Kirchenkritikmusik und Kirchenmusikkritik

Mendelssohn und Wilsing im Dortmunder Konzerthaus

Harald Schroeter-Wittke

Am 11. Juni 2016 fand im Dortmunder Konzerthaus ein bemerkenswertes Konzert statt. Nach mehr als 150 Jahren wurde dort das 1852 für vier Chöre und Orchester komponierte De Profundis von Daniel Friedrich Eduard Wilsing (1809-1893) erneut aus der Taufe gehoben. Über 300 Sängerinnen und Sänger aus 6 Dortmunder Chören wirkten hier zusammen, um diese Komposition des in Hörde (heute Dortmund) geborenen Wilsing wieder zu Gehör bringen zu können. Wilsing gehörte im 19. Jahrhundert zu den angesehensten Musikern als Komponist wie als Musikpädagoge. Nach seiner Gymnasialzeit in Dortmund absolvierte er zunächst das Lehrerseminar in Soest, bevor er von 1829-1834 in Wesel als Organist wirkte. 1834 ging er dann nach Berlin, wo er vor allem mit Privatunterricht seinen Unterhalt verdiente. Allerdings vernichtete er kurz vor seinem Tod nahezu alle seiner Partituren und Korrespondenzen, so dass er relativ schnell vergessen wurde, auch wenn sich sein Schüler Arnold Mendelssohn (1855-1933) um seine Erinnerung verdient machte.

Wilsings Vater, 1777 in Duissern (heute Duisburg) geboren, war reformierter Pfarrer in Dortmund und Hörde gewesen. Wilsings Urgroßvater mütterlicherseits, Johann Gottlieb Preller (1727-1786), war 1753 als Kantor nach Dortmund berufen worden und hatte zuvor in Weimar bei Johann Gottfried Walther (1684-1748) studiert. Walther war ein entfernter Vetter Bachs und seit dessen gemeinsamer Zeit in Weimar in Freundschaft mit ihm verbunden. In Weimar hatte Preller eine der bis heute wichtigsten Sammlungen von Abschriften Bachscher Klavier- und Orgelwerke zusammengetragen, die Wilsing später erben sollte. Das Bachsche Erbe ist bei den zahlreichen Fugen in Wilsings De Profundis unüberhörbar. Im Zentrum des Werkes kommt die die eigene Sündenerkenntnis zur Sprache. Die Zerknirschtheit durch die eigene Sündenlast, das Nicht-Bestehen-Können vor Gott gepaart mit dem flehentlichen Ruf nach Erlösung wird wiederholt mit Fugen bedacht. Es ist so, als ob sich jemand versucht, aus der Tiefe mit Klagen  und Furcht und Zittern nach oben bzw. nach draußen zu arbeiten. Auch wenn dies letztendlich gelingt, so ist das Werk in seiner Massivität nicht nur beeindruckend, sondern auch bedrückend. Hier erklingt mehr als Kirchenmusik, hier wird das Verzweifelt-Sein über die eigene Welt vertont, die im 19. Jahrhundert grundlegend und umstürzend verwandelt wird.[1] Wilsing trifft dabei als Romantiker den Ton seiner Zeit, was nicht nur dadurch deutlich wird, dass Friedrich Wilhelm IV. ihm dafür die goldene Medaille für Kunst und Wissenschaft verleiht, sondern auch in den mehrfachen Rezensionen seiner Werke durch Robert Schumann[2], der in einem Brief vom 16. März 1853 über Wilsing schreibt: „Von aller neuen geistlichen Musik, die ich kenne, wüsste ich nicht, was diesem zu vergleichen wäre; es scheint mir ein ganz ausgezeichnetes Meisterwerk in jeder Beziehung. Abgesehen von der hohen Kunst des Tonsatzes, die der Psalm überall offenbart, wie man ihn nur in S. Bach begegnet, von der meisterhaften und eigenthümlichen Stimmführung, von allen Vorzügen, die den musikalischen Meister bezeichnen, ist es vor allem der tief religiöse Charakter, der aus dem Psalm uns in erhebenster Weise anspricht. Die ganze Kraft eines gläubigen Gemüths spricht auf das Überzeugendste zu uns.“[3] Die Aufführung dieses Werkes hätte die Ressourcen der Dortmunder Kirchenmusik überfordert. So ist es verdienstvoll, dass die Reinoldi-Gilde diese Aufführung im Wesentlichen gestemmt hat. Es wäre zu wünschen, dass Wilsings De Profundis auch auf CD zu hören sein könnte und dass sich vielleicht auch noch eine Aufführung seines großen Oratoriums „Jesus Christus“[4] realisieren lassen könnte.[5]

Im Dortmunder Konzert bildete Wilsing den Schlussakkord, dem eine selten aufgeführte Komposition seines im selben Jahr geborenen Zeitgenossen Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847) voranging: „Die erste Walpurgisnacht“ op. 60.[6] Diese Komposition entzieht sich den klassischen Gattungsbezeichnungen und ist am ehesten als ein weltliches Oratorium zu bezeichnen. Ihm liegt Goethes Gedicht von 1799 zugrunde, an dessen Vertonung sich Carl Friedrich Zelter (1758-1832), der gemeinsame Lehrer von Wilsing und Mendelssohn, vergeblich versucht hatte. Mendelssohn vertont das Goethe-Gedicht eindrucksvoll. Mendelssohns Walpurgisnacht entsteht 1832 und erscheint nach einer neuen Orchestrierung 1843 als op. 60. Die Ouvertüre enthält Anklänge an die später entstandene Schottische Symphonie. Der Text ist deutlich christentumskritisch. Es geht um Religion und Frühlings-Rituale der vorchristlichen Germanen auf dem Brocken. Goethe sieht diese vom Christentum verdrängt und verfolgt. So singt die alte Frau nach dem Chor der Druiden:

„Kennet ihr nicht die Gesetze
unsrer strengen Überwinder?
Rings gestellt sind ihre Netze
auf die Heiden, auf die Sünder.
Ach, sie schlachten auf dem Walle
unsre Väter, unsre Kinder.
Und wir alle
nahen uns gewissem Falle,
auf des Lagers hohem Walle
schlachten sie uns unsre Kinder.
Ach, die strengen Überwinder.“

Die Druiden beschließen, die Christen mit ihrer eigenen Angst in die Flucht zu schlagen, so dass sie ihren „Allvater“ ungestört loben können. Dazu verkleiden sie sich als Teufel und veranstalten ein großes Geschrei, wenn die Christen sie stören kommen, wie der Chor der Wächter der Druiden singt:

„Diese dumpfen Pfaffenchristen,
lasst uns keck sie überlisten!
Mit dem Teufel, den sie fabeln,
wollen wir sie selbst erschrecken.
Kommt! Kommt mit Zacken
und mit Gabeln,
und mit Glut und Klapperstöcken
lärmen wir bei nächt’ger Weile
durch die engen Felsenstrecken!
Kauz und Eule,
heul’ in unser Rundgeheule.
Kommt! Kommt! Kommt!“

Dieser Plan geht auf. Und so werden die christlichen Wächter in Angst und Schrecken versetzt und ergreifen die Flucht, wie es der Chor der christlichen Wächter besingt: Selffulfilling prophecy einer unaufgeklärten Theologie und Frömmigkeit!

„Hilf, ach hilf mir, Kriegsgeselle!
Ach, es kommt die ganze Hölle!
Sieh’, wie die verhexten Leiber
durch und durch von Flamme glühen!
Menschen-Wölf’ und Drachenweiber,
die im Flug vorüberziehen!
Welch entsetzliches Getöse!
Lasst uns, lasst uns alle fliehen!
Oben flammt und saust der Böse.
Aus dem Boden
dampfet rings ein Höllenbroden.
Lasst uns flieh’n!“

Es ist wunderbar, wie farbenfroh und effektvoll Mendelssohn diese ganze Szenerie musikalisch auskostet. Wer Mendelssohns Oratorien schätzt, muss auch dieses Oratorium mit im Ohr haben. In ihrer musikalischen Qualität nehmen sich die Elias-Chöre und diese Walpurgisnachtchöre nichts – beides ist grandiose Musik, beschwingt, anrührend, erhaben. Dabei geht es Mendelssohn in seinen Oratorien immer auch um Aufklärung. Diese ist im Elias-Schluss[7] genau so präsent wie auf dem Brocken, wo es im Schlusschor heißt:

„Die Flamme reinigt sich vom Rauch;
so reinig’ unsern Glauben!
Und raubt man uns den alten Brauch,
dein Licht, wer kann es rauben?“

Die Walpurgisnacht hat drei unterschiedliche Interpretationsrichtungen erfahren:[8] Eric Werner liest sie als „milde Satire auf mittelalterlich-kirchliche Bigotterie und Aberglauben und stellt einen reinen, aus der Erkenntnis der Natur entsprungenen Monotheismus gegen die abergläubischen Sitten der frühen europäischen Kirche“[9]. Für Lawrence Kramer steht in der Walpurgisnacht weniger das Christentum in der Kritik, sondern ein „Phariseeism, the narrow, dogmatic, anti-cosmopolitan cast of mind that Robert Schumann identified with the Philistines“[10]. Heinz-Klaus Metzger schließlich sieht in Mendelssohns Walpurgisnacht „jüdischen Protest gegen die Herrschaft des Christentums“[11] am Werk.

Auch diese Interpretationen begeben sich je und je in Teufels Küche. Was bleibt, ist eine Form der Religionskritik, der sich auch Kirchenmusik zu stellen hat. Hier erklingt Kirchenkritikmusik als Kirchenmusikkritik, deren bürgerlicher Ort der Konzertsaal[12] darstellt. Es bleibt lobend hervorzuheben, dass sich die Dortmunder Kirchenmusik kräftig mitbeteiligt hat an dieser Aufführung in Dortmund und damit Religionskritik als auch für die Kirchenmusik notwendig anerkennt.[13] Weiter so!

Anmerkungen

[1]     Vgl. dazu Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 52010.

[2]     Vgl. dazu Thomas Synofzik: „… fruchtbares Streben verratend.“ Friedrich Eduard Wilsing in der Kritik Robert Schumanns, in: Bernhard R. Appel (Hg.): Robert Schumann und seine musikalischen Zeitgenossen. Schumann-Forschungen 7, Mainz 2002, 234-258.

[3]     Zum späten Schumann und seinem Verständnis von Religion vgl. Harald Schroeter-Wittke: Rose statt Luther. Schumann als Protestant, in: Ders.: Musik als Theologie. Studien zur musikalischen Laientheologie in Geschichte und Gegenwart, Leipzig 2010, 138-155.

[4]     Vgl. Willy Jentsch: Daniel Friedrich Eduard Wilsing. Zu seinem 100. Geburtstag, in: Die Musik 9.Jg. Band 33 (1909/1910), 156-160.

[5]     Allein Wilsings Drei Fugen für Pianoforte sind bislang neu verlegt in der Edition Dohr.

[6]        Vgl. dazu John Michael Cooper: Mendelssohn, Goethe, and the Walpurgis Night. The Heathen Muse in European Culture 1700-1850, Rochester 2007.

[7]     Vgl. dazu Harald Schroeter: Mendelssohns Elias. Ein Bibliodrama zwischen Kirche und Konzertsaal, in: Gotthard Fermor / Hans-Martin Gutmann / Harald Schroeter (Hg.): Theophonie. Grenzgänge zwischen Musik und Theologie, Rheinbach 2000, 128-151.

[8]     Vgl. dazu Wulf Konold: Felix Mendelssohn Bartholdy und seine Zeit, Laaber 21996, 93-110; Julie D. Prandi: Kindred Spirits. Mendelssohn and Goethe, Die erste Walpurgisnacht, in: John Michael Cooper / Julie D. Prandi (Hg.): The Mendelssohns. Their Music in History, Oxford 2003, 135-146; R. Larry Todd: Felix Mendelssohn Bartholdy. Sein Leben. Seine Musik, Stuttgart 2008, 304-308;

[9]     Eric Werner: Mendelssohn. Leben und Werk in neuer Sicht, Zürich 1980, 230.

[10]    Lawrence Kramer: Felix culpa. Goethe and the Image of Mendelssohn, in: R. Larry Todd (Hg.): Mendelssohn Studies, Cambridge 1992, 64-79 [hier: 78].

[11]    Heinz-Klaus Metzger: Noch einmal: Die erste Walpurgisnacht, in: Ders. / Rainer Riehn (Hg.): Felix Mendelssohn Bartholdy, München 1980, 93-96 [hier: 94].

[12]    Der Konzertsaal ist die bürgerliche Institution, die den interreligiösen Dialog musikalisch ermöglichte. So konnten Juden in den bürgerlichen Gesangsvereinen in Konzertsälen Bachs Johannespassion mitsingen. Dies wäre in Kirchen nicht möglich gewesen. Folgerichtig fand die Wiederaufführung der Bachschen Matthäuspassion durch Mendelssohn 1829 in einem Konzertsaal und nicht in einer Kirche statt. Diese Institution ist bis in die Gegenwart fruchtbar. Auf dem Stuttgarter Kirchentag 2015 hat der Komponist Bernhard König (vgl. www.schraege-musik.de) das mit Juden, Christen, Muslimen und Religionslosen entwickelte Projekt „TRIMUM – Die vielen Stimmen Davids“ daher folgerichtig in der Liederhalle uraufgeführt (vgl. dazu www.trimum.de).

[13]    Zur Weiterarbeit dazu vgl. Michael Weinrich: Religion und Religionskritik. Ein Arbeitsbuch, Göttingen 2011.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/103/hsw21.htm
© Harald Schroeter-Wittke, 2016