Was ich noch zu sagen hätte

Das Blogsurrogatextrakt XIX

Andreas Mertin

10.10.2016 – Endlich! Die Subversion der Verhältnisse

Der Protestantismus war einmal eine wortmächtige Konfession. Wenn eben nicht bildmächtig, so doch wortgewandt pflegte er seine Ansichten der Welt zu verkünden. Was soll man dann von einer E-Mail halten, die zum anstehenden Lutherjahr eintrifft und so eröffnet wird:

Liebe Alle,
in Berlin startete die Öffentlichkeitskampagne für den Reformationssommer 2017. Man erwartet vom Reformationsjubiläum wichtige Impulse auf aktuelle Fragen, wie zum Beispiel die gesellschaftlichen Umbrüche, die derzeit stattfinden.
Apocaluther, das Musiktheater mit Kindern und erwachsenen Darstellern, hat bereits in diesem Sommer begonnen, an der Subversion der Verhältnisse zu arbeiten.

Wohlgemerkt, die E-Mail wendet sich nicht an Konfirmandengruppen oder MitarbeiterInnen, sondern an JournalistInnen, um diese zu motivieren, über http://apocaluther.de/ zu berichten. Wer wissen will, warum diese Mail eine Zumutung ist, sollte sie einmal Wort für Wort lesen.

Es fängt an mit dem inzwischen unvermeidlichen, aber sprachlich völlig falschen „Liebe Alle“. Denn „alle“ ist ein Adverb und muss nicht nur klein geschrieben, sondern auch mit einem Substantiv versehen werden. Der Kolumnist Matthias Kalle hat im Tagesspiegel einmal geschrieben, „Liebe Alle“ sei „die unhöflichste aller Anreden, es geht nicht unpersönlicher, der Einzelne verschwindet in einer undefinierbaren, schier endlosen Masse.“ Recht hat er. Während „Liebe / Lieber“ sich an ein Individuum wendet und selbst „Liebe Kolleginnen und Kollegen“ noch einen Hauch von Privatheit verströmt, versucht „Liebe Alle“ Intimität zu suggerieren, wo die Masse angesprochen wird. Ehrlich wäre „An alle“, aber das ist nicht erwünscht.

Den folgenden Satz (die Öffentlichkeitskampagne für den Reformationssommer) genieße ich einfach nur und stelle mir vor, Martin Luther hätte, statt seine Thesen in Wittenberg anzuschlagen, lieber erst mal eine Öffentlichkeitskampagne für den Thesenanschlag gestartet. Denn der gebe „wichtige Impulse auf aktuelle Fragen“. Da wären die Leute nur so geströmt und die Reformation wäre in Gang gekommen und man hätte sie 500 Jahre später noch feiern können. So aber ... Pech, dass Luther keine Pressereferentin hatte.

Ob ich freilich von einem Jubiläum „Impulse auf aktuelle Fragen“ und nicht doch lieber Antworten auf diese erwarte, muss ich mir erst noch überlegen. Vielleicht sind Antworten ja noch peinlicher als Impulse. Ob die gesellschaftlichen Umbrüche Fragen sind oder nicht eher solche provozieren – auch das könnte man fragen. Muss man aber nicht.

Glücklich bin ich darüber, dass ich die Antworten auf die Fragen auch nicht suchen muss, sondern auf andere hoffen darf. Denn das Musiktheater Apocaluther hat ja schon begonnen „an der Subversion der Verhältnisse zu arbeiten“. Aber darf man das per E-Mail allen kundtun? „Als politische Subversion“ so lese ich, „bezeichnet man eine Tätigkeit im Verborgenen, deren Ziel der Umsturz einer bestehenden Ordnung durch Unterwanderung und Untergrabung ist.“ Heute aber haben Subversive eine Presseabteilung. Das erinnert an den Spruch von Lenin: „Wenn diese Deutschen einen Bahnhof stürmen wollen, kaufen die sich erst eine Bahnsteigkarte!“

Subversive Lutheraner aller Länder vereinigt Euch!


10.10.2016 – Werbung


Screenshot Bibelgesellschaft

Das Original – Der Klassiker – Das Kulturgut! Wir sind es inzwischen gewohnt, von der Werbung nach Strich und Faden belogen und betrogen zu werden. Warum sollte die Werbung der Deutschen Bibelgesellschaft da eine Ausnahme machen?

Das Original – was soll das heißen? Das Original der Übersetzung? Das ist die „revidierte“(!!!) Lutherbibel von 2017 ganz sicher nicht. Es mag eine originale Übersetzung der hebräischen und griechischen Bibel erster oder letzter Hand geben, aber weder Luther 1912, noch 1984 und auch nicht 2017 sind „Das Original“. Weit entfernt davon. Nicht einmal ein Faksimile. Man müsste sich vorstellen, man bekäme einen Original-Holzschnitt von Cranach angeboten, und dann wäre es doch nur ein Holschnitt nach Cranach von Jörgen Habedank aus dem Jahr 2015. Was für eine Enttäuschung! Es wäre reiner Etikettenschwindel.  

Der Klassiker – was soll das besagen? Der Klassiker im täglichen Gebrauch? Wie will man das vorab wissen? Ein Klassiker der deutschen Sprache? Das kann sich ja nur auf vorherige Ausgaben beziehen, nicht auf die aktuelle. Es mag eine revidierte Ausgabe eines Klassikers sein, ob diese aber selbst zum Klassiker wird, muss sich noch erweisen. In Zeiten, in denen alle –zig Jahre eine Revision vorgenommen wird, hat eine Ausgabe heute kaum die Chance, jemals zum Klassiker zu werden.

Das Kulturgut – was soll das wiederum bedeuten? Ein Kulturgut ist normalerweise ein schützenwertes Gut, das in seinem Originalzustand so gut es eben geht, zu erhalten ist. Niemand ändert / revidiert ein Gemälde von Jan van Eyck einfach, weil wir heute die dort verwendeten Kleidungen nicht mehr verstehen. Sonst kommen wir zu Ergebnissen wie dem Folgenden:

Das ist ein Kulturgut des 15. Jahrhunderts, der Tanz um das Goldene Kalb in der Bunten Kirche in Lieberhausen im Bergischen Land. Und weil man vielleicht im Luthertum immer schon ein bestimmtes Verhältnis zur Re-Aktualisierung hatte, wurde dieses ‚Kulturgut‘, dieser ‚Klassiker‘, dieses ‚Original‘ immer mal wieder in eine aktualisierte revidierte Fassung gebracht. Die letzte Re-Vision datiert leicht erkennbar in das frühe 20. Jahrhundert. Der Tanz um das Goldene Kalb mit rückenfreien Kleidern. Hier hat ein Restaurator das mittelalterliche Bild an den Zeitgeschmack (oder seinen eigenen) angepasst. Selbstverständlich ist auch das inzwischen ein „Klassiker“ und ist sicher auch ein erhaltenswertes „Kulturgut“. Aber konserviert wird es eher im Blick darauf, wie man es nicht machen sollte und warum wir heute anders verfahren.


10.10.2016 – Unchristliche Sprache

Wie muss man sich die Sprache eines bigotten Christen vorstellen? Eines ‚Christen‘, der Wasser predigt und Wein trinkt, der für die katholische Moral eintritt und Andersdenkende mit ungeheuerlichen und unbewiesenen Vorwürfen denunziert, aber sobald es seinen Zielen dient, die Augen fest verschließt und den eingestandenen sexuellen Missbrauch von Frauen bloß als „verbalen Mist“ bezeichnet. Wie kann man nur so verlogen sein? Ein Kommentator auf kath.net geht unter dem hypertrophen Pseudonym Gandalf auf die Vorgänge rund um das bekannt gewordene Video von Donald Trump ein, in dem dieser damit prahlt, jederzeit Frauen missbrauchen zu können, weil er ein Star sei. Und das gelte auch, wenn die betreffende Frau verheiratet sei. Man sollte meinen, ein Katholik müsste einen derartigen Menschen uneingeschränkt für unwählbar in ein politisches Amt, ein gehobenes zumal, ansehen.

Das, was man dort im Video hört, ist keinesfalls „verbaler Mist“, es ist zumindest nach deutschem Recht die Selbstbezichtigung mit einem Verbrechen. In einer demokratischen Kultur würde so jemand nicht gewählt. Nun verweist der Kommentator darauf, dass Hillary Clinton, die Konkurrentin von Trump „genug Dreck am Stecken habe und nicht nur verbal Mist gemacht“ habe. Dazu ist zunächst einmal zu sagen, dass das Verbrechen des einen durch das angebliche Verbrechen der anderen nicht gerechtfertigt würde. Nur weil alle betrügen, darf man es noch lange nicht selber tun. Eine katholische Moral wird daraus nicht – ganz im Gegenteil, das ist eine Argumentation nach dem Denkschema von Kleinkriminellen.

In der Sache selbst lügt der Kommentator schlicht. Nein, Trump konnte nicht vier Frauen präsentieren, die der Ehemann der Kandidatin missbraucht hat, nicht einmal eine einzige. Er konnte nur drei Frauen präsentieren, die das behaupten und eine Frau, die Hillary Clinton vorwirft, Rechtsanwältin gewesen zu sein. In keinem der Fälle gibt es – obwohl es Prozesse gab – ein Gerichtsurteil zu Lasten von Clinton. Der schwerwiegendste Vorwurf der Vergewaltigung von Juanita Broaddrick besticht durch den Umstand, dass diese Clinton nie angezeigt hat und vor Gericht unter Eid aussagte, es habe keine Vergewaltigung gegeben. Das heißt nicht, dass es den Vorfall nicht gegeben hat, sollte einen aber sehr vorsichtig sein lassen, ihn als Tatbestand hinzustellen. Beim zweiten Fall liegt dagegen ein Gerichtsurteil vor, das Verfahren wurde Mangels an Beweisen eingestellt. Der dritte Fall geht um den Vorwurf, Bill Clinton habe der Betreffenden mit der Hand durch die Haare gefahren, zudem habe er versucht, sie zu küssen und habe sie begrapscht. Die Untersuchung ergab, dass die Beweislage unzureichend sei.

Was unterscheidet die drei Fälle von dem Fall von Trump? Bei Trump liegt ein Eingeständnis des Tatausführenden vor, es handelt sich also um einen gut belegten Fall des Missbrauchs. Die anderen Beispiele sind dagegen zunächst einmal nur Behauptungen. Wer die Differenz zwischen Beschuldigung und Beweis nicht kennt, sollte, das ist dem Kommentator zu sagen, tatsächlich schweigen.

Bleibt der Abschlusssatz Gandalfs, dass eine „Killery Clinton“ für Katholiken nicht wählbar sei. Das bezieht sich darauf, dass Hillary Clinton in der Abtreibungsfrage eine liberale Haltung einnimmt. Für Lebensschützer ist das fast schon selbstverständlich Anlass genug, die Betreffende als Mörderin zu bezeichnen. Nein, so muss man klar dagegen halten, wer für die Fristenlösung eintritt, ist in keinem Rechtsstaat dieser Welt ein Mörder. Das ist ein Lackmustest demokratischer Kultur. Nur in absurden ultramontanen Gedankenspielen, die in finsterster Weise an das Mittelalter erinnern, wird jemand für seine Haltung in einer politischen Frage mit dem Vollzug des entsprechenden Vorgangs identifiziert. Es ist juristisch auch gar nicht möglich, in der Frage der politischen Haltung zum Schwangerschaftsabbruch zum „Mörder“ zu werden – auch nicht, wenn man jemanden persönlich für einen Schreibtischtäter hält.

Wenn man dennoch jemanden, der in der Frage des Schwangerschaftsabbruchs eine andere politische Haltung einnimmt, als Mörder bezeichnet, dann wird man im Deutschen allerdings tatsächlich zum ‚Mörder‘, nämlich zum „Rufmörder“.

Wer immer hinter dem Pseudonym Gandalf steckt, seinen Kommentar sollte man in der Pfeife rauchen.


16.10.2016 - Was ist Glück?

Der Supermarkt bei mir um die Ecke macht gerade folgendermaßen Werbung:

Was ist also Glück? Beworben werden mit diesem Slogan Coupons, die einen Bonus beim Einkauf versprechen. Wenn ich also in dieser Woche dort Käse einkaufe, sagen wir für 12 Euro, dann bekomme ich Punkte im Gegenwert von 30 Cent gutgeschrieben. Ein sagenhafter Preisnachlass von 2,5%. Daraus lese ich, das Glück heute in Deutschland in relativ kleiner Münze zu haben ist. Denn im Gegenzug habe ich ja auch meine Konsumdaten an ein Konsortium abgegeben, das nun nicht nur weiß, dass und wann ich Käse kaufe, sondern auch, dass ich für derartige hirnrissige Aktionen zu haben bin. Auf der ewigen Suche nach Glücksmomenten. „Mächtig freuen“ könne ich mich über diese Gelegenheit, schreibt der Konzern, ich bräuchte nur den Coupon ausdrucken und an der Kasse vorlegen. Und schon ist der Gewinn (das Glück?) futsch. Bis ich den Drucker angeworfen habe, das Papier eingelegt und den Coupon ausgedruckt habe, ist mindestens 1 Minute rum. Was die wohl kostet, wenn man sie umrechnet?


25.10.2016 – Antisemitismus pur

Idea hetzt mal wieder gegen andere Religionen. Das muss einen nicht überraschen, gibt es doch viele Überschneidungen dieses Portals mit der Ideologie der AFD und der Zeitschrift Junge Freiheit. Warum bekommt dieses Portal immer noch Geld von der EKD? Stein des Anstoßes ist dieses Mal, dass im VELKD-Seminar in Pullach christliche Theologen zusammen mit einem Imam und einem Rabbiner in den jeweiligen Heiligen Schriften lesen. Ja, das ist für die religiösen Kampfhähne natürlich etwas Ungeheuerliches und Unerlaubtes. Man könnte freilich darin gerade etwas Befriedendes sehen, aber das will Idea natürlich nicht. Und eigentlich hat man auch nichts gegen Juden, Zielpunkt der Kritik ist natürlich die Kommunikation mit den Muslimen. Nur muss man dabei Argumente verwenden, die auch die Juden treffen. Wenn man meint, man dürfe nicht mit Muslimen kommunizieren, die die Gottessohnschaft Christi bestreiten, macht man implizit eine Aussage über die Kommunikation mit Juden. Man kann nicht das eine haben wollen und das andere ausgrenzen. Aber wenn Kampfhähne mal so richtig in Fahrt sind, dann geht es nicht mehr um Toleranz, sinnvolle Umgangsformen und dergleichen, dann heißt es nur noch: Draufloshacken.

Das verstehen auch die LeserInnen von Idea, die wenig Probleme haben, den substantiellen Kern der Argumentation offenzulegen. So schreibt einer:

Für einen Evangelikalen ist schon die Unterscheidung zwischen EKD und VELKD schwierig und die zwischen einem Zusammenschluss und einer Einrichtung dieses Zusammenschlusses noch mehr. Differenzierung scheint dieser Form des Denkens auch nicht mehr nötig. Das wird an der Argumentation mehr als deutlich. Da hat jemand offenkundig Eltern und Großeltern gehabt, die nicht nur bei Deutschen Christen zur Sonntagsschule gegangen sind, sondern dies auch noch in die nächste und übernächste Generation weitergegeben haben. Klar, in der hebräischen Bibel geht es dann nur noch – wie schon zwischen 1933 und 1945 – um ‚alttestamentarische‘ Geschichten Gottes mit seinem Volk. Solch bewährte antijudaistische Sprache muss einfach sein. Die ‚alttestamentarische‘ Geschichten seien aber nicht lustig und spannend, im Gegensatz zu nordischen Göttersagen und griechischen (so viel Alfred Rosenberg war lange nicht mehr). Unser evangelikaler Besserwisser würde sich aber noch viel lieber als Stephanus hinstellen und sich (von den Juden oder von den in Pullach versammelten VELKD-PfarrerInnen?) töten lassen, weil er das Christuszeugnis ablegt. Was für ein Idiot! Und er kennt nicht mal die Rede des Stephanus, der ja Jesus nicht direkt erwähnt, sondern sich unmittelbar in die jüdische Geschichte einordnet und nur(!) „alttestamentarische“ Geschichten erzählt.

Die unsägliche Verkürzung des Denkens wird auch noch in einem anderen Leserbeitrag bei Idea deutlich. Es macht einen fassungslos, wenn man das liest. Rabbiner als antichristliche Religionsführer? Wie kann ein evangelisches Nachrichtenportal derartiges unkommentiert stehen lassen? Wissen sie nichts über die lange Geschichte der Verbindung von Antisemitismus und derartigen Talmudvorwürfen? Ist es ihnen egal, dass sie auf diese Weise zum Fortbestand des Antisemitismus in Deutschland beitragen? Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Inzwischen ist die Zahl derartiger antisemitischer und antijudaistischer Kommentare unter Artikeln von Idea so groß, dass man das nicht mehr als Zufall bezeichnen kann. Idea bietet den Ewiggestrigen eine Plattform. Natürlich kann man aus der Artikulationsform erkennen, dass es sich um gestörte Menschen handelt. Wer meint, nur weil ein Seminar einen Rabbiner und einen Imam einlädt, müssten gleich „Kirchenfürsten“ – was immer das bei der VELKD darstellen soll – dahinter stecken, die den Antichristen fördern, hat schon einen ziemlichen Knacks in der Birne. Aber man muss das nicht fördern.


26.10.2016 – „Auch“

Manchmal ist es überraschend, was ein kleines Wörtchen alles implizieren kann. Natürlich ist das beim „sola“ Martin Luthers berühmt und fast schon legendär. Manchmal verändert so ein kleines Wort aber auch ganz einfache Nachrichten. Am 19. Oktober 2016 erschien die neueste Revision der Lutherbibel und wurde mit markigen Worten beworben (s. meinen Kommentar am 11.10.2016).

Am 15.10. schrieb nun Matthias Kamann, Redakteur der Zeitung WELT, einen Artikel über die Neuausgabe unter der Überschrift „Was die Neue Lutherbibel alles verändert“. Mich interessiert nun seine Bewertung weniger als zwei Punkte, die im Teaser zu seinem Artikel auftauchen. Unter der Überschrift wird der Artikel wie folgt zusammengefasst:

„Die aktuelle Lutherbibel stammte aus dem Jahr 1984. Nun veröffentlicht die evangelische Kirche eine längst fällige deutsche Neuausgabe. Sie ist genderkorrekt. Aber das ist nicht die einzige Änderung.“

Diesen Teaser hätte ich vor 10 Jahren nicht für möglich gehalten. Damals veröffentlichte eine Arbeitsgruppe die „Bibel in gerechter Sprache“ und stieß auf den härtesten Protest nicht nur der binnenkirchlichen Fundamentalisten, sondern auch der EKD-Führung. In bis dahin einzigartiger Weise mischte sich der Rat der EKD in die Diskussion um die Bibel in gerechter Sprache ein und distanzierte sich von ihr. Das hat zwar dem Erfolg dieser Bibel nicht im Wege gestanden, aber war doch ein bedenklicher Akt des Versuchs, die Erkenntnisse, die der Bibel in gerechter Sprache zugrunde lagen, der Öffentlichkeit vorzuenthalten. Und die Konservativen fühlten sich von der EKD ermutigt, gegen die ‚Genderbibel‘ zu protestieren. Nun erscheint 10 Jahre später die neueste Lutherrevision und das Bemerkenswerteste, was die Redaktion der WELT an ihr hervorhebt, ist, dass sie genderkorrekt sei.

Natürlich wird man vergeblich auf eine Erklärung der EKD warten, dass sie an der Bibel in gerechter Sprache gelernt habe, die Bibel genderkorrekt zu übersetzen.

Aber in der Rezeptionsgeschichte wird das so wahrgenommen werden. Darauf deutet ein kleines Detail im Text von Matthias Kamann hin. Über seinem Texttitel steht nämlich die knappste Zusammenfassung durch die Redaktion und die lautet „Jetzt auch genderkorrekt“. Natürlich lässt das mehrere Lesarten zu: dass die neue Lutherbibel neben ihrer sprachlichen Verbesserung und der Aktualisierung in exegetischen Fragen auch auf Genderfragen eingegangen ist. Das wäre die schwache Lesart des „auch“. Viel wahrscheinlicher ist es aber, das „auch“ stark zu lesen und zu sagen: Wie die Bibel in gerechter Sprache ist nun (endlich) auch die Lutherbibel genderkorrekt.

Was für ein Schlag ins Gesicht der EKD-Kritiker an der Bibel in gerechter Sprache!

Wie überaus peinlich, wenn deutlich wird, dass man, wenn auch nicht expressis verbis, so doch durch Vollzug den Argumenten der Arbeitsgruppe der Bibel in gerechter Sprache folgen musste. In diesem Sinne und in der Sprache, die die Deutsche Bibelgesellschaft offenkundig am besten versteht („Das Original – Der Klassiker – Das Kulturgut“), hier der Verweis auf das Original ->.


03.11.2016 – Sich mit Kunst blamieren

Ein Freund macht mich auf einen Artikel des neuen Kulturbeauftragten der EKD, Johann Hinrich Claussen, im evangelischen Magazin Chrismon aufmerksam, in dem dieser sich kritisch mit der Vermarktung des Lutherjahres auseinandersetzen soll. Chrismon ist online und deshalb schlage ich einmal nach. Kritisch klingt es tatsächlich, ist es dann aber doch nicht. Es ist eher die Inkarnation eines Gedichtes von Ernst Meister:

Am Meer
ein Lachen, sie haben
den Fisch gefangen, der spricht.
Doch er sagt,
was jedermann meint.

Das ist die Tragik aller bisherigen Kulturbeauftragten. Sobald sie von der EKD eingefangen werden, sagen sie nur noch, was jedermann meint. Sie äußern Kritik – aber immer in dem Rahmen, in dem es niemanden schmerzt. Und sie benutzen Pseudo-Argumente, die in Wirklichkeit argumentfrei sind, weil sie aus gesellschaftlich anerkannten Klischees bestehen. Sie machen Geschmacksurteile zu Kunst-Urteilen. Aber der stärkste Vorwurf, den man ihnen machen muss, lautet: sie sind langweilig. Kultur ist in aller Regel aufregend, verstörend, Grenzen überschreitend, nervenaufreibend. Zugleich ist sie ironisch, irritierend, lächerlich und lächerlich machend. Aber eben nie: langweilig. Und wenn man Kultur kritisiert – und das ist ein Lebenselixier von Kultur – dann sollte man das möglichst geistvoll machen.

Zunächst wendet sich der Kulturbeauftragte der Playmobil-Figur von Martin Luther zu. Er findet sie banal. Dass Michael Brumlik sie in der TAZ als antijudaistisch kritisierte, interessiert ihn offenbar nicht. Er hält sie nur für eine verkleinerte Ausgabe eines Kunstwerks von Ottmar Hörl. Das hält er für Kitsch. Von dessen Kunst versteht er nichts, das erkennt man an den wenigen Sätzen, die er äußert. Von serieller Kunst scheint er noch nie gehört zu haben, von Kunst, die die Lächerlichkeit des Bildgegenstandes zum Gegenstand der ästhetischen Reflexion macht, auch nicht. Mit der Materialreflexion, die jeden Künstler umtreibt – was kann ich mit welchem Material wie und wo machen – kann er nichts anfangen. Warum auch? Es geht ja nur um Geschmacksurteile. Verkleinerung eines überhöhten Modells – kann ja nur Erfüllung des Kindchenschemas sein. Solches Denken fällt auf den zurück, der es äußert. Auf die Idee, dass die Playmobil-Figur auf derselben Ebene liegt wie ein Werk von Ottmar Hörl, darauf muss man erst mal kommen. Es ist so, als würde man die Readymades von Marcel Duchamp nach den Kriterien von OBI bewerten. Barbarisch. Das ist eine klassische Kategorienverwechslung. Aber schon andere Anästhetiker des Protestantismus wie Friedrich Schorlemmer sind dem erlegen.

Was der Kulturbeauftragte dann fordert, ist keineswegs eine Reformationsfeier, sondern modifizierter Luther-Kult. Dabei wäre es doch an der Zeit, sich von Luther zu verabschieden, dem grauenhaften Helden-Kult der Deutschen eine sachorientierte Alternative entgegenzustellen. Es gibt gute Gründe, selbstbewusst Protestant zu sein, wenige Argumente, dies mit dem Namen Martin Luther zu verbinden. Luther ist eine, aber auch nur eine der Handlungsfiguren der Reformation. Wäre es nicht an der Zeit, Philipp Melanchthon etwas mehr Aufmerksamkeit zu schenken? Oder dem Evangelischen im Allgemeinen? Der Kulturbeauftragte schreibt:

Die ernst zu nehmenden Erinnerungsarbeiter aber sind sich einig, dass sie den alten Luther-Kult nicht weiterführen wollen. Sie möchten, ohne die Bedeutung des Reformators zu schmälern, auch seine dunklen Seiten zeigen und auf die europäische Vielfalt der Reformation aufmerksam machen. Vor allem ist ihnen die Entfernung zwischen heute und damals wichtig: Luther ist ein Fremder.

Ernst zu nehmende Erinnerungsarbeiter? Das ist aufgeblasen, pathetisch und vor allem: es ist falsch. Selbst noch im Negativen wird Luther zum Heroen stilisiert. Dabei geht es 2017 überhaupt nicht um Luther. Es geht um Theologie, um Religion, um Glauben und vor allem geht es um Jesus Christus. Ach ja, der kommt im Text nicht vor. Warum auch? Dafür haben wir ja das Christussurrogatextrakt Martin Luther.

Dass jemand, der von Kunst nichts versteht, den Protestantismus zur Lesekonfession erklärt, ist irgendwie passend. Um das zu behaupten, muss er aber im 19. Jahrhundert eingeschlafen sein. Pfarrerinnen und Pfarrer lesen heute nicht mehr und kaum anderes als der Rest der Bevölkerung. Die guten alten Zeiten protestantischer Bildung sind lange vorbei. Heute ist man als Pfarrer im AK Pop und schaut Kino oder liest Comics, freut sich an Game of Thrones oder hat sich dem Schlagerkult ergeben – aber lesen? Da sollte der Kulturbeauftragte mal bei Verlagen nachfragen, wie die Auflagen theologisch relevanter Bücher gesunken ist, weil kein Pfarrer sie mehr liest – theologische Fachzeitschriften inklusive. Meine Bildung hab‘ ich aus dem Fernseh’n – sang schon in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts Lucilectric und das Ergebnis sind Theologinnen und Theologen, die zwischen einer Playmobil-Figur und einem Kunstwerk keinen Unterschied erkennen können (wollen). Zur Besserung empfiehlt man uns dann die Miniserie Luther-Code von Arte – spätestens dann sollte man konsequent der AK-Pop-Kultur folgen, zur Fernbedienung greifen und von Chrismon wegzappen. Es gibt so viele gute Programme, die nicht damit Werbung machen, dass schon wieder ein so genannter Prominenter Werbung für die Bibel, die Kirche oder den Protestantismus macht [immer frei nach dem Knopp‘schen Motto: Die Lutherbibel 2017 – der Opel-Astra unter den Übersetzungen]. Peinliches Namedropping ist das. Chrismon ist ein protestantischer Teletubbie-Zirkus, in dem wenige ausgewählte Teletubbies (Tinky-Winky, Dipsy, Laa-Laa und Po) so tun, als stünden sie für den protestantischen Kosmos schlechthin. Dem gehören sie an, aber sie repräsentieren ihn nicht – wir sind ja hier nicht im Vatikan -, sie sind nur Funktionäre

Am Ende empfiehlt uns der Kulturbeauftragte 95 Thesen „bekannter Intellektueller“ und wichtig ist dabei offenkundig das Adjektiv und nicht das Substantiv. Immerhin sagt er ehrlich, was dabei herauskommt: „wenn die eine oder andere These etwas kitschig geraten sollte, wäre das kein Schaden. Denn man soll nicht vergessen: Kitsch kann auch eine populäre Gestalt der Liebe sein.“ AK Pop at it‘s best.

Kitsch als populäre Gestalt der Liebe? Ich verweise lieber auf das bereits 1950 erschienene Buch von Richard Egenter „Kitsch und Christenleben“:

„Kitsch und Christenleben? Was hat der Kitsch mit dem religiösen Leben des Christen zu tun? Ist er nicht ausschließlich eine Frage des guten Geschmacks und der Ästhetik? … Dabei erweist es sich, daß der Kitsch eben doch keine rein ästhetische Angelegenheit ist, sondern daß er in viele Lebensbereiche des Menschen — auch in sein religiöses Leben — hineinwirkt. Der Kitsch trübt den Blick des Menschen für das wirklich Schöne und Erhabene, verbildet das Gefühlsleben und gibt ein verzerrtes Bild der Wirklichkeit. Nicht minder gefährlich als der profane Kitsch wirkt sich der religiöse Kitsch aus. Eben weil das religiöse Leben nicht einen Teil, sondern den ganzen Menschen meint und umfaßt, ist es notwendig, um den Kitsch und seine Auswirkungen auf den Menschen zu wissen.

Das Buch von Egenter wendet sich den wahren Ärgernissen zu, dem „atembeklemmenden, Bakterien nährenden Staub des Kitsches“, ein Staub der aufs Denken schlägt und das Leben beschädigt: „Die Herrschaft des Kitsches war im christlichen Leben der letzten hundert Jahre zeitweise eine fast totale.“

Fast 70 Jahre später könnte man das Wort für Wort wiederholen, nur dass die EKD den Kitsch inzwischen heilsam findet.

Man trinkt sich eben schön, was im nüchternen Zustand unerträglich wäre.

You want it darker?
If thine is the glory then mine must be the shame
.

Gute Nacht.


03.11.2016 – Witzbold

In der BILD-Zeitung, dem bewährten Artikulationsorgan für Intellektuelle, auf die man sonstwo nicht hört, mokiert sich der Historiker Michael Wolffsohn darüber, dass die „höchsten deutschen Vertreter des katholischen und evangelischen Christentums“ beim Besuch des Felsendoms ihr Brustkreuz abgenommen hätten und wittert darin eine Unterwerfung unter den Islam. Das mag man so sehen. Nun waren beide überaus deutlich als evangelische bzw. katholische Funktionsträger gekennzeichnet, hatten sich also nicht unterworfen, sondern nur die Kreuz(zugs)rhethorik etwas entschärft. Das kann man als problematisch sehen, ist aber genauso logisch wie das Aufsetzen der Kippa, wenn man eine Synagoge betritt. Ich finde nur, wenn man sich schon so weit aus dem Fenster lehnt, dann sollte man die Materie auch beherrschen. Nein, das Kreuz ist nicht das höchste Symbol / Zeichen der Christenheit, da irrt der jüdische Historiker. Das höchste Zeichen / Symbol / Moment der Vergegenwärtigung der Christen ist die Eucharistie bzw. das Abendmahl. Über Jahrhunderte hat das Christentum in Rom auf das Kreuz verzichtet – nicht aber auf das vergegenwärtigende Feiern des Letzten Mahles. Man kann natürlich ein Zeichen so hochstilisieren, dass es zum Sakrileg wird, wenn man es nicht trägt, aber dann muss man auch damit rechnen, dass andere das für lächerlich halten. Ein Christ wird nicht durch das Symbol des Kreuzes zum Christen und derartige ostentative und damit ausgrenzende Symbolpolitik sollte überhaupt nicht mehr gepflegt werden.

Dass Wolffsohn (oder die BILD) aus dem Ganzen nun eine „Kirchen-Sensation“ mit dem missverständlichen Untertitel „Kardinal und Bischof verzichten aufs Kreuz“ machen, klingt ein wenig, als wollten sie im Nachhinein ein wenig Krawallstimmung erzeugen. Denn eine Kirchen-Sensation ist das ganz sicher nicht, eher eine Bagatelle. Man muss schon ziemlich simpel gestrickt sein, um das als skandalös zu empfinden. Ach ja, ich vergaß – die BILD-Zeitung ...

Lustig ist aber auch ein anderer Umstand: Die BILD garniert den Text von Wolffsohn mit drei Fotos. Eines zeigt die beiden Bischöfe vor einer christlichen Kirche – mit Kreuz. Eines zeigt sie vor dem Felsendom – ohne Kreuz. Und eines zeigt sie vor der Klagemauer / Kotel – ohne Kreuz. Warum kam Wolffsohn nicht auf die Idee, die beiden Bischöfe hätten auch aus Rücksicht auf ihren jüdischen Gesprächspartner auf das ostentative Kreuz – und damit angeblich auf ihren Glauben – verzichtet? Könnte es schlicht sein, dass es den beiden Vertretern vor allem auf das Gespräch ankam und nicht auf symbolische Aus- und Abgrenzungen? Das wäre freilich keine Sensation, sondern eine ganz normale und selbstverständliche Geste aus einem Land, das sich über Jahrhunderte wegen religiöser Zeichensetzungen bekriegt hat.


15.11.2015 – Lutherrock

In heutigen Tagen muss ja erst mehrmals nachlesen, was mit einem Wort gemeint ist, bevor man weiß, was es im konkreten Fall bedeuten soll. So ist das Wort „Lutherrock“ heutzutage, wo Musicals und Rock-Events zu allen möglichen Themen organisiert werden, durchaus missverständlich. Es könnte neben einem Rock-Konzert anlässlich des Reformationsjübiläums auch einen Kletter-Berg in Lake Tahoe bedeuten.

Und wenn Lutherrock doch mal historisch korrekt gebraucht wird, weiß man nicht, ob es ironisch oder ernst gemeint ist. Der Satz „Wer den Lutherrock trägt, darf auf das Kreuz nicht verzichten“ ist ja keinesfalls eindeutig. Er bedeutet nicht, dass seit Martin Luther ein entsprechendes Kleidungsstück immer mit einem fetten Kreuz vor der Brust kombiniert werden müsste. Der Lutherrock ist ein Relikt des 19. Jahrhunderts als Zeichen eines „kirchlich gesinnten Luthertums“(!). Er gehört mit anderen Worten in die Kategorie der ostentativen Zeichen. Auf ihn bzw. bestimmte Teile von ihm zu verzichten, bedeutet also den ostentativen Gestus zurückzunehmen. Das kann durchaus sinnvoll sein. Der Satz kann aber auch kritisch verstanden werden im Sinne von „Wer sich kostümiert, sollte auch das komplette Kostüm tragen“. Das wäre dann eine Kritik daran, dass sich überhaupt jemand auf das Spiel der ostentativen Zeichen eingelassen hat, die im 21. Jahrhundert doch nur karnevalesken Charakter haben. Oder meint jemand ernstlich, auf dem folgenden historischen Bild aus dem Jahr 1980 zur konstituierenden Sitzung des Martin-Luther-Komitees der DDR im Amtssitz des Staatsrates mit Erich Honecker, Landesbischof Werner Leich, Gerald Götting, Bischof Werner Krusche würden sich die beiden das Kreuz und den Lutherrock tragenden Bischöfe nicht in die staatliche Ideologie einbinden lassen? Sie machen das ebenso, wie es die heutigen Funktionäre mit oder ohne Kreuz durch die staatlichen Instititionen der Bundesrepublik Deutschland tun.


Bundesarchiv, Bild 183-W0613-039 / Schneider


15.11.2016 – Vexierbild


Gefunden auf: www.evangelisch.de

Ein Vexierbild (lat. vexare „plagen“) ist laut Wörterbuch der Brüder Grimm ein „bild mit einem in der zeichnung verborgenen betrug, scherz“.

[P.S.: Bevor es jemand missversteht: Was ich meine ist, dass Text und Bild im Einklang stehen sollten. Man kann nicht seine Berthel Thorvaldsen Freundlichkeit über alle Meldungen ausgiessen. Manchmal muss eben auch ein wenig Ernst sein.]


16.11.2017 – Franklin Graham: Gott hat die US-Wahl gefälscht!

IDEA vermeldet eine absolute Sensation. Die US-Wahl war gefälscht. Und IDEA kennt auch den Verantwortlichen: Gott!

Bei der Wahl zum US-Präsidenten hatte Gott seine Hand im Spiel; das sei keine Frage. Diese Überzeugung äußerte der Präsident der Billy-Graham-Gesellschaft und des Hilfswerks ‚Samaritans Purse‘ (Geldbörse des Samariters), Franklin Graham (Charlotte/Bun­des­staat Nord Carolina) in einem Interview mit der Online-Zeitung Christian Today (London).

Der Satz von Graham macht nur Sinn, wenn die Wahl ohne Gottes Eingreifen anders verlaufen wäre. Das ist interessant. Gott kümmert es zwar nicht, wenn Millionen von Juden in Auschwitz und anderen Orten getötet werden, aber nach Meinung des Graham-Clans korrigiert er mal schnell die US-Wahl. Und Idea und kath.net machen daraus eine Meldung. Wie krank muss man sein, um so etwas zu kolportieren?

Und natürlich: hätte Hillary Clinton gewonnen, wäre der Anti-Christ am Werk gewesen. Wie schrieb ein kath.net-Nutzer so schön naiv:

Das erste Kriterium ist doch ob einer für oder gegen Abtreibung ist. Abtreibung ist das größte Verbrechen, da gibt es nichts zu verhandeln.

Das ist die Sprache des Terrors pur. Ob Kommentator bei kath.net oder IS-Terrorist, in dieser Frage sind sie sich immer einig: „da gibt es nichts zu verhandeln“.


19.11.2016 – Kindliche Berufsrevolutionäre

Der grobe Klotz aus Bremen hat sich mal wieder geäußert und spuckt große Töne. Er gehe davon aus, dass 80 Prozent der Pfarrer „nicht wiedergeboren“ seien. Ich gehe hingegen davon aus, dass Olaf Latzel Schwarzafrikaner ist – aber wahrscheinlich ist weder das eine noch das andere. Beides ist schlichtweg absurd. Olaf Latzel meint: „Das Wichtigste, was wir in Deutschland brauchen, ist Pfarrermission. Wir müssen die Pfarrer missionieren.“ Nun könnte man fragen, warum nicht auch die Pfarrerinnen? Aber natürlich kommen in Latzels Weltbild Pfarerrinen nicht vor, sie sind daher auch nicht bekehrungsfähig. Selbst wenn sie wiedergeboren würden, hätten sie nach dieser verqueren Weltsicht nichts auf der Kanzel zu suchen.

Dann schlägt Latzel noch weiter um sich und zeigt, wovon er noch so alles keine Ahnung hat. So übt er Kritik am Nein der EKD-Synode zur Judenmission. Zwar hätten die Deutschen dem jüdischen Volk in der Vergangenheit Schlimmstes angetan – „keine Frage“. Juden jetzt aber das Evangelium vorzuenthalten sei „Antisemitismus pur“. Ich weiß nicht, wie ich verständlich machen kann, wie sehr ich einen Menschen verachte, der so etwas sagt. Es geht nicht bloß um die Differenzierung von Antijudaismus und Antisemitismus, die Latzel offenkundig nicht begreift, es geht um die überaus widerliche Art, wie er Argumente instrumentalisiert, damit sie in sein reaktionäres Weltbild passen. Die Juden nicht zu missionieren ist Antisemitismus? Um derartigen Schwachsinn zu sagen, muss man in irrealen Welten leben. Es ist einfach nur krank.

Dann demonstriert Latzel noch einmal seinen Hang zur ganz und gar unevangelischen Gesetzlichkeit: Er ermutige dazu, täglich mindestens ein Kapitel aus dem Alten und ein Kapitel aus dem Neuen Testament zu lesen: „Wer es darunter tut, hat nicht genug Wort Gottes.“ Ernsthaft? Und zusätzlich am besten drei Pater Noster und zwei Ave Maria beten? Überlegt der Mann eigentlich nie, was er da quasselt?

Und unter diesem Erguss an Flachsinn tobt sich der evangelikale Mob aus. Da meint einer, nicht 80% der Pfarrer fielen durch den evangelikalen TÜV, sondern 100%. Dann muss er natürlich den landeskirchlichen Latzel inkludieren. Der wird sich freuen.

Einer, der sich Dr. Lothar Gassmann nennt, meint:

Die Kirchenleitungen wurden nach meiner Erfahrung überwiegend von 68er-Berufsrevolutionären besetzt, deshalb sieht es in der EKD so aus ...

Jawohl, er muss es wissen, empfiehlt er doch an anderer Stelle schon einmal, die AFD zu wählen, weil die CDU zu sozialistisch sei. Aber man kann ihn für 10 Sekunden mal ernstnehmen und schauen, wie alt unserer Kirchenleitungen eigentlich sind. Meine Landeskirche wird von einer 1963 Geborenen geleitet, die mit 5 Jahren offenkundig zur Berufsrevolutionärin ausgebildet wurde. Die Nachbarlandeskirche wird von einem 1958 Geborenen geleitet, ein Alter das – wie ich aus eigener Erfahrung weiß – es unmöglich macht, ein 68-Berufsrevolutionär zu sein. Die große Landeskirche mit Sitz in Hannover wird von einem 1962 Geborenen geleitet, die bayrische von einem 1960 Geborenen usw. usf. Der Griff in die rhetorische Schmutzkiste lässt sich also als solcher entlarven.

Gehen wir mal davon aus, dass jemand, um ein 68er-Berufsrevolutionär sein zu können, das Alter unseres früheren Bundesaußenministers haben muss, dann wären wir bei einem Geburtsjahrgang von 1948 oder wenn wir bei den ganz Jungen anfangen wollen, beim Jahrgang 1954, wenn wir an den früheren Bundesumweltminister denken (Studium 1975-1981). Aber schon bei letzterem kann man fragen, ob er nicht zu den Nachgeborenen zählt (von wegen ‚Gnade der späten Geburt‘). Alle potentiellen Alt-68er sind heute in Pension. Da muss man andere Ursachen suchen.

Wahnwelten offenbaren noch viele andere in dieser Diskussion:

Als ehemaliges Mitglied einer ev. Landeskirche in Hessen kenne ich keinen einzigen Pfarrer, der außer einigen "frommen" Phrasen wirklich das Evangelium verkündet oder selbst glaubt. Wie auch, wenn er z. B. an der Schule von Bultmann in Marburg "Theologie" studiert, die eigentlich nur Bibelkritik und Unglauben ist?

Abgesehen davon, dass Olaf Latzel in Marburg studiert hat, kann ich als Marburger Theologe nur sagen, das solche Zuschreibungen substanzloses Gefasel sind. Da hat jemand zu viel in den Hetzschriften der 50er-Jahre gelesen und die faktische Entwicklung der Theologie schlichtweg nicht zu Kenntnis genommen – oder nur aus evangelikalen Kampfschriften, die selten durch vorurteilsfreie Wahrnehmung der Wirklichkeit gekennzeichnet sind.

Die Marburger Theologie war immer vielfältig und sehr ausdifferenziert – in allen Fächern. Wer etwas anderes behauptet, war in den letzten 35 Jahren nicht dort oder stammt aus einen Parallel-Universum. Freilich, wer schon den Gebrauch der Vernunft für unevangelisch hält, weil diese ja auch im Umgang mit der Heiligen Schrift und der Überlieferung eingesetzt wird, dem ist nicht zu helfen. In dieser Perspektive gibt es an Universitäten keine Frömmigkeit.

Allen Ernstes empfiehlt ein anderer Diskutant, den – nach Latzel – verbliebenen 20% gläubigen Pfarrern, aus den Landeskirchen auszutreten und ihren Dienst in den Gemeinschaften und Freikirchen aufzunehmen. Cool – das wären dann bei angenommenen 4000 gläubigen Pfarrern die ersten Kirchen, bei der es ein 1:125-Verhältnis von Pfarrer zu Gemeindeglieder gäbe. So ein Arbeitsfeld kann ich jedem wiedergeborenen gläubigen Pfarrer nur empfehlen. Da aber Klamaukbrüder wie Latzel ausschließlich Männer als gläubige Pfarrer anerkennen können (es kann per Definition keine wiedergeborene Pfarrerin geben, das hat Latzel für seine Gemeinde ja kirchenamtlich festgelegt, weil die Berufung von Frauen ins Pfarramt schriftwidrig ist), dürfte freilich die Zahl noch einmal deutlich niedriger liegen, es sei denn, Latzel hätte sie bei seiner Gläubigen/Ungläubigen-Berechnung schon eingepreist. Dann aber wäre für die Landeskirchen durchaus noch Hoffnung: wir haben EKD-weit 21.500 Pfarrer und Pfarrerinnen – 20% „Gerettete“ bzw. Wieder-Geborene wären also 4.300. Da die Frauen rausgerechnet werden müssten (weil unmöglich gläubig im Schriftsinn), bleiben 14.300 Pfarrer, von denen dann 4.300 gläubig wären –i mmerhin 30% - also jeder 3. Das klingt doch schon viel besser - Hoffnung für die EKD (Ironie!).


19.11.2016 – Werte im Vergleichsmaßstab

WELT-Meldung [17.11.2016]:

„Die vermutlich älteste bekannte Inschrift der Zehn Gebote auf Stein aus dem 4. Jahrhundert ist in Kalifornien versteigert worden. Das Höchstgebot lag am Mittwochabend bei 850.000 Dollar (794.500 Euro)“

SPIEGEL-Meldung [19.11.2016]:

„Eine Originalzeichnung von Tim und Struppi aus dem Album "Schritte auf dem Mond" ist in Paris für den Rekordpreis von 1,55 Millionen Euro versteigert worden.“

Ohne Kommentar.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/104/am562.htm
© Andreas Mertin, 2016