Syrer bei uns

Eine Buchvorstellung

Andreas Mertin

Helberg, Kristin (2016): Verzerrte Sichtweisen - Syrer bei uns. Von Ängsten, Missverständnissen und einem veränderten Land. Freiburg: Verlag Herder.

Ein notwendiges Buch. Auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob es von denen gelesen wird, die es eigentlich lesen müssten. Jene aber, die in Deutschland mit Syrern zu tun haben, die Patenschaften übernommen haben und persönliche Kontakte mit ihnen pflegen, werden es lesen und ihre Erfahrungen bestätigt sehen. Und das nicht zuletzt deshalb, weil auch das Buch eines ist, das aus persönlicher Betroffenheit entstanden ist. Und während man bei vielen Dingen sagen kann, die persönliche Berührtheit mit dem Untersuchungsgegenstand stünde dem Erkenntniswert im Wege, so gilt das hier nicht: „Der Splitter in deinem Auge ist das beste Vergrößerungsglas.“ (Th. W. Adorno)

Die Autorin, Kristin Helberg, hat viele Jahre in Syrien gelebt, sie ist freie Journalistin, die für zahlreiche Medien gearbeitet hat. Und ihre Perspektive ist die der unmittelbaren Anteilnahme: an der Entwicklung, die Syrien in den letzten Jahrzehnten genommen hat, an der Zuspitzung der Krise in den letzten Jahren und der Emigration vieler Syrer nach Deutschland.


Das Buch beginnt mit einem Rückblick auf die historische Entwicklung Syriens, die den wenigsten Deutschen konkret vor Augen liegt. Wie sich unter Hafid al-Assad eine „Stabilität durch Grabesruhe“ über Syrien legte, ein Totalitarismus, der sich von der Welt abschottete und sich im Inneren durch Protektionismus absicherte. Wie unter seinem Sohn nach 2000 das System zu öffnen schien und doch nur begrenzte Freiheiten und zugleich ökonomische Ungerechtigkeiten entstanden. Wie der Druck auf Oppositionelle immer stärker wurde und die Gewalt des Systems zunahm. Und wie dennoch die Revolution im Jahr 2011 selbst für Oppositionelle überraschend kam. Wie das System die zahlreichen Interessengruppen geschickt gegeneinander ausspielte (und bis heute weiter ausspielt). Wie aus der Verhaftung einiger Kinder ein Volksaufstand wurde und Assad mit brutaler Gewalt reagierte.

Die von ehemaligen Gefangenen geschilderten Folterpraktiken des Regimes sind in Berichten internationaler Organisationen, Interviews und Büchern nachzulesen und menschlich kaum fassbar. Häftlinge werden an den Füßen aufgehängt und mit Kabeln geschlagen, an waagrechten Stangen befestigt, gedreht und mit Knüppeln verprügelt, sie werden gegen die Wand geschmettert, mit Wasser übergössen und unter Strom gesetzt, auf den sogenannten »deutschen Stuhl« geschnallt, der den Körper überdehnt, bis die Wirbelsäule bricht. Ihre Haut wird mit Zigaretten versengt, mit Nagelbürsten blutig gekratzt, mit Rasierklingen zerschnitten. Finger- und Zehennägel werden ausgerissen und verschiedene Körperteile, darunter Genitalien, mit Elektroschocks misshandelt. (37)

Wie sich die Auseinandersetzung nach und nach zum Bürgerkrieg entwickelt. Wie es Assad dennoch gelingt den Eindruck zu erwecken, dass das Assad-Regime angesichts des IS und der anderen Islamisten das geringere Übel sei. Dagegen setzt Helberg, dass man die Gewalt in Syrien in den richtigen Maßstab setzen müsse, um den Konflikt zu verstehen. Und da selbst die von ihr benannten Zahlen unanschaulich sind, habe ich sie einmal in eine Grafik umgewandelt:

Und Helberg folgert daraus:

„Unsere Wahrnehmung, dass der IS in Syrien der Hauptfeind und der Inbegriff des Bösen ist, passt folglich nicht mit der Realität im Lande zusammen. Für uns mag der IS die größere Gefahr darstellen – denn sein Terror betrifft uns unmittelbar und Assad tötet ‚nur‘ Syrer – aber für die meisten Syrer (auch die, die wir in Deutschland persönlich fragen können) ist das Assad-Regime der schlimmste Verbrecher“ (55/56).

Und die Konsequenz heißt:

„Wer den Terror des IS besiegen möchte, muss deshalb zunächst den Staatsterror Assads beenden.“ (61)


Das zweite große und eigentliche Hauptkapitel im Buch beschäftigt sich mit den Syrern bei uns: „Warum wir Angst haben und uns missverstehen“ (69-184). Das ist sicher der wichtigste Beitrag dieses Buches, ausgehend von konkreten Alltagserfahrungen den Hoffnungen und Ängsten der beteiligten Menschen nachzugehen und dem jeweiligen Gegenüber zu erklären zu versuchen. Was ist also für Syrer, die nach Deutschland kommen, überraschend, geradezu unerklärlich, was wird nur unterschiedlich kulturell gehandhabt und wo besteht Übereinstimmung in den Alltagskulturen? Wie ist das mit den Kleidungsvorschriften und Gewohnheiten hier und dort? Wie begrüßt man sich am besten? Was sind Klischees und was ist tatsächlich gesellschaftlicher Usus? Wie zeigen sich schon in den ersten Fragen kulturelle Unterschiede:

„Woher kommst du?“ fragen sich Syrer untereinander als Erstes, in Deutschland heißt es eher „Was machst Du?“. Bei uns reicht zum Kennenlernen der Vorname, in Syrien hat der Nachname eine viel größere Bedeutung“ (81)

Wie funktioniert Kindererziehung in Syrien im Unterschied zur allgemeinen Praxis in Deutschland? Auf all diese Fragen gibt Kristin Helberg gute und weiterführende Antworten. Und dsas ist für jeden hilfreich, der sich in Deutschland für die syrischen Flüchtlinge und künftigen Mitbürger engagiert. Manche der Differenzen, die sich ergeben, wären vielleicht vor 50 Jahren so noch nicht vorhanden gewesen, weil unsere Eltern und Großeltern nach der gleichen gesellschaftlichen Logik gehandelt haben wie die Syrer heute und weil damals die Individualisierung der Gesellschaft noch nicht so fortgeschritten war. Manches jedenfalls von dem, was Helberg für Syrien beschreibt, erinnert mich durchaus an Kindheitserfahrungen Anfang der 60er-Jahre beim Besuch der Großeltern im Münsterland. Andere Differenzen sind tiefergehend (die deutsche Liebe zu Hunden etwa) oder die Orientierung nach Adressen bzw. Gebäuden (wer das nicht versteht: nachlesen bei Helberg ab Seite 114ff.).

Informativ auch der Abschnitt über „Männerherrschaft, selektive Korantreue und Feministinnen mit Kopftuch“, der die hyperventilierten Debatten in Deutschland um sachliche Argumente bereichert und auf die internen Widersprüchlichkeiten einer patriarchalischen Kultur hinweist. Allein die insistierende Nachfrage, was eigentlich vom konkreten Verhalten auf der jeweiligen Religion und was auf der patriarchalischen Kultur basiert, bringt eine notwendige Versachlichung in die Diskussion.

Als sehr erhellend empfand ich den Abschnitt über „Ausbeutung und Missbrauch, Teilhabe und Solidarität – Unser Verhältnis zum Staat“ (160-184). Das vor allem deshalb, weil wir uns viel mehr vor Augen führen müssen, wie diametral unterschiedlich die gesellschaftlichen Erfahrungen mit dem Staat und seinen Repräsentanten in Syrien und in Deutschland sind. Während unsere Kinder damit aufwachsen, dass die Polizei „mein Freund und Helfer“ ist, wünscht man in Syrien den Kindern keine Begegnung mit Uniformierten (160). Helberg verweist auf einen 13-jährigen Jungen, der nach einer Demonstration verschwand und später brutal gefoltert und ermordet von der Polizei den Eltern übergeben wurde. Aber auch der deutsche Staat kann sich als außerordentlich störrisch erweisen, wenn es etwa um Anerkennung von in Syrien gemachten Qualifizierungen geht. Statt Wissen und Können einfach zu erheben (wie dies andere Staaten tun), wird in Deutschland sehr viel Wert auf Scheine und Bescheinigungen gelegt. Das ist nicht immer hilfreich – ganz im Gegenteil. Dieses und noch viel mehr führt Helberg als Stolpersteine auf dem Weg einen guten Zusammenlebens auf. Und es wäre wichtig, hier Schritt für Schritt Veränderungen vorzunehmen.


Dem widmet sich abschließend das dritte Kapitel, das unter der Überschrift „Mut zum Bekenntnis: Was jetzt zu tun ist – und was nicht“ steht. Es beginnt mit der Frage: Was ist eigentlich deutsch? – die so gerne an Stammtischen als selbstverständlich und leicht zu beantwortend vorausgesetzt wird und doch so schwer zu entfalten ist:

„Ist also jemand, der morgens Cappuccino trinkt, mittags wahlweise Sushi, Döner oder Veggie-Burger isst und sich nach der Arbeit beim Italiener trifft, noch deutsch?“ (185)

Weder Alltagskultur, noch Aussehen, noch Wertekanon lassen uns zu „Deutschen“ werden. Deutsche Identität ist Identität im permanenten Wandel. Das wird nicht zuletzt durch die verquaste Rede vom „jüdisch-christlichen Abendland“ deutlich. Helberg weist zu Recht darauf hin, dass alle Buchreligionen aus dem Nahen Osten – also Kulturimporte – sind. Zu meinen, man könne willkürlich einen historischen Schnitt ziehen (Importe bis 1400 sind erlaubt, danach nicht mehr) ist erkennbar Unsinn. Wenn wir von der Kultur Europas sprechen, dann sprechen wir von einer Kultur, die von allen drei Religionen tief beeinflusst ist, von Bagdad und Florenz, von Damaskus und Venedig.

Den Schluss des Buches bilden 7 explizit benannte programmatische Punkte, die hier einfach nur aufgezählt werden sollen:

  1. Probleme ehrlich benennen
  2. Einwanderung, aber richtig
  3. Weg vom Gesetz, hin zum Vertrag (im Sinne eines Gesellschaftsvertrages; A.M.)
  4. Zauberformel Patenschaft
  5. Normalisieren und sichtbarer machen
  6. Auf dem Kopf und in der Schule (für Gelassenheit im Umgang mit dem Kopftuch; A.M.)
  7. Mutig voran mit „Vielfalt in Einheit“

Fazit:

Für das Zusammenleben mit den Flüchtlingen aus Syrien ist dieses Buch ein außerordentlicher Gewinn, weil es behutsam und zugleich energisch auf mögliche Missverständnisse, aber auch auf die großen Chancen des Miteinanders aufmerksam macht. Es sei deshalb nicht nur denen, die eh‘ schon in der Flüchtlingsarbeit engagiert sind, sondern gerade den Skeptikern und Kritikern zur Lektüre empfohlen.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/103/am554.htm
© Andreas Mertin, 2016