wie evangelischer Seite akzeptiert werden konnten, ja indirekt als Erinnerungen an fortbestehende Übereinstimmungen gelesen werden können. Akzeptiert man darüber hinaus die Beschreibung des Auftraggebers Dinteville als eines Diplomaten, dem alle ultramontanen Tendenzen eher zuwider waren und dem ein Interesse an der Reform der Kirche nicht abgesprochen werden kann, geht man zudem davon aus, dass der abgebildete Bischof de Selve durch seinen Kontakt mit dem reformatorischen Bewegungen auf dem Reichstag zu Speyer 1529 ein gewisses Verständnis für diese entwickelt hat, dann kann man die kunstvoll zusammengestellten musikalischen Elemente als Hinweis darauf deuten, dass eine Einigung der Konfessionen denkbar und wünschbar ist:

Qui per diversitatem linguarum cunctarum gentes in unitate fidei congregasti.

Anmerkungen

[1]    Griener, Pascal; Bätschmann, Oskar (2014): Hans Holbein. Revised and Expanded Second Edition. 2. Aufl. London: Reaktion Books, S. 261: “On the two shelves are represented the sciences forming the human ists’ quadrivium – music (lute, flutes, a hymn-book on the bottom shelf to the right), arithmetic (Peter Apian’s treatise published in 1527), geometry and astronomy.” S. 9.

[2]    Hervey, Mary F. S. (1900): Holbeins "Ambassador" the picture and the men. An historical study. London.

[3]    Ebd. S. 232.

[4]    Ebd.

[5]    Zit. nach Belting, Hans (2004): Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst. 6. Aufl. München: Beck, C H., S. 616.

[6]    Rasmussen, Mary (1995): The case of the flutes in Holbein's The ambassadors. In: Early Music XXIII (1), S. 114–123

[7]    Ebd.

[8]    Vgl. Rasmussen, Mary (1995): “There is also general agreement that the lute represents some sort of harmony which has been disrupted (the broken string)” sowie Griener/Bätschmann (2014), a.a.O., S. 263: „a lute whose broken string symbolizes a state of discord“.

[9]    Hervey (1900), a.a.O., S. 227ff. Hervey vermutet globale politische Anspielungen insbesondere auf Italien, die m.E. wenig plausibel sind.

[11]   Ich folge hier der Darstellung der Wikipedia https://de.wikipedia.org/wiki/Komm,_Heiliger_Geist,_Herre_Gott

[12]   Jenny, Markus (1963): Ein frühes Zeugnis für die kirchenverbindende Bedeutung des evangelischen Kirchenliedes. In: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 8, S. 123–128. Hier S. 128.

[13]   Ebd.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/103/am552.htm
© Andreas Mertin, 2016