VERBLENDUNG

Zur aktuellen Ikonographie des Religiösen X

Andreas Mertin

Ehrlich gesagt war ich schon etwas angefressen, als ich den durchsichtigen Briefumschlag aus dem Briefkasten holte. Ich mag diese durchsichtigen Umschläge nicht, sie scheinen mir dem einstmals so bedeutsamen Briefgeheimnis zuwiderzulaufen und lediglich ein Marketinggag in Zeiten zu sein, in denen inzwischen nahezu das gesamte Leben luzide geworden ist.

Und dann hielt ich das Faltblatt aus dem Inneren des Briefumschlags in Händen. Auf den ersten Blick war es im zusammengeklappten Zustand ein DIN A 6 großes Blatt mit einer Abbildung, die (zumindest bei mir) spontan folgende Assoziation hervorrief:

Nur, dass es nicht die Augen einer jungen Frau waren, die aus einem schwarzen Stoff mich anblickten, sondern die eines alten Mannes mit ziemlich faltiger Haut. Das Schreiben, das ich bekommen hatte, war so übereinandergelegt, dass etwas, was optisch wie ein dunkelblaues Tuch anmutete, über das Gesicht des Betreffenden gelegt worden war, so dass schließlich nur noch seine Augen und etwas von seiner Nase sichtbar blieb – ganz so wie bei dem nebenstehenden Bild einer jungen Frau im Niqab.

Was unter dem dunkelblauen Tuch verborgen war, darüber konnte man nun rätseln.

Nun wird seit einigen Wochen auch in Deutschland über das Burkaverbot bzw. ein Verbot des Niqab diskutiert. War also das, was ich da bekommen hatte, eine Stellungnahme zu dieser Debatte? Inzwischen weiß ich: Ja und Nein.

Ja, denn im Inneren des Faltblatts ging es des Längeren über die Freiheit des Menschen, über seine Standhaftigkeit in öffentlichen Diskursen und Auseinandersetzungen.

Nein, denn die Augen, auf die man da blickte, kamen einem gleich sattsam bekannt vor und man wusste, man hatte diese Augen schon tausendmal gesehen. Und sie hatten nichts mit der Burka oder dem Niqab zu tun.

Zwar war der, dessen Augen man sofort hinter dem blauen Tuch vermutet, als dezidierter Islamgegner und Türkenfeind durchaus bekannt, aber zur Verhüllung der Frau hat er sich meines Wissens nicht geäußert. Trotzdem tritt er mir hier in einer niqab-ähnlichen Verhüllung entgegen. Warum? Damit hinterher umso strahlender die religiöse Freiheit hervortreten kann? Das Faltblatt gibt darüber keine Auskunft. Er wirbt für Veranstaltungen, die die Evangelischen Kirchen in Nordrhein-Westfalen in diesem und im nächsten Jahr anlässlich des Reformationsjubiläums veranstalten werden. Das aber erklärt nicht, warum man genau diese Form der Inszenierung gewählt hat.

Nun hat die Evangelische Kirche im Rahmen ihrer Reformationsaktivitäten ja schon zahlreiche höchst eigenartige, um nicht zu sagen: unglückliche ikonographische Gestaltungen gewählt. Es fing an mit der verqueren Assoziation von Wort Gottes mit einem Bücherregal (eine theologische Katastrophe schlechthin), setzte sich fort mit dem nerdigen Altluther mit hippem Kopf­hörer und endete mit der unseligen Verquickung von Thron und Altar vor dem Reichstag.

Alle diese gescheiterten (und notwendig scheitern­den!) Inszenierungen entstanden im Bemühen, den Geruch des Ewiggestrigen, unter dem die Kirche leidet, abzustreifen. Also beauftragt man irgendwelche Werbe- und Design-Abteilun­gen, wenn nicht Schwung in die Kirche, dann aber doch ins Bild zu bringen. Und es muss immer etwas vom Ewiggestrigen dabei sein (mit Vorliebe etwas von Cranach) und etwas Zeitgeistiges (ein stylisches Bücherbord, ein Nerd-Kopfhörer, ein Parlament einer demokratischen Gesellschaft). Und jedes Mal geht irgendetwas schief, weil man die Ikonographie nicht so souverän beherrscht, wie es in einer nun fast 2000-jährigen Bildgeschichte des Christentums notwendig wäre. Im Kern geht es um eine heimliche Verachtung der Bilder. Man vermag nicht zu glauben, dass Bilder eine eigene Sprache besitzen, die nicht in dem aufgeht, was lutherische Bilddidaktiker sich in ihren doch arg assoziativen Phantasien als pflichtgemäße Aufgabe der von ihnen eingesetzten Bilder ausdenken.

Aber warum nun ausgerechnet die Assoziation Luthers mit dem Niqab? Natürlich könnte man behaupten,  die gewählte Inszenierung habe mit einer Verhüllung der Gesichtszüge überhaupt nichts zu tun, sie sei schlichtweg das Ergebnis der Faltung des Din A-4 Blattes mit den Ankündigungen, die auf den Inhalt des Bekanntzumachenden geschickt aufmerksam machen sollte. Das glaube, wer will, ich tue es nicht. Wenn es aber nicht versehentlich so inszeniert worden ist, dann ist es – um es scharf zu sagen – ein primitives anti-muslimisches Denken, es ist eine Profilierung Luthers auf Kosten von Mitbürgern, die aus kulturellen Motiven bestimmte Kleidungsstücke tragen. Anders als andere kulturellen Inszenierungen soll Luther hier nämlich für die Freiheit eines Christenmenschen stehen bzw. blicken.

Wenn die Konnotation mit der Burka tatsächlich intendiert war, halte ich es für ein sehr fragwürdiges Vorgehen und auch für ein geschichtsvergessenes visuelles Argument. Ich selbst stamme noch aus einer Generation, die miterlebt hat, wie die Frauen in der christlichen Gemeinde am Sonntag im Gottesdienst immer eine Kopfbedeckung trugen. Sie leiteten dies ursprünglich aus 1. Korinther 11, 5 ab, wonach eine Frau ihren Mann(!) entehrt, wenn sie betet und dabei ihren Kopf nicht verhüllt. Diese Vorstellung erschien schon in unseren Jugendzeiten überaus lächerlich, weil sich die gesellschaftlichen Verhältnisse bereits grundlegend gewandelt hatten, aber dennoch zeigten die Gottesdienste ein anderes Bild. Wir sollten uns also bewusst sein, dass uns nicht einmal 50 Jahre von dieser Praxis trennen.

Es ist also nicht so, dass die uneingeschränkte Freiheit einer Christenfrau in den 50er- oder 60er-Jahren in einer Gemeinde darin bestanden hätte, ihr Kopfbedeckung abzulegen. Wie man auf dem obigen Foto aus dem Jahr 1957 sieht, waren nur sehr wenige Frauen ohne Kopfbedeckung. Der religiös-soziale Zwang zum Tragen einer Kopfbedeckung wird zwar sehr modisch-kreativ von dem Frauen genutzt (ähnlich wie die muslimischen Frauen das heutzutage auch tun), aber man unterwirft sich ihm. Unsere durchaus aufgeklärten Eltern und Großeltern hätten ihr Verhalten aber natürlich nicht (wie Paulus) mit etwaigen in der Luft schwebenden Sexual­dämonen oder mit der Entehrung der männlichen Haushaltsvorstände erklärt, sondern schlicht mit kulturellen Gewohnheiten. Das war damals ein Teil der religiösen Kultur des Christentums in Deutschland – und ist es in südeuropäischen Ländern bis heute.

Wenn das aber so ist, was legitimiert uns dann, ein evangelisches Faltblatt so zu inszenieren, dass Luther wie ein Mensch mit einer Niqab erscheint? Visuelle Kompetenz spricht nicht daraus.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/103/am560.htm
© Andreas Mertin, 2016