Was ich noch zu sagen hätte

Das Blogsurrogatextrakt XVIII

Andreas Mertin


02.08.2016 – Fundamentalismus, Islam und Terror

Auf dem Rückflug vom Weltjugendtag in Krakau hat Papst Franziskus ein Interview gegeben, das in der Welt der sich religiös legitimierenden Reaktionäre im deutschsprachigen Raum für große Irritationen gesorgt hat. Befragt, warum er angesichts der Gewalttaten der letzten Zeit nicht konkret den Islam als Verursacher benenne, antwortete er:

„Ich mag es nicht, von islamischer Gewalt zu sprechen, denn jeden Tag, wenn ich die Zeitungen durchblättere, sehe ich Gewalttaten, hier in Italien: da ist der, der seine Freundin oder seine Schwiegermutter tötet, und das sind gewalttätige katholische Getaufte. Würde ich von islamischer Gewalt sprechen, müsste ich dann auch von katholischer Gewalt sprechen? Nicht alle Muslime sind gewalttätig. Das ist wie ein Obstsalat, in den Religionen gibt es die Gewalttätigen. Etwas ist wahr: in fast allen Religionen ist da immer ein kleines fundamentalistisches Grüppchen. Auch wir haben das ... Ja wir können sagen, das der sogenannte ISIS ... sich gewalttätig präsentiert ... Aber das ist ein kleines Grüppchen, man kann nicht sagen, es ist nicht richtig zu sagen, dass der Islam terroristisch ist.“

Das ist bemerkenswert differenziert. Es macht einsichtig, dass, nur weil sich jemand auf die Religion zur Ausführung seiner Gewalttaten beruft, diese Berufung weder zwingend berechtigt ist noch für die Religion als solche in Anschlag gebracht werden kann. Wenn also die christliche Liebessemantik einen lebensweltlichen Kern haben sollte, müsste sie – so das implizite Argument von Franziskus – auch eine geringere Kriminalitätsrate haben. Das ist offenkundig nicht der Fall. Auf der anderen Seite muss man nicht, nur weil Terroristen sich auf eine Religion beziehen, diese schon als repräsentativ für die Religion ansehen. So weit, so gut.

Das passt aber nicht in das Weltbild derer, für die die Welt in gut und böse aufgeteilt ist, in konservative „wahre“ Christen und den Rest der Welt. Auf kath.net und diversen anderen reaktionären Plattformen formuliert sich entschiedener Protest: Doch, der Islam ist böse und das Christentum ist gut. Das führt dann zu so schönen Formulierungen wie:

Auch hat noch NIE ein christlicher Mob aus Empoerung wahllos Menschen ermordet und sich dabei auf Jesus Christus berufen!

Klar. Nach dem Hinweis eines Foristen auf die Ermordung der antiken Philosophin Hypathia durch einen christlichen Mob in Ägypten im Jahr 415/416 und auf die blutigen Kreuzzüge antwortet der Betreffende:

Meine Hochachtung vor ihren umfassenden Kenntnissen der Geschichte. Aber: Das war vor ueber tausend Jahren, und eine Reaktion auf die grausame Verbreitung des Islams und Vernichtung der Christen. Es ist M.E. falsch, heutiges mit laengst vergangenem relativieren zu wollen.

Soweit zur begrenzten Gültigkeit des Wortes „noch NIE“. Nun wäre es ein leichtes, auf den Konflikt in Nordirland zu verweisen, wo sich die verschiedenen Konfessionen über Jahrzehnte den Schädel eingeschlagen haben – zur Verteidigung ihrer national-religiösen Integrität. Aber gegenüber geschlossenen Bewusstseinsformen helfen solche Hinweise kaum.

Das wird auch deutlich an einem anderen Beitrag, der auf kath.net übernommen wurde. Unter der Überschrift „Papst und Islam: Vier Gründe, warum Franziskus irrt“ schreibt da ein Moritz Breckner vom „Pro – Christliches Medienmagazin“ einen Gastkommentar.

Zum einen gäbe es Differenzen in der Motivation der Täter. Die Muslime würden kausal aus ihrer Religion heraus Terror verüben, die Christen trotz ihrer Religion Verbrechen begehen. Eine etwas simplizistische Weltsicht. Nehmen wir einmal die Lord Resistance Army des Joseph Kony, früher einmal tätig unter den Namen „United Holy Salvation Army“ bzw. „Uganda Christian Army/Movement“, die mit brutalster Gewalt ein Leben nach den 10 Geboten durchsetzen wollen und der bis heute schwerste Verbrechen mit über 100.000 Toten vorgeworfen werden. Ich vermute, unser guter Gastkommentator würde (wie auch viele muslimische Vertreter angesichts des IS-Terrors) darauf beharren, dass Kony und seine LRA gegen die Intentionen der Religion handelt. Kony sieht das aber nicht so, er sieht sich durch das Christentum motiviert.

Zum zweiten verweist der Kommentator auf die Gültigkeit des fünften Gebots im Christentum.

„Das Christentum hat die Aufklärung durchschritten und ist seit Jahrzehnten in westliche, liberal geprägte Demokratien integriert ... Eine Bibelauslegung, die zu Terrorismus und Gewalt führt, fände keine prominente Bühne, weil sie nicht haltbar wäre.“

Vielleicht sollte der Autor sich einmal den Videoclip „Zombie“ der Gruppe „The Cranberries“ aus dem Jahr 1995(!) anschauen.

Drittes Argument ist die Quantität: „Seit dem 11. September 2001 gehen zehntausende Tote auf das Konto von Islamisten, die meisten Opfer sind übrigens Muslime. Von fundamentalistischen Christen lässt sich nichts vergleichbares behaupten.“ Offenkundig ist das unwahr, wie der Verweis auf die Lord Resistance Army mit über 100.000 Toten zeigt.

Viertes Argument ist die Qualität: „Fundamentalismus im Islam führt fast immer zu körperlicher und struktureller Gewalt gegen Nicht-Muslime und Frauen. Fundamentalismus im Christentum führt meist dazu, dass die Gläubigen beten, zur Kirche gehen und im Idealfall den Armen helfen.“ Meint der Autor das wirklich ernst? Die Gewalt-Geschichte des Christentums gegenüber dem Judentum sollte einen verstummen lassen. Vielleicht sollte der Autor mal unter dem Stichwort Hep-Hep-Unruhen nachschlagen. Und auch Phänomene wie die Bartholomäus-Nacht lassen einen an dieser geschönten Darstellung des Christentums (ver)zweifeln.

Unterhalb dieses Pamphlets tobt sich dann bei kath.net der christliche Mob aus:

In Anbetracht der Tatsache, dass überall dort wo Moslems auftreten, Schulen, Universitäten, Politik, Einrichtungen des öffentl. Lebens diese auch die Oberhand haben, ist es doch auch kein Wunder das die Menschen hierzulande sich Sorgen Machen. es existieren in Deutschland doch bald mehr Moscheen als Kirchen. Brennen Deutsche Moscheen ab? Vergewaltigen Deutsche Moslems oder bringen diese um? Gehen wir in deren einrichtungen und benehmen wir uns als wären wir der Herr im Hause? Stellen wir deren Kultur auf den Kopf u. leben von deren Rücklagen? Etwas mehr Respekt bitte!

Das ist Faschismus pur, die Anwendung der alten Brunnenvergiftungsthese nun auf die Moslems. Nebenbei: in Deutschland existieren fast 48.000 Kirchen der beiden großen Konfessionen, vielleicht 200 klassische Moscheen und 2.660 muslimische Gebetsräume. Kann jemand angesichts dessen ernsthaft glauben, es gäbe „bald“ mehr Moscheen als Kirchen in Deutschland? Rechnet man die aktuellen Zahlen der religiösen Räume auf die Mitglieder der Religionen um, dann muss man eher von einer Unterversorgung an Moscheen und Gebetsräumen ausgehen. Auf ein evangelisches Kirchengebäude kommen 975 Gläubige, auf ein katholisches 988 und auf ein muslimisches 1400. Wenn man von einer religiösen Versorgung von 1 Gebäude je 1000 Gläubigen ausgeht, dann fehlen den Muslimen noch 1140 Gebäude.

Und was schließlich die nicht vorhandene deutsche Gewalt gegenüber Muslimen betrifft: 416 politisch motivierte Angriffe gegen muslimische Gebetsräume und Moscheen zählt das Bundesinnenministerium von Anfang 2001 bis März 2016, darunter Brandstiftungen und Sprengstoffanschläge. Und dabei gilt: die Gewalt steigt. 2010 gab es 23 Angriffe gegen Moscheen. 2015 waren es schon 75.


05.08.2016 – Islamistische Prophetie

Kath.net meldet heute Folgendes:

Der Islamische Staat (IS) hat in dieser Woche auf die Aussagen von Papst Franziskus zu Islam und Terror reagiert und via der eigenen Zeitung "Dabiq" die Aussagen von Franziskus, dass Muslime den Frieden wollen und die Handlung des IS wirtschaftlich motiviert sei, als naiv kritisiert. Dies berichtet die "Freie Welt" unter Berufung auf das US-Online-Magazin "Breitbart.com".

Nun wäre es für ein Nachrichtenportal relativ einfach, statt Aussagen von Dritten zu übernehmen, die sich auf Aussagen von Vierten über Aussagen von Fünften beziehen, selbst mal eben schnell zu recherchieren, ob das so Berichtete auch zutreffend ist. Dabiq, die Zeitschrift des Daesch ist im Internet leicht zugänglich. Und tatsächlich beschäftigt sich die aktuelle Ausgabe 15 vorrangig mit dem Christentum. Das Heft ist Ende Juli erschienen. Schon das macht die Meldung, die Zeitschrift beziehe sich mit ihrer Stellungnahme auf eine Äußerung von Papst Franziskus, die dieser am 1. August getätigt hat, sehr unglaubwürdig. Es sei denn, man unterstellte den Autoren geradezu prophetische Qualitäten. Also ist der Teaser von kath.net und alle der neokonservativen Propagandisten a la Breitband oder Freie Welt schlichtweg falsch. Richtig ist, dass in der aktuellen Ausgabe von Dabiq das Verhalten der verschiedenen Päpste zum Islam untersucht wird und dabei auch die Haltung von Franziskus besprochen wird. Aber die Stellungnahme ist etwas anders als man von den Teasern der Konservativen erwarten würde.

Ich empfehle jedem Leser in Deutschland, sich einmal diese Ausgabe herunterzuladen (aber sie nicht auf dem Computer mit in einen angelsächsischen Staat mitzunehmen, das könnte Probleme bereiten). Das Heft ist – zumindest auf den letzten Seiten – nichts für schwache Nerven, aber es zeigt sehr eindrücklich, in welche Bedrängung der Daesch inzwischen geraten ist, so dass er sich zunehmend sektenartiger darstellt.

Die Zeitschrift verweist zunächst auf die lange Tradition konfrontativer Begegnungen mit dem Islam durch verschiedene Päpste (bis hin zu Papst Benedikt). Das passt natürlich nahtlos in das Weltbild des Daesch. Probleme bekommen sie erst, seitdem mit Papst Franziskus ein Papst aufgetreten ist, der so gar nicht in das konfrontative Schema passt. Seine Freundlichkeit deuten sie nun als besonders subtile Art der konfrontativen Auseinandersetzung.

“So while Benedict and many before him emphasized the enmity between the pagan Christians and monotheistic Muslims, Francis’ work is notably more subtle, steering clear of confrontational words that would offend those who falsely claim Islam, those apostates whom the Crusaders found played the perfect role for their infiltration into Muslim lands.” (Dabiq 15, S. 75)

Im Gegensatz zu Benedikt “Francis continues to hide behind a deceptive veil of “good will,” covering his actual intentions of pacifying the Muslim nation. This is exemplified in Francis’ statement that “our respect for true followers of Islam should lead us to avoid hateful generalizations, for authentic Islam and the proper reading of the Quran are opposed to every form of violence” (The Joy of the Gospel). (Dabiq 15, S. 76)

M.a.W. sie wittern in Papst Franziskus die wahre Gefahr. Das ist nun wirklich interessant. Unter der Hand erweisen sich so die konservativen Evangelikalen und die konservativen Katholiken als Verbündete im Geiste mit den Ideologen des Daesch. Denn alle haben ein erkennbares Interesse an einer Eskalation.

Diese Übereinstimmung wird noch an einer anderen Stelle deutlich, dort nämlich, wo sich der Daesch über die liberale Haltung des Papstes zu den Homosexuellen echauffiert. Bis in die Wortwahl stimmen hier Rechtskatholiken und Daesch-Ideologen überein.

Completely disregarding his own Church’s doctrine of judging homosexuals as immoral for engaging in the perverted act of sodomy, Francis has again sidestepped religion for the sake of public opinion.

Der Daesch deutet diese liberale Haltung des Papstes als

part of the papal mission to garner any support possible, even from the likes of filthy, effeminate sodomites, in the crusade against the Muslim nation in general and the Islamic State in particular.

Das ist natürlich ziemlich über die Bande gedacht, so kann nur denken, wer sich im Zentrum der Welt sieht. Jedenfalls sieht der Daesch den Papst nicht als naiven, nützlichen Idioten. Und deshalb werden auch die Gespräche, die Papst Franziskus mit den großen Vertretern des Islam führt, von den Ideologen des Daesch als reale Bedrohung wahrgenommen.

This is all part of a plan to demilitarize Islam or, to put it more correctly, to remove the clearly Quran- and Sunnah-based duty of waging jihad against pagans until all the world is ruled by the Shari’ah.

Vielleicht sollten die Macher von kath.net und idea wirklich mehr in Dabiq lesen, um zu erkennen, dass in Wirklichkeit sie es sind, die als nützliche Idioten des Daesch deren Eskalationsstrategie befeuern.


22.08.2016 – Enttäuschung

Seit einigen Tagen lese ich das Blog des Koordinators der DITIB, das unter der schönen Überschrift „Worte, Worte, nichts als Worte“ firmiert. Darauf gestoßen bin ich durch einen Artikel von Thomas Thiel in der F.A.Z. Dieser hatte auf einen Blogeintrag verwiesen, in dem der Blogger gegenüber einem Islamkritiker insinuiert, dieser sei Mitglied einer islamischen Sekte. Argument dafür war, dass er sich wissenschaftlich mit der betreffenden Gruppe beschäftigt hatte. Darauf muss man erst mal kommen. Wenn jeder Wissenschaftler, der sich mit Verbrechen beschäftigt, damit rechnen muss, dass man ihm unterstellt, er sympathisiere mit den untersuchten Verbrechen, dürfte schnell die Freiheit der Wissenschaft gefährdet sein. Diese Idee jedenfalls ist lächerlich. Einmal auf den Blog aufmerksam geworden, begann ich die Einträge dort zu studieren, die Argumentationsmuster, mit denen etwa unabhängigen Islamforschern begegnet wird. Wenn das, was dort zu lesen steht, repräsentativ für die Gedanken der Ditib wäre, müsste meines Erachtens jede Zusammenarbeit mit der Ditib eingestellt werden. Kein Staat kann sich auf Gedankenkonstrukte einlassen, wie sie dort artikuliert werden. Vieles verläuft nach dem Motto: xy kennt jemanden und arbeitet mit ihm zusammen, der dies und das gesagt hat und ist deshalb selbst verdächtig. Und der Verdacht reicht zur Denunziation. Was hier fehlt, ist ein grundlegendes Verständnis von Dissidenz. Wer Dissidenz nicht verstehen kann, neigt zum Totalitären. Als sich einer der auf dem Blog heftig Kritisierten wehrte und auf die Konsequenzen aufmerksam machte, die derartige fahrlässige – und in diesem Fall auch noch unzutreffenden - Unterstellungen haben könnten, dass sie nämlich im schlimmsten Falle das Leben des so Denunzierten gefährden könnten, fühlt sich tatsächlich der Denunziator beleidigt und schreibt: „Über ministerielle Stellen ist xyz die Gelegenheit eingeräumt worden, sich unmissverständlich, eindeutig und ohne Relativierung von diesem Vorwurf des Mordaufrufs zu distanzieren und sich für diesen Ausfall öffentlich zu entschuldigen.“ Das muss man wirklich Wort für Wort lesen und mag es doch nicht verstehen! In welcher Zeit leben wir denn? Seit wann ist es in der Bundesrepublik üblich, abweichende Anschauungen „über ministerielle Stellen“ in Schranken zu verweisen? Ach, ich vergaß. Ein Führer eines Nato-Mitglieds hat es sich in letzter Zeit mehrfach angelegentlich sein lassen, abweichende Gedanken über ministerielle Stellen verfolgen zu lassen. Und vielleicht hat auch er seinen Kritikern großherzig die Gelegenheit eingeräumt, sich unmissverständlich, eindeutig und ohne Relativierung von ihren Vorwürfen zu distanzieren und sich öffentlich zu entschuldigen. Immerhin verzichtet der Blogger auf die Forderung nach Festungshaft für die Beschuldigten. Das war ja in früheren Zeiten die Haft für politisch Unliebsame von höherem Stande. Aber die Zeiten haben sich – wenigsten in Deutschland – geändert.

Warum aber, so frage ich mich in der Folge, kann sich die Bundesrepublik nicht dazu durchringen, in viel stärkerem Maße auf die Kurden zuzugehen, ihre Emanzipationsbestrebungen nicht nur insgeheim zu fördern? Warum können wir nicht das Alevitentum viel öffentlicher in die gesellschaftlichen Entscheidungsprozesse einbeziehen? Warum müssen wir uns mit Organisationen herumschlagen, die bei jeder Kritik gleich nach Ausschluss schreien? Ich weiß es nicht.


24.08.2016 – Reise nach Jerusalem

Mitte August schreibt Bundesrichter Thomas Fischer in seiner Kolumne „Fischer im Recht“ auf ZEIT ONLINE: Einen Deutschen, der auf Befehl des Erzengels tötet, halten wir für verrückt. Einen Muslim, der dasselbe im Auftrag des Propheten tut, nicht. Warum? An diese Frage wurde ich erinnert, als ich bei idea die Meldung las, Thomas Schirrmacher, Vorsitzender der Theologischen Kommission des evangelikalen Dachverbandes Weltweite Evangelische Allianz, habe heftig Bodo Ramelow widersprochen, weil dieser auf mörderische Angriffe Evangelikaler auf Abtreibungskliniken verwiesen hatte. Schirrmacher hält dem entgegen: „Noch nie hat ein evangelikaler Christ einen Abtreibungsarzt erschossen.“ Das ist eine überaus interessante Formulierung. Sie besagt zunächst nicht, dass noch nie ein evangelikaler Christ einen Mord in oder vor einer Abtreibungsklinik begangen hat. Sondern es geht nur um Abtreibungsärzte. Nun haben Christen in Amerika durchaus Abtreibungsärzte ermordet, so etwa ermordete der militante Christ Scott P. Roeder den Abtreibungsarzt George Richard Tiller Pfingstsonntag 2009 beim Gottesdienstbesuch. Er war seit 1993 der vierte in den USA ermordete Abtreibungsarzt.

Die öffentlich geäußerte Freude evangelikaler Kirchen und Organisationen über die Ermordung Tillers spricht Bände: der Radioprediger und frühere Vize-Präsident der Southern Baptist Convention Wiley Drake sagte, er sei froh, dass Tiller tot sei. Mitglieder der Westboro Baptist Church fanden sich bei der Beerdigung ein und hielten Schilder hoch auf denen stand „Gott sandte den Schützen“, „Abtreibung ist blutiger Mord“ und „Babymörder in der Hölle“. Angesichts derartiger Vorfälle kann man sich nicht darauf zurückziehen, dass die Gewalttaten gegen Abtreibungskliniken durch Abtreibungsgegner und nicht durch Christen geschähen.

Schirrmacher fährt fort: „Ramelow zitiert eindeutig einen Großstadtmythos, der sich längst verselbstständigt hat. Einer zitiert den anderen, keiner sieht, dass am Anfang der ,Reise zu Jerusalem’ überhaupt kein Ereignis steht.“ Abgesehen davon, dass ich die Metapher von der Reise nach Jerusalem im Zusammenhang mit der urban legend nicht ganz nachvollziehen kann, scheint mir doch ziemlich klar, dass es einige Fälle gibt, in denen christliche Täter Abtreibungskliniken mit mörderischer Absicht angegriffen haben und in der evangelikalen Community auf Zustimmung stießen. Schirrmacher sieht das nicht so. In der Idea-Meldung lautet das so:

Das gelte auch für den jüngsten Überfall auf eine in einem Einkaufszentrum gelegene Abtreibungsklinik der Organisation „Planned Parenthood“ (Geplante Elternschaft) am 29. November 2015 in Colorado Springs (Bundesstaat Colorado) mit drei Toten. Der Täter sei bereits wegen zahlreicher wilder Schießereien in öffentlichen Gebäuden in mehreren Bundesstaaten aufgefallen. Das Gericht habe den Prozess wegen „offensichtlicher Unzurechnungsfähigkeit des Täters“ beendet, so Schirrmacher. Von einem religiösen Hintergrund sei nicht die Rede gewesen.

Das ist zumindest mal konkret argumentiert, man kann es überprüfen. Nun schließt der Umstand, dass jemand bereits mehrfach wegen Schießereien und Gewalttaten aufgefallen ist und später im konkreten Fall der Morde vor einer Abtreibungsklinik wegen Unzurechnungsfähigkeit nicht vor Gericht gestellt wird, nicht aus, dass er glaubte, seinen Mordanschlag als evangelikaler Christ getan zu haben. Soweit ich mich erinnere, stört es uns bei Muslimen nicht, wenn sie in psychologischer Behandlung sind. Wenn sie später ein Verbrechen begehen, sprechen wir dennoch von islamistischen Verbrechen. Woher kommt die Differenz der Urteile?

Nun sagt Schirrmacher explizit, von einem religiösen Hintergrund sei in Colorado Springs gar nicht die Rede gewesen. Ein Blick in die englischsprachige Wikipedia zeigt nun, dass der Täter dort durchaus als Evangelikaler bezeichnet wird (s. Screenshot). Noch genauer heißt es im Text:  “In the court document for their 1993 divorce, his ex-wife said, ‘He claims to be a Christian and is extremely evangelistic, but does not follow the Bible in his actions. He says that as long as he believes he will be saved, he can do whatever he pleases. He is obsessed with the world coming to an end.’” Zum Prozess 2015 sagte seine frühere Frau dann aus, “he was deeply religious, but conflicted, and that he likely targeted the clinic because of its abortion-related activities." Mir ist nicht ganz klar, wie man angesichts dessen zu dem Schluss kommen kann, dass von einem religiösen Hintergrund nicht die Rede gewesen sei. Sinn macht das nur, wenn man entweder die Haltung zur Abtreibung von der konkreten religiösen Haltung abtrennt (dagegen sprechen die Aussagen seiner früheren Frau) oder wenn man sagt, dass bei jemandem der unzurechnungsfähig ist, nicht der religiöse Hintergrund in Anschlag gebracht werden darf. Das führt uns zurück auf die Eingangsfrage, warum wir einen Christen, der auf Befehl des Erzengels tötet, für verrückt halten, einen Muslim, der dasselbe im Auftrag des Propheten tut, nicht.

Ich finde, um das klar zu sagen, die Schlussfolgerung, dass niemand sich legitimer Weise auf das Christentum beziehen kann, der gewaltsam gegen Abtreibungskliniken vorgeht, nachvollziehbar und für gut vertretbar. Darin stimme ich Schirrmacher durchaus zu. Das Problem ist, dass sich diese Gewalttäter dennoch auf das Christentum zur Begründung ihrer Taten berufen. Und sie meinen, dass sie das zu Recht tun. Und das offenkundig mit einer gewissen Plausibilität, wie die zitierten Reaktionen anderer Gläubiger zeigen. Damit muss man leben und kann das Problem nicht dadurch lösen, dass man einen Zusammenhang von christlicher Religion und dadurch bedingter Gewalttat von vorneherein ausschließt und alles andere pathologisiert.

Zumindest muss man in dieser Frage konsequent sein: die Argumentation, die für Christen gilt, muss auch für Muslime gelten. So oder so: Entweder wir rechnen die Gewalt, die von Subjekten ausgeht, nicht ihrer Religion zu oder wir müssen es in beiden Fällen tun. Gleiches Recht für Christen und Muslime.


24.08.2016 – Schon wieder Gender

Dieser nahezu besinnungslose Reflex des kurialen Katholizismus, auf Gender einzuschlagen, ist nun wirklich erschreckend. Man kann die Kritik an der Gender-Theorie insofern verstehen, weil Gender und die naturrechtliche Argumentation in einem quasi „natürlichen“ Widerspruch stehen. Das kann man offenlegen und plausibel machen, warum man in katholischer Perspektive an der naturrechtlichen Argumentation (die keine Wahrheit ist, sondern eine Sichtweise) festhalten möchte. Aber man sollte die Leserinnen und Leser nicht für blöd halten. Der Philosoph Umberto Eco hatte schon im Blick auf die Diskussion um den Relativismus den früheren Papst Benedikt als kleines Licht bezeichnet: Seine Polemiken, sein Kampf gegen den so genannten Relativismus sind, wie ich finde, einfach nur sehr grob. Nicht mal ein Grundschullehrer würde es so formulieren wie er. Seine philosophische Ausbildung ist sehr schwach. Und nun versuchen die beiden lebenden Päpste ähnlichen Flachsinn auch zum Thema Gender zu verbreiten. In Polen hatte Papst Franziskus zu den Bischöfen gesagt:

„In Europa, in Amerika, in Lateinamerika, in Afrika, in einigen Ländern Asiens gibt es einen wahren ideologischen Kolonialismus. Und einer von diesen – ich nenne ihn unverhohlen beim Namen – ist die Gender-Theorie!“

Rein sprachlich ist das schon schwach (vielleicht aber auch nur schlecht übersetzt). Unter Kolonialismus wird die meist staatlich geförderte Inbesitznahme auswärtiger Territorien und die Unterwerfung, Vertreibung oder Ermordung der ansässigen Bevölkerung durch eine Kolonialherrschaft bezeichnet. Das sollte einen extrem vorsichtig sein lassen, von „ideologischem Kolonialismus“ zu sprechen. Einmal ist die Frage der Extraterritorialität problematisch. Warum sollten „ideologisch kolonialistische Länder“ andere Länder mit Gender-Mainstreaming kolonisieren? Zumindest ermordet wurde für das Gender-Mainstreaming niemand. Beim Gender-Mainstreaming geht es um eine erweiterte Form der Gerechtigkeit für jene, die aus dem traditionell binären Raster der Geschlechtercodierung herausfallen.

Wie problematisch die simple binäre Codierung ist, konnte man gerade bei Olympia in Rio beim 800 Meter Lauf der Intersexuellen Caster Semenya sehen. Nichts ist da einfach binär codiert. Fast alle Favoritinnen im 800-Meter-Lauf der Frauen waren intersexuell (neben Caster Semenya auch Margaret Wambuy sowie Francine Nyonbasa). Und nun raten wir einmal, wer am Ende auf den ersten drei Plätzen war? Die Wirklichkeit ist eben umfassender als es sich klerikale Träumer zusammenphantasieren. Man braucht offenkundig eine Theorie, die den gordischen Knoten der sexuellen Identität nicht einfach zerschlägt, sondern umfassend beschreibt und verständlich macht.

Gender-Theorien versuchen das. Sie wollen nicht gegen die Wirklichkeit künstliche Realitäten schaffen, sondern versuchen, vorfindliche Situationen les- und lebbar zumachen. (Das löst natürlich noch keine Probleme des sportlichen Wettkampfs. Frauen ohne erhöhte Testosteronwerte werden sich benachteiligt fühlen, denn sie dürfen sie nicht künstlich zuführen. Das wäre Doping. Nur Gott darf dopen.) Das ist das eine. Das andere ist die Verknüpfung mit der Schöpfungstheologie. Papst Franziskus fährt fort:

„In einem Gespräch mit Benedikt XVI. sagte er mir: ‚Heiligkeit, dies ist die Zeit der Sünde gegen den Schöpfergott!‘ Das ist klug. Gott hat Mann und Frau geschaffen; Gott hat die Welt so und so geschaffen … und wir sind dabei, das Gegenteil zu machen. Gott hat uns einen Zustand der ‚Wildnis‘ anvertraut, damit wir aus ihr Kultur machen; und dann tun wir mit dieser Kultur Dinge, die uns in den Zustand der ‚Wildnis‘ zurückversetzen! Was Benedikt XVI. da gesagt hat, sollten wir bedenken: ‚Es ist die Zeit der Sünde gegen den Schöpfergott!‘ Das wird uns helfen.“

Da zweifelt man doch ernsthaft am Geisteszustand der beiden Gesprächspartner. Klug ist es jedenfalls nicht. Dass Gott die Menschen als Mann und Frau geschaffen hat, ist eine religiöse Interpretation des für die damaligen Zeiten (6. Jh. v. Chr) scheinbar Vorfindlichen. Andere Kulturen haben zeitgleich andere, durchaus komplexere Interpretationen entwickelt. Aber jedes Mal handelt es sich um späte Kulturstufen, während die Gattung Mensch schon seit 2,5 oder 1,5 Millionen Jahren lebt. Es ist ein Fehlschluss, wenn man kulturelle Deutungen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt der Geschichte entstehen, zu Normen für die gesamte Geschichte macht. Vor allen Dingen dann, wenn zu der Zeit, als die kulturelle Deutung ausformuliert wurde, die konkreten biologischen Zusammenhänge noch gar nicht bekannt waren. Also müssen wir heute doch fragen, wenn wir an der Deutung in Form einer Schöpfungstheologie festhalten wollen, wie Gott die Welt geschaffen hat (und werden feststellen, wie pluriform er das getan hat) und nicht die begrenzten biologischen Kenntnisse der früheren Zeit normativ zugrunde legen.

Beide Männer verstehen offenkundig nicht einmal ansatzweise, dass die Kultur, die sie preisen, für manche Menschen brutale Gewalt ist. Es ist keinesfalls ein Gewinn einer Kultur gegenüber der Wildnis, wenn bestimmte Lebensformen ausgeschlossen werden. Kultur ist es, wenn Lebensformen gefördert werden.

In den Diskussionsforen der reaktionären Katholiken wird nun gefordert, dass die Gender-Ideologie in Deutschland verboten wird. So kurz sind die Wege von bloß unterschiedlichen religiösen Deutungen biologischer Phänomene zum totalitären Denken und zum totalitären Staat. Aber sicher, man kann alles verbieten, was nicht ins eigene religiöse Konzept passt. Wir erleben beim Daesch gerade, wohin das führt.


01.09.2016 – Worte, nichts als Worte

Die Präzision, mit der Murat Kayman die Worte der von ihm Kritisierten studiert, lässt sich an seinem Gebrauch von Zitaten überprüfen. Im aktuellen Blogeintrag setzt er sich mit Cem Özdemir und Ahmad Mansour auseinander und möchte ihnen sagen, dass jeder verfassungstreue Bürger gegenüber ihren Ansichten zum Widerspruch gezwungen sei. Und was macht ein bildungsbeflissener Bürger, wenn er einem Artikel in der FAZ widersprechen möchte? Er googelt ein wenig, ob sich nicht ein schlaues Zitat zum Thema „Widerspruch“ finden lässt, auf dass mit der geborgten Aura einer Autorität umso fester auf die Kritisierten eingeschlagen werden kann.

„Denn die gedanklichen Ausführungen Özdemirs und Mansours stellen sich bei näherer Betrachtung als Mimikry, als eklatant verfassungswidrige Grundhaltung im Tarnkleid des Plädoyers für unser Grundgesetz dar. Oder wie Adorno es formuliert: ‚Nur am Widerspruch zwischen dem, was etwas zu sein beansprucht, und dem, was es wirklich ist, lässt sich das Wesen einer Sache erkennen.‘“

Wow, da zitiert einer Adorno frei aus der Hüfte. Denn mehr ist es nicht. Zwar findet sich dieses Zitat in diversen Aphorismen-Sammlungen und Sprücheklopfer-Datenbanken im Netz, nicht aber bei Adorno selbst. Recherchiert man ein wenig, dann kann man auch feststellen, was passiert ist. Adorno setzt sich in der Negativen Dialektik im Zweiten Teil unter anderem mit dem Verhältnis von Wesen und Erscheinung auseinander (GS 6, S. 169). Und Adorno trifft dann eine Aussage über das Wesen:

Wie das Hegelsche muß auch dies Wesen erscheinen: vermummt in seinen eigenen Widerspruch. Nur am Widerspruch des Seienden zu dem, was zu sein es behauptet, läßt Wesen sich erkennen.

„Cooler Spruch“ muss dann wohl später jemand gedacht haben, „aber versteht ja keiner“. Also hat er mal elegant umformuliert, damit auch Stammtischphilosophen was zum Zitieren haben:

Das klingt doch gleich viel glatter. Nur dass es eben nicht von Adorno so formuliert wurde. Sondern nur unter http://www.zitate-online.de/ auftaucht, wenn man die ‚Schlagworte‘ Wesen und Widerspruch eingibt. So fand es Aufnahme in zahlreichen Texten von solchen Leuten, die Zitate niemals am Original überprüfen. Ich weiß nicht wie Kayman auf „sein“ Adorno-Zitat gestoßen ist, jedenfalls nicht durch die akribische Lektüre der Negativen Dialektik. Wie auch der Vergleich seiner Polemik gegen Özdemir und Mansour mit dem Text der beiden in der FAZ zeigt, dass er nicht wirklich gelesen und verstanden hat, was diese zu sagen haben.


19.09.2016 – Christliche Hasspredigerinnen

Am heutigen Tage berichtet kath.net von einer orthodoxen Schwester, die folgendes sagt: "Ich glaube nicht, dass jemand, der den Koran lebt, für uns normal sein kann." Die Ordensschwester meint zur europäischen Flüchtlingspolitik, „dass Europa die Wölfe hereingelassen“ habe.

Und mit „Wölfen“ meint sie die muslimischen Flüchtlinge, während sie unter die Schafe die Christen aber auch die Jesiden zählt. Vor einigen Jahren nannte sie im gleichen Atemzug auch noch die Alawiten als verfolgte Opfer der Muslime. Darauf verzichtet sie heute. [Die Assoziation mit den Wölfen bezieht sich natürlich auf Matthäus 10, 16; sie ist aber angesichts der europäischen Kulturgeschichte, nach der eine Wölfin durch die Aufzucht von Romulus und Remus für die Möglichkeit der Gründung der späteren Papststadt Rom gesorgt hat, irgendwie komisch.)

Diese Schwester ist seit langem eine Kronzeugin der deutschen extremen Rechten und der Islamhasser. Michael Mannheimer, der schon mal gerne ein neues Nürnberger Tribunal gegen Linke und so genannte Gutmenschen durchführen möchte, benennt sie gerne als Beleg. Zu Beginn des Aufstandes in Syrien rief sie den Westen zur Verteidigung des Massenmörders Assad auf. Jede andere Sichtweise erklärt sie zur Lüge. Wie sie ihre Perspektive belegen will, sagt sie nicht. Wie man einen der schlimmsten Massenmörder des letzten Jahrzehnts verteidigen kann, ist mir schleierhaft. Es reicht hinsichtlich der Zivilopfer ein simpler Blick auf die Angaben des syrischen Netzwerkes für Menschenrechte, um das Ausmaß der Verbrechen zu erkennen. Assad hat mehr Kinder umbringen lassen, als alle sonstigen Beteiligten überhaupt Zivilisten getötet haben.

Und man wird sich nicht darauf berufen können, dass die Angaben des Netzwerkes unsicher seien, schließlich hat das syrische System die Folterung und Tötung von Kindern selbst öffentlich eingeräumt. Wer mit dem Teufel einen Pakt schließt, um das eigene Leben zu retten und den Tod von 200.000 Menschen dabei in Kauf nimmt, kann nicht damit rechnen, dies im Namen des Christentums zu tun. Kristin Helbig schreibt in ihrem Buch „Verzerrte Sichtweisen. Syrer bei uns“ (Herder 2016): „Die größte Gefahr besteht für die Christen jedoch darin, wegen der Äußerungen ihrer Patriarchen und der Geheimdienstzusammenarbeit mancher Bischöfe, Priester und Nonnen als Nutznießer des Regimes oder Verräter der Revolution wahrgenommen zu werden. Im Namen der Christen bis heute das Assad-Regime zu unterstützen, das seit Jahren Verbrechen gegen die Menschlichkeit begeht, ist nicht nur mit Blick auf christliche Moral und Nächstenliebe verwerflich, sondern auch politisch verantwortungslos.“ Wer sich wie die zitierte Nonne Assads Argumente zu Eigen macht, ist nichts anderes als eine Hasspredigerin.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/103/am557.htm
© Andreas Mertin, 2016