Mit Kunst ... ? |
Mit Kunst predigen?Der homiletische Raubzug im Land der schönen KünsteAndreas Mertin
VorbemerkungDie folgenden Überlegungen versuchen, systematisch mögliche Einsatzpunkte von Kunstwerken im homiletischen Prozess zu bestimmen und kritisch deren Implikationen zu überprüfen. Jede Predigt konstituiert eine bestimmte Zuordnung von Prediger, Predigthörer, Wirklichkeit, Predigttext und Predigtthema. In dieses Beziehungsgeflecht muss das Kunstwerk eingeordnet werden. Der Umgang mit Werken der Kunst kann dabei so unterschiedlich ausfallen, dass eine einheitliche oder verallgemeinernde Beurteilung schwerfällt je nachdem, wo im homiletischen Prozess die Begegnung mit der Kunst situiert ist, welche Erwartungen an sie herangetragen werden, welche Funktionen ihr übertragen werden, wie ein Kunstwerk überhaupt wahrgenommen wird, wird das Urteil anders ausfallen müssen. So ist es eines, Kunstwerke zur Veranschaulichung oder als Ausweis der klassischen Bildung des Predigers einzusetzen, ein anderes aber, von Kunstwerken Erkenntnisse und Verständigungsmöglichkeiten über unsere Wirklichkeit zu erwarten oder an Kunstwerken gemachte Erfahrungen in der Auslegung biblischer Texte geltend zu machen oder sie als profane Gleichnisse des Reiches Gottes aufzufassen. Jede dieser Umgangsformen verdient besondere Beachtung und kritische Würdigung. Vorab ist eine Klarstellung notwendig: Theologen verhalten sich häufig gegenüber Ästhetik und Kunst, wie König Kreon von Theben im Trauerspiel des Sophokles „Ödipus auf Kolonos“. Dieser begründet sein Gewaltrecht, Antigone, Ismene und Ödipus aus ihrer zu Athen gehörenden Heimstatt Kolonos und damit aus fremden Land zu rauben, mit dem Satz: Wo wir sind, da ist Theben. Ähnlich pflegen Theologen auf dem Gebiet der Ästhetik zur Kunst zu sprechen: Wo wir sind, da ist Theologie und derart ihren Raubzug im Land der schönen Künste zu legitimieren. Wahrung der Autonomie der Kunst, Anerkennung der Differenzierung der Diskurse im Verlauf der europäischen Moderne sind deshalb notwendig die ersten Schritte auf dem Weg der theoretischen und praktischen Auseinandersetzung mit bildender Kunst. KunsterfahrungIm Vordergrund jeder kritischen Besinnung über den Umgang mit Kunstwerken in der Predigt muss die Frage stehen, ob denn im Rahmen einer Predigt überhaupt Kunst erfahren bzw. Kunsterfahrung vermittelt werden kann. Hier sind m.E. die Möglichkeiten eng begrenzt. Die Basis der ästhetischen Erfahrung bildet die reale sinnliche und nichtbegriffliche Begegnung mit dem Kunstwerk. Jedes Kunstwerk muss in seiner jeweiligen Einzigartigkeit, in seiner konkreten Gestalt und in seinem Zusammenhang wahrgenommen werden. Mit der Formel „ästhetische Erfahrung“ wird ein komplexer Prozess intensiver Denkarbeit zusammengefasst. Die zu leistende Reflexionsarbeit fordert die ganze Aufmerksamkeit und höchste Konzentration des Betrachters. Kunsterfahrung meint deshalb mehr als den bloß passiven Konsum eines Bildes, sie erschöpft sich nicht im Ausruf „Wie schön“. Der Idealfall wird daher die Kunst-Predigt vor konkreten Bildobjekten sein, möglichst so, dass die Gemeinde sich schon in den Tagen und Wochen vorher mit dem Kunstwerk auseinandersetzen konnte. In der Kunst-Predigt, egal ob sie nun das Kunstwerk als solches oder das Kunstwerk als Sediment von Wirklichkeit oder auch das Kunstwerk als Hilfe zur Ein-Sicht in einen biblischen Text aufgreift, würde so ein impliziter Dialog der unterschiedlichen Bild- und Kunsterfahrungen von Prediger und Predigthörern ermöglicht. Die Erkenntnis der Polyvalenz der Werke, die durch die je unterschiedliche Wahrnehmung und Rezeption möglich wird, könnte eine einseitige Fixierung des Bildes als Illustration eines Gedankens, einer Geschichte, eines Textes verhindern. Dagegen wird man die bloße Betrachtung einer durchschnittlichen Reproduktion, eines Dias, einer Overheadfolie allenfalls als residuale Kunsterfahrung charakterisieren können. Solange Kunstwerke in der Kirche nicht präsent sind, wird allenfalls über „Bilder“ gesprochen und nicht Kunst erfahren. Mit dem Verzicht auf konkrete Kunsterfahrung wächst aber auch die Gefahr der Reduktion ästhetischer Erfahrung auf das Wiedererkennen bereits bekannter Strukturen, der Verwechslung von Kunst mit bloßer Abbildlichkeit, der Nivellierung des Anstößigen jeder Kunstauseinandersetzung, letztlich der Regression auf bloße Illustration. So bleibt, wenn nicht der außergewöhnliche Fall der konkreten Präsentation aktueller Kunst gegeben ist, als Regelfall nur die Vermittlung der Kunsterfahrung des Predigers übrig. Aber auch sie will kritisch befragt sein. Kunsterfahrung heißt ja nicht, dass der Prediger Auskunft über seine Erfahrungen mit einem mehr oder minder zufällig auf seinen Schreibtisch geratenen Bild gibt. Vielmehr muss natürlich vorausgesetzt werden, dass über das konkrete kulturelle Phänomen hinaus das jeweilige kulturelle Umfeld wahrgenommen wird. Davon kann aber nicht ausgegangen werden. Wahrscheinlicher ist, dass sich die in der Predigt vermittelte Kunsterfahrung selbst nur auf die „Erfahrung“ einer Reproduktion stützt. Diese qualitative Schranke wird in den vorliegenden Arbeiten zur visuellen Homiletik noch zu wenig bedacht. Gegenüber den anderen Künsten - Musik, Literatur - ist es bei der bildenden Kunst am aufwendigsten, zu wirklicher Kunsterfahrung zu gelangen. Aber selbst wenn das geschieht, so unterliegt auch die Vermittlung der Kunsterfahrung bestimmten qualitativen Anforderungen. So ist zu beobachten, dass manche Prediger sehr wohl die zeitgenössische Kultur aufmerksam verfolgen, Museen, Ausstellungen und Galerien besuchen und selbst im Besitz zeitgenössischer Kunstwerke sind. Sobald sie aber die Kanzel betreten, gerinnt ihre ästhetische Erfahrung in der Predigt zu ikonographischen Deutungen, zur symbolorientierten Fixierung des Einzelwerks, zur Suche nach identifizierbaren, benennbaren Inhalten. Da muss auch das zeitgenössische Kunstwerk zur Illustration von Erkenntnissen herhalten, die auf ganz anderem Wege gewonnen wurden. Ich will die Anforderungen, die an den Umgang mit Kunstwerken in der Predigt gestellt werden müssen, keinesfalls so zuspitzen, dass der Einsatz von Kunstwerken im Gottesdienst grundsätzlich fraglich wird, aber es sollte zumindest deutlich werden, dass der Anspruch, kunstvoll zu predigen, und d.h. ja auch, neben dem biblischen Text dem jeweiligen Werk gerecht zu werden, besondere Anforderungen an den Prediger stellt. Seine Aufgabe ist es, in der Predigt nicht nur den biblischen Text zur Sprache, sondern auch das Kunstwerk zu sich kommen zu lassen. PredigtNicht nur das Kunstwerk und die Kunsterfahrung muss im Kontext der Kunst-Predigt bedacht werden, auch seitens der Predigttheorie ist die Kunst-Predigt frag-würdig. Mit Karl Barth lässt sich die essentielle Aufgabe und Funktion der Predigt dahingehend zusammenfassen,
Dabei ist die Predigt zugleich aber auch
Nun ist bei aller Vielfalt, die die Redegattung „Predigt“ auszeichnet, keineswegs klar, ob denn die Kunst-Predigt legitimer Weise dazugerechnet werden darf. In Frage steht, wo die Sprache der Bilder in der Kirche des Wortes verortet werden kann. Dabei ist der Bereich dessen, was „Theologie des Wortes“ meint und wo sie mit den Bildern kollidiert, durchaus strittig.
Die theologischen Möglichkeit der Kunst-Predigt kann also nicht grundsätzlich in Frage gestellt werden, aber ihre nähere Bestimmung hängt davon ab, ob es der entsprechenden Predigttheorie bzw. dem Prediger gelingt, entweder die metaphysischen Qualitäten von Kunst einsichtig werden zu lassen, oder gegen alle (post)-strukturalistischen und dekonstruktionistischen Argumente die wirklichkeitserschließende Kraft der Kunst im Sinne von Paul Klees Diktum „Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar“[10] für die Textmeditation, die Predigt und die Predigthörer fruchtbar zu machen. PredigthörerDie Frage nach dem Predigthörer, der wir uns nun zuwenden, erweist sich, unabhängig davon, wie man theologisch-homiletisch den Stellenwert dieser Frage einschätzt, im besonderen Fall der Kunst-Predigt als ein kaum zu bewältigendes Problem. Wer könnte Adressat einer Kunst-Predigt sein? Zunächst einmal selbstverständlich jeder, der auch Adressat einer „normalen“ Predigt ist. Ich denke, niemand wird für eine segmentäre Homiletik plädieren wollen, also für die Kunst-Predigt als Predigtkunst für die Gebildeten oder die Bilderpredigt als „litterae laicorum“ für die Ungebildeten. Eine andere Frage ist, wen die Kunst-Predigt tatsächlich anspricht. Hier ergeben sich eine Fülle von Fragezeichen, die das ganze Unternehmen Kunst-Predigt fragwürdig erscheinen lassen.[11] Dabei muss vor allem an die Verunsicherung gedacht werden, die die Begegnung mit Kunst bei vielen Zuhörern auslöst. Pfarrer gehören zur gebildeten Schicht der Bevölkerung und sind damit, wie Pierre Bourdieu treffend bemerkt, „Eingeborene der höheren Bildungssphäre“.[12] Deshalb fällt ihnen die Vorstellung schwer, dass es Hörer gibt, die nicht einmal über die elementarsten Codes zur Entschlüsselung von Kunstwerken verfügen, denen diese auch kaum im Rahmen einer Predigt nahegebracht werden können und die mit Verunsicherung auf Werke der bildenden Kunst reagieren. Der Einsatz von Kunstwerken im Gottesdienst hat den unerwünschten Effekt, dass die in der Präsentation etablierter oder sich etablierender Kultur liegende distinktive Kraft auch in der Verkündigung wirksam wird. Der Prediger, der das nicht bedenkt, handelt an seinen Hörern vorbei[13], er wird stattdessen zur bürgerlichen Selbstvergewisserung der Kirchen beitragen. Noch deutlicher zugespitzt: der Einsatz von Kunstwerken in der Predigt kann den Klassencharakter der Kirche noch verstärken.[14] Ich kann in dieser Frage keine Lösung anbieten, ich weiß keinen anderen Weg, als die Aporie aufzuweisen, die sich beim Einsatz von Kunstwerken in der Predigt in der Differenz zwischen dem erwünschten und dem realen Adressatenkreis auftut. Die Schere zwischen kulturell Privilegierten und kulturell Ausgeschlossenen, zwischen denen, die über die Codes zur Entschlüsselung von Werken der etablierten Kultur verfügen, und denen, die passiv-hilflos gezwungen sind, dies als Kultur zu akzeptieren, hat sich in den letzten Jahren weiter vergrößert. PredigerBeziehen wir den Prediger in unsere Vorüberlegungen zum Beziehungsgeflecht, in dem die Predigt spielt, mit ein, so müssen wir fragen, mit welchem Interesse der Prediger sich der Kunst-Predigt nähert, warum er die an sich schon schwierige Aufgabe der Vermittlung zwischen Text, Thema, Situation, Predigthörer und Prediger durch den Einbezug von Kunstwerken erweitern möchte. Dies scheint mir eine ernste Frage zu sein, ob das Interesse am Kunstwerk in der Predigt etwa nur der vielfach geäußerten Predigtmüdigkeit oder vielleicht auch Wortmüdigkeit entspringt, ob hier nur an einer Strömung des Zeitgeistes partizipiert werden soll, oder ob sich substantielle Gründe benennen lassen, Kunstwerke in der Predigt einzusetzen. Ist die Kunst eher als exotischer Tupfer gedacht oder als didaktisches Mittel zur Verfremdung des Predigttextes oder geschieht mit ihr ein Ausbruch aus dem Einerlei der sonntäglichen Predigtpraxis? Vielleicht ist die Zuwendung zur Kunst aber auch nur ein weiterer Schritt zur totalen Unterhaltung oder ein verspäteter Versuch, am Erfolg einer etablierten Konkurrenzreligion teilzuhaben? Johannes Calvin hat in der „Institutio Christianae Religionis“ vermutet:
Ist diese Vermutung Calvins heute noch aktuell? Oder ist angesichts der Perfektionierung der Predigt und der zunehmenden Sprachlosigkeit der Gemeinde der Einsatz der Kunst ein Versuch, die Predigt in Richtung Dialogizität aufzubrechen? Können wir von der Kunst lernen, was es heißt, den Rezipienten anzusprechen, ihn zur Realisation des verhandelten Gegenstandes zu bewegen? Ist das Kunstwerk ein Medium, in dem das „Ich“ des Predigers und das „Ich“ des Predigthörers zwanglos miteinander kommunizieren können? Auf diese Fragen kann es kein pauschales „Ja“ oder „Nein“ geben, es hängt jeweils vom konkreten Umgang mit der Kunst ab. Der Prediger, der darüber nachsinnt, wie denn beides, Predigt und ästhetische Erfahrung, zu verbinden wäre, vielleicht auch, weil ihm die konkrete Denk-Arbeit an einem ästhetischen Objekt oftmals mehr bringt, als die Wahr-Nehmung der sonntäglichen Predigt, ist darauf verwiesen, eine Annäherungsform zu entwickeln, die ästhetische Erfahrung in der Verkündigung ermöglicht. Gerade das scheint aber das Problem zu sein. Zwar spräche viel dafür, wenn etwas von der einladenden Faszination des ästhetischen Objekts auf die Predigt überstrahlen würde, aber ist das möglich? Wie kann Dialogizität in der Kunst-Predigt eingelöst werden, außer im obsoleten Hinweis auf dialogische Predigtvorbereitung und gemeinsames Predigtnachgespräch oder im rezeptionsästhetischen Hinweis auf die je unterschiedliche Konkretion des Artefakts durch die Betrachter? Wie könnte Kunst als eine „in die intersubjektiven Beziehungen der Menschen eingreifende ‚Form der Mitteilung’“[16] in der Predigt produktiv werden? Wie ließe sich die Verbindung von biblischen Text, theologischem Thema und ästhetischer Realisation eines Kunstwerks herstellen, ohne dass beide unverbunden nebeneinander stehen oder das eine bloß ikonisch auf das andere verweist? Kunstwerke als ...... Schule der Wahrnehmung In ihrer allgemeinsten Form könnte die Auseinandersetzung mit der Kunst eine Schule der Wahrnehmung sein, die Kultur unserer aisthesiologischen Fähigkeiten. Die aisthetisch am Kunstwerk geschulte Wahrnehmungsfähigkeit könnte dann in einem Schritt sekundärer Bezüglichkeit auf andere Bereiche der anschaulichen oder erlebten Welt übertragen werden. Die Schulung der Wahrnehmung durch Kunst kann auf vielerlei Art und Weise geschehen: Etwa dadurch, dass Kunstwerke scheinbar Nichtwirkliches zu Wirklichem verwandeln, dass sie also Vorstellungen, Phantasien, Ideen, Träume und Erinnerungen aus der ungreifbaren Schattenwelt in leibhafte, sinnliche Form überführen, ganz im Sinne der bereits erwähnten Äußerung Paul Klees:
Insbesondere am Surrealismus oder am magischen und phantastischen Realismus, also z.B. bei Arbeiten von Paul Delvaux, Salvador Dali oder Rene Magritte wird diese ästhetische Leistung auch populär augenfällig. Veränderung der Wahrnehmung kann aber auch dadurch geschehen, dass Gegenstände aus ihrer vertrauten Alltagswirklichkeit herausgegriffen werden und als ästhetische vorgestellt und begriffen werden und dadurch zugleich den Normalvollzug von Wahrnehmung irritieren und verändern. Zu nennen wären hier etwa die „Ready-mades“ von Marcel Duchamp, die Tische von Daniel Spoerri, die Zusammenstellungen von Jean Tinguely, die Plakatabrisse von Mimmo Rotella oder die Assamblagen oder „Accumulations“ von Arman. Wer jemals vor einem Plakatabriss von Rotella gestanden hat, wird nicht mehr unbefangen durch deutsche Groß- und Kleinstädte gehen können, er wird in vielen verwitterten Plakatwänden eine andere Wirklichkeit erkennen können. Gleiches ließe sich auch für Arbeiten von Antoni Tapies oder Joseph Beuys sagen. Eine weitere, vielleicht die wichtigste Veränderung unserer Wahrnehmung durch die Kunst besteht darin, dass Kunst uns den Unterschied von Nichts und Etwas zu sehen lehrt also etwa die konkrete Zuordnung von Licht und Schatten, die abgrenzende, richtungssetzende und gestaltbildende Kraft der Linie, die Beziehungen und Wertigkeiten der Farben untereinander und ihre Stellung im Gesamtaufbau eines Werkes, die Zuordnung von Teil und Ganzem, die Wechselbeziehung jedes Details zur Totalität des Werks.[17] Gerade weil die Kunst anders sehen lehrt, ist sie für jedes Gemeindeglied eine unentbehrliche Herausforderung. Hier gilt Albrecht Grözingers Satz
über den engen Kreis der Theologen hinaus. Für diese Erweiterung des Gesichtsfeldes durch die Kunst, die nicht folgenlos für unsere sonstige Weltwahrnehmung ist, muss in den Kirchen, in den Gemeinden noch viel mehr getan werden. Das Kunstinteresse und damit ja auch die Bereitschaft, eine bestimmte Form der Wahrnehmung zu lernen, ist innerhalb der beiden großen Kirchen unterdurchschnittlich. Damit soll nicht einer bestimmten Form „ägyptischer Bilderfreundlichkeit“ innerhalb der Kirchen das Wort geredet werden, vielmehr gilt unser Interesse der am profanen Kunstwerk sich schulenden Reflexion, mit und in welchen Formen wir leben, welche Ästhetik wir bewusst oder unbewusst immer schon pflegen, wie konkret oder oberflächlich unser Sehen ist, m.a.W., ob wir auch verstehen, was wir sehen. Mit diesen Überlegungen befinden wir uns noch weit vor jeder Predigt. Der Verweis an die Kunst geht zunächst also an die Adresse jedes Menschen, der mit dieser Welt zu tun hat. Die Frage ist nun darüber hinaus, wo sich die Schule der Wahrnehmung im Beziehungsgeflecht der Predigt verorten könnte. Heinz-Ulrich Schmidt verweist darauf, „dass der Ertrag ästhetischer Erfahrung - wie die Hefe den Teig zum Gehen bringt - die Wahrnehmungsfähigkeit auf den Text des Evangeliums und seine Botschaft hin ... in Bewegung versetzt.“ Ästhetisch orientierte Rezeption weite den Blick daraufhin, dass biblische Aussagen nicht alles in Sprache übersetzen können, was sie mitteilen.[19] Daraus könnte m.E. folgen, dass die Auseinandersetzung mit Kunstwerken einen wichtigen Platz in der Predigtmeditation des Predigers haben muss. Genau an dieser Stelle wird sie von Rudolf Bohren in seiner Predigtlehre sehr eindrücklich verortet, denn: „Es könnte immerhin sein, dass der Heilige Geist die Kunst als Vehikel gebraucht, um den Prediger zu begaben.“[20] In der Predigt selbst scheint mir eine Wahrnehmungsschulung durch bildende Kunst hingegen kaum möglich zu sein. Einmal, weil der Prozess der Wahrnehmung von Kunstwerken ─ sofern solche überhaupt zugänglich sind - wegen seiner Komplexität sehr viel Zeit benötigt, die im Rahmen einer Predigt kaum zur Verfügung steht. Zum anderen, weil das am Kunstwerk Erfahrene nicht umstandslos auf Predigttext und Predigtthema übertragen werden kann, sondern komplexer Zwischenschritte bedarf, will man nicht doch wieder das Kunstwerk als Mittel zur Veranschaulichung der Predigt missbrauchen. Zwar kann eine in der Alltagswelt durchgeführte Wahrnehmungsschärfung durch Kunst vom Prediger in der Predigt durchaus in Anspruch genommen werden, eine Wahrnehmungsschulung durch Kunstwerke in der Predigt halte ich dagegen für nicht durchführbar und illusorisch. Exkurs: Funktionalisierung statt Instrumentalisierung? Heinz-Ulrich Schmidt hat vorgeschlagen, für die Kunst-Predigt auf die Differenzierung unterschiedlicher Funktionen von Kunst zurückzugreifen. Er unterscheidet daher zwischen Instrumentalisierung und der Wahrnehmung der jeweiligen Funktion von Kunst. Instrumentalisierung charakterisiert die illegitime, weil die Autonomie verletzende Umgangsform, Funktionsdifferenzierung dagegen die legitime, weil die Autonomie wahrende Rezeptionsweise. Der Prediger könnte so legitim zurückgreifen auf die religiöse, soziale oder kommunikative Funktion von Kunst. Ich glaube, dass dieser Ansatzpunkt sorgfältiger Prüfung bedarf, weil er die Differenzen und Schwierigkeiten (mit) der Theorie der Kunst-Predigt aufhellen könnte. Wenn dieser Ansatz sich als stringent erweisen würde, wenn sich also beim Kunstwerk andere Funktionen als die ästhetische aufweisen ließen, und wenn sich darüber hinaus zeigen ließe, dass zu diesen Funktionen legitimer Weise auch aktuell die religiöse zu zählen ist und dass es möglich ist, auf die religiöse Funktion zu rekurrieren, ohne die ästhetische zu verletzen, dann wäre für die Sache viel gewonnen. Den Funktionsbegriff finden wir bereits früh im ästhetischen Diskurs dieses Jahrhunderts, ausgearbeitet hat ihn in den 30’ger Jahren der tschechische Strukturalist Jan Mukarovsky im Rahmen seiner Ausführungen zur Semiologie der Kunst.[21] Jan Mukarowsky hatte die Frage untersucht, wie sich ein Kunstwerk durch die Zeiten als ästhetisches Objekt konkretisiert.
Für das hoch komplexe Kunstwerk gilt, dass die außerästhetischen Bedeutungen an Relevanz verlieren und die ästhetische Funktion dominant wird, ohne dass jedoch die Wirklichkeit verdrängt würde. Auch wenn sich das autonome Zeichen nicht auf eine bestimmte Realität bezieht, ist es doch in den Gesamtkontext der Gesellschaft, also Philosophie, Politik, Religion, Wirtschaft usw. einbezogen, freilich nicht so, dass es umstandslos als unmittelbares Zeugnis oder als passiver Reflex verstanden werden könnte. Der direkte Wirklichkeitsbezug wird durch die autonome Funktion gestört. In der Entwicklung der Künste zeigt sich eine dialektische Antinomie zwischen der Funktion des autonomen Zeichens und der Funktion des kommunikativen Zeichens, d.h.,
Die Realisation des Artefakts als ästhetisches Objekt ist zudem gesamtgesellschaftlich vermittelt. Wer also von religiösen Funktionen des Kunstwerks im Sinne von Mukarovsky sprechen will, wird beachten müssen, dass erstens die ästhetische Funktion dazu als antinomisch, negativ begriffen wird und zweitens die Möglichkeit einer religiösen Funktion nicht dem subjektiven Willen einzelner Rezipienten unterliegt. Der Funkkolleg Kunst hat Mukarovskys Ansatz aufgenommen und versucht, die einander ablösenden Funktionen in der gesamtgesellschaftlichen Rezeption der Kunst in ihrer jeweiligen Dominanz nachzuzeichnen.[24] Vorgestellt wird so die Abfolge der religiösen, ästhetischen, politischen, abbildenden Funktionen von Kunst. Nicht zufällig wird dabei die religiöse Funktion „primär dem Mittelalter“[25] zugeordnet. Der „Funktionswandel“, dem die Kunst seit dem 15. Jahrhundert unterliegt, hat schließlich zur Ablösung der religiösen durch die ästhetische Funktion geführt und zwar insbesondere durch Verlagerung der Thematik und durch Aufnahme der religiösen Werke in das durch die ästhetische Funktion dominierte Museum. Es fällt deshalb schwer, in der Gegenwart von einer religiösen Funktion der Kunst zu sprechen, es sei denn, man wolle metaphorisch die ästhetische als religiöse Funktion ansprechen. ... Erfahrung von Wirklichkeit Im Beziehungsgeflecht der Predigt kann das Kunstwerk vom Prediger auch der Wirklichkeit zugeordnet werden. Es gälte dann, wie Jürgen Habermas es formuliert, die emotiven und kognitiven Potentiale, die sich in der Kunst sammeln, aus ihrer ästhetischen Bindung zu sprengen und für die vernünftige Gestaltung der Lebensverhältnisse zu nutzen.[26] Ähnlich hatten wir ja bereits bei Jan Mukarovsky die Unterscheidung zwischen autonomen, ästhetischen Zeichen und kommunikativen, auf die Wirklichkeit verweisenden Zeichen vorgefunden. Mukarovsky wie Habermas betonen aber, dass diese wirklichkeitserschließende Kraft der Kunst nicht ihr Spezifikum ist, sondern dass die kommunikative Funktion vom Kunstwerk quasi „mitgeschleppt“ wird. Gerade in dieser Tatsache liegt aber auch eine Chance für den Einsatz von Kunstwerken in der Predigt. Wahrgenommen würde so zwar nicht das Kunsthafte des Kunstwerks, aber doch sein spezifischer Zeitkern. Elias Canetti hat diese Erfahrung so beschrieben:
Diese Fähigkeit der Kunst wird in den Kirchen ansatzweise durchaus gesehen und gewürdigt. So heißt es in einer Stellungnahme zur autonomen Kunst:
Es bleibt die Frage, wie der Prediger mit der kommunikativen Funktion der Kunst umgeht, ob er sich wirklich die Mühe macht, in der Auseinandersetzung mit dem Kunstwerk sich auf neue Erfahrungen von Wirklichkeit einzulassen und diese an seine Hörer vermittelt, oder ob er als neue Wirklichkeit der Kunst nur seine je eigene erkennt? In der Schilderung, die Elias Canetti von seinen Bilderfahrungen gibt, wird deutlich, was bei ihm Wirklichkeitserschließung durch Kunst meint. Hier ist nämlich nicht daran gedacht, dass Kunstwerke allgemein Wirklichkeit erschließen, vielmehr gestaltet sich das Verhältnis wesentlich subjektiver und wesentlich konkreter. So stehen die Kunstwerke bei Canetti unter dem hohen Anspruch, eine bisher verborgen gebliebene Wirklichkeit erst aufzuschlüsseln, sie ins Bewusstsein zu rufen und damit Erkenntnis werden zu lassen. Von diesen Bildern braucht jeder Mensch mehrere, aber nicht viele, denn in dieser Frage wäre Zerstreuung abträglich. Von diesen Bildern braucht jeder Mensch mehrere, aber nicht nur eins, da ein einziges dem Betrachter Gewalt antun würde. Zugleich werden diese Bilder dadurch charakterisiert, dass sie den Betrachter unvorbereitet treffen, dass sie ihn schockieren, ja, dass sie vorher nur Geahntes wirklich machen. Es ist deutlich, dass Canettis Schilderung auf eine je subjektive Beziehung des Betrachters zu bestimmten Werken abzielt, die kaum provozierbar, geschweige denn produzierbar ist. Aber die Erfahrungen, die der einzelne mit einem bestimmten Kunstwerk macht, sind vermittelbar, der einzelne kann sie bezeugen. Wenn man in dem sparsamen und doch gewaltigen Rahmen verbleibt, den Canetti der Wirklichkeitserschließung durch Kunst gibt, dann kann Kunst tatsächlich zur Genese von Wirklichkeit in der Predigt beitragen. Weder versickert dann das Bild unter den Bildern des Tages, noch wird es zum ästhetischen Stimulus der Flucht aus der Alltagswelt. Das heißt aber zugleich auch, dass unter diesem Aspekt standardisierte Angebote von Bildern für die Predigt fraglich werden, sie würden sich einreihen in das überschäumende Angebot zur Zerstreuung. Stattdessen wären hier vielmehr Predigtdokumentationen angebracht, in denen der einzelne Prediger Zeugnis von seiner Erfahrung mit einem oder einigen Werken gibt, die ihm Wirklichkeit erschlossen haben. ... Einsicht in den Predigttext bzw. das Predigtthema Kunstwerke können darüber hinaus im Beziehungsgeflecht der Predigt auch dem Predigttext bzw. dem Predigtthema zugeordnet werden. Kunst würde so eingesetzt, eine am Kunstwerk plausibel werdende Einsicht auf die biblischen Aussagen zu übertragen Kunstwerke könnten so in der Predigt Gestalt gewinnen als „Interpretament der Überlieferung“[29]. Nun kann „Interpretament“ viel bedeuten, in der Regel wird es als Verständigungsmittel bzw. erklärender Textzusatz bezeichnet. Das kann eine eigenständige und durchaus auch abweichende Texterklärung sein, eine Ausdeutung eines speziellen Aspektes des Textes oder auch die Erkenntnis, dass nicht alles sich begrifflich fassen, dass nicht alles sich versprachlichen lässt. Traditionell wurde an dieser Stelle der Kunst die Aufgabe der Veranschaulichung biblischer Texte und Themen zugewiesen. Auch die eigenständige und eigenwillige Illustration biblischer Texte ist ja ein „Interpretament der Überlieferung“, aus der Geschichte der Bibelillustration ließe sich eine eigenständige, manchmal orthodoxe, manchmal häretische bildexegetische Auslegungsgeschichte rekonstruieren, die der theologischen meistens parallel, manchmal aber auch voraus war. Nun kann seit der neuzeitlichen Diskursdifferenzierung das Modell der Illustration als Beitrag der Künste zur Interpretation der biblischen Überlieferung nicht mehr als typisch für die Kunst angesehen werden: im 20. Jahrhundert macht der Anteil religiöser Themen nicht einmal 4% der gesamten Kunst aus. Auch dort, wo autonome Kunst scheinbar biblische Themen aufgreift, werden diese wie säkulare Bildsujets behandelt und bleiben ästhetisch wie theologisch folgenlos. Der Versuch, Kunstwerke als „Interpretament der Überlieferung“ zu verstehen, muss also beim säkularen, nicht-religiösen Werk einsetzen und von dort aus seine Produktivität entfalten. Nun könnten Kunstwerke unter einem ganz anderen Aspekt ein „Interpretament der Überlieferung“ sein, indem sie nämlich für das Nichtdarstellbare im biblischen Text zeugen. Kunstwerke vermitteln dann die Erkenntnis, dass „zwischen sprachlichem Erfassungsvermögen und bildlichen Wahrnehmungsformen eine Differenz besteht“, die ästhetisch orientierte Rezeption weitet den Blick daraufhin, dass nicht alles, was biblische Texte mitteilen, sich auch sagen, d.h. sprachlich vermitteln lässt.[30] Unklar bleibt, wie das in der Predigt zur Geltung gebracht werden kann - außer im rein thetischen Hinweis auf ästhetische Erfahrung. Wenn etwas sprachlich nicht mitteilbar ist, kann der Umweg über die Kunst zwar Einsicht, nicht aber Sprache vermitteln. Den Hinweis auf das Nicht-Darstellbare in der Kunst finden wir aktuell in der Diskussion der Postmoderne, insbesondere da, wo sie auf das Erhabene anspielt. Jean-Francois Lyotard hat als klassische Form der Thematisierung des Erhabenen in der avantgardistischen Malerei den Versuch bezeichnet,
Bereits Immanuel Kant hatte im Blick auf das Erhabene auf das 2. Gebot verwiesen und sie die erhabenste Stelle der Bibel genannt, weil sie die Darstellung des Absoluten verbietet. Kunst, die dem folgt, würde so zwar etwas darstellen, aber nur in negativer Weise, sie würde sichtbar machen, indem sie zu sehen unterbindet oder zeigt, dass das Geschaute das Gedachte nicht abbilden kann. In diesem Sinn haben die ästhetischen Avantgarden zu Beginn dieses Jahrhunderts „die Kunstmittel der Darstellung auf(gestöbert), die veranlassen, dass das Denken der Herrschaft des Blicks unterliegt und vom Darstellbaren abgelenkt wird.“[32]
Ich glaube aber, dass diese Form der Anspielung auf das Nicht-Darstellbare in keiner Weise für die Predigt nutzbar zu machen ist. Denn dieses Erhabene ist eines, „das sich dem Trost der guten Formen verweigert, dem Konsensus eines Geschmacks, der ermöglicht, die Sehnsucht nach dem Unmöglichen gemeinsam zu empfinden und zu teilen“.[33] Jeder Versuch der Aneignung des Erhabenen in der Kunst wäre daher seinerseits Ausdruck der Herrschaft des Blicks, gegen die das Erhabene sich richtet. Daher sperrt sich das Erhabene der Ingebrauchnahme und erweist sich der konkrete Satz „dieses Bild ist erhaben“ als unmöglich. ... Gleichnisse des Reiches Gottes Schließlich könnte die Erfahrung, die wir gegenüber der Kunst machen, in die Verkündigung dergestalt eingebunden werden, dass wir in der Kunst oder in einzelnen Kunstwerken Hinweise auf das Reich Gottes entdecken oder auch in der Struktur ästhetischer Erfahrung ein Gleichnis[34] des Himmelreiches sehen und dies in der Predigt thematisieren. Man müsste dann einräumen, dass Kunstwerke wahre Worte „extra muros ecclesiae“ sein können, oder auch „dass alle ernstzunehmende Kunst ... ein opus metaphysicum ist“ (Georg Steiner), oder dass Kunst „sich zur Schöpfung gleichnisartig“ (Paul Klee) verhält. Tatsächlich lässt sich nicht bestreiten, dass theologisch der Kunst bzw. einzelnen Kunstwerken diese Zuschreibungen zukommen können.[35] So wäre auch auf Karl Barths Auffassung zu verweisen, dass Kunst sich als reines Spiel auf Erlösung bezieht, weil sie auf die grundsätzliche Überbietbarkeit alles Wirklichen hinweist.[36] Auch die Reflexion des Kunsthaften des Kunstwerks deckt gewisse Analogien zur religiösen Erfahrung auf, so dass die ästhetische Erfahrung als ein „Gleichnis des Himmelreichs“ wahrgenommen werden kann. Dass ästhetische Objekte zum Material bzw. Träger von Verkündigung werden können, zeigt ein Blick auf die neutestamentlichen Gleichnisse:
Auch die Gleichnisse Jesu erweisen sich im literaturwissenschaftlichen Sinn als „autonom“[38], seine Erzählungen nehmen die Aufmerksamkeit des Rezipienten vollständig in Anspruch, ohne dass der Zuhörer auf einen außerhalb der Erzählung selbst liegenden Referenzrahmen verwiesen werden müsste.[39] Primär verweist das Gleichnis wie jedes Kunstwerk als ästhetisches auf sich selbst und negiert jede außerhalb seiner selbst liegende Bedeutung. Erst im zweiten Schritt wird deutlich, dass in dieser Selbstreferenz auch eine andere Referenz zur Sprache kommen kann: Kunst konfrontiert den Rezipienten mit einer Möglichkeit, die die Wirklichkeit transzendiert. Was die Gleichnisse Jesu von anderen ästhetischen Objekten unterscheidet, ist die Art ihrer sekundären Referenz. Während die sekundäre Referenz säkularer Objekte als das Phantastische (das Mögliche im Sinne des „gesteigerten“ Wirklichen) oder das Utopische (das Mögliche als das noch nicht realisierte Wirkliche) bestimmt werden kann, qualifiziert die Referenz der Gleichnisse Jesu eine größere Bestimmtheit:
Daher entspricht der religiös-poetischen Form auch eine bestimmte Rezeptionsform: der Glaube. Es dürfte nun einsichtig sein, dass säkulare Kunstwerke nach ihrem Selbstverständnis davon „durch Welten getrennt sind“[41]. Dennoch wird der Prediger säkulare Kunstwerke dann und dort als „Gleichnisse des Reiches Gottes“ aufnehmen dürfen, „wo sie in einem selbstkritischen Prozess auf die besondere Geschichte Gottes mit den Menschen ... bezogen werden“ können[42], genauer: er wird sie dort ganz undogmatisch aufnehmen können, wo sie gerade in ihrem ästhetischen Charakter dazu beitragen, die „christliche Erkenntnis zu festigen, zu erweitern, zu präzisieren, dem christlichen Leben neuen Ernst und neue Heiterkeit, der Ausrichtung der christlichen Botschaft neue Freiheit und neue Konzentration zu verleihen“.[43] Aber er wird sie als säkulare Kunstwerke, als ästhetische Objekte aufnehmen müssen oder er wird sie verfehlen. Schlussfolgerungen: Homiletik unter dem BilderverbotDie vorstehenden Überlegungen zum Einsatz von Kunstwerken in der Predigt sind der Versuch, sich theologisch Rechenschaft zu geben, ob wir der Kunst gerecht werden können, wenn wir sie Rahmen einer Predigt einsetzen. Dabei hat sich m.E. gezeigt, dass die prinzipielle Möglichkeit von Kunst-Predigten theologisch durchaus gegeben ist, dass aber auf der Ebene der praktischen Durchführung eine Vielzahl von Schwierigkeiten und Problemen auftauchen. Das größte Problem sehe ich in der fehlenden Möglichkeit, Kunsterfahrung in der Predigt zu vermitteln. Die doch normalerweise auf weniger als 15 Minuten begrenzte Auseinandersetzung mit dem Kunstwerk, die Tatsache, dass sich die Wahrnehmung in der Regel auf Reproduktionen stützt, die Reduktion der Werke auf Bilder und damit auf ihren Inhalt ─ all dies verhindert ästhetische Erfahrung. Das berührt zugleich die Autonomie der Kunst. Gerade die vielfältigen Begrenzungen, die im Rahmen einer Predigt gegenüber Kunstwerken vorgenommen werden müssen, zeigen, dass es mit der Wahrung der Autonomie der Künste nicht so gut bestellt ist, wie uns die Autoren der vorliegenden Bildpredigtbände glauben machen wollen. Soll Autonomie mehr vorstellen als die notwendige Loslösung von der Religion, ist sie „ein Gewordenes, das ihren Begriff konstituiert“ (Th. W. Adorno), verlangt das vom Rezipienten, den Eigensinn von Kunst zu respektieren:
Ein weiteres dringendes Problem, das der sorgfältigen Beobachtung und der Klärung bedarf, ist das Gefühl der Verunsicherung, das der Einsatz gerade qualitätsvoller Kunstwerke bei einem größeren Teil der Predigthörer auslösen kann, also das, was Pierre Bourdieu als automatische Distinktion bezeichnet hat.[45] Das Dilemma dieses Vorgangs führen uns alle kultursoziologischen Untersuchungen vor Augen. Es besteht darin, dass einerseits die Kunstinteressierten der Kirche davonlaufen und andererseits die Nichtinteressierten der Begegnung mit Kunst zunehmend distanziert gegenüberstehen bzw. sie in die automatischen Verstehensvollzüge der Kultur- und Freizeitindustrie eingliedern. Angegangen werden kann dieses Problem nicht im Rahmen der Predigtarbeit, sondern nur in der Perspektive langfristiger und geduldiger Begegnung und Auseinandersetzung mit der Gegenwartskultur. Versteht man die Anfragen, die im Laufe der jüdisch-christlichen Geschichte an den religiös inspirierten Umgang mit Bildern gestellt wurden, als offenes Problempotential, das auch heute in den aktuellen theologischen Diskurs über Bilder eingebracht werden kann und muss, dann liegt die Perspektive des Gesprächs zwischen Kunst und Theologie in der Koinzidenz eines ihrer Momente: zwischen Bilderverbot und ästhetischem Schein. Das hat Theodor W. Adorno in seiner nachgelassenen ‚Ästhetischen Theorie’ präzise formuliert:
Sollen Kunstwerke in der Predigt präsent werden, so können sie es nur, indem dieses kritische Moment in ihnen vom Prediger aufgenommen und thematisiert wird. Legitime Unterbrechungen der Unendlichkeit ästhetischer Verstehensversuche kann es nur geben, wenn die Autonomie des Kunstwerks gewahrt und die religiöse Rezeption sich ihrer Partikularität bewusst bleibt.[47] So wäre etwa denkbar, dass erste vorsichtige Versuche zur Kunst-Predigt auf solche Werke zurückgreifen, die die ironische Montage, die verfremdende Collage, das ikonoklastische Zitat der Kunstgeschichte - und damit die Reflexion auf ihren ästhetischen Schein - explizit in sich aufgenommen haben.[48] Zu denken wäre etwa an Arbeiten Rob Scholtes oder Mark Tanseys, aber auch an die Auseinandersetzung Friedemann Hahns oder Günter Schareins mit dem Werk Mathias Grünewalds. Gerade bei letzteren fällt die figurativ-orientierte Vereinnahmung des Werkes schwer, dennoch setzen sie beim Betrachter etwas in Bewegung, verflüssigen sie Bilder, die sich in unseren Köpfen festgesetzt haben, indem sie uns verdeutlichen, wie stark unsere Wahrnehmung von religiösen Deutungsmustern befangen ist, und die uns so zum neuen Sehen anleiten. Ist und bleibt das Paradigma christlicher Kunsterfahrung der Bilderstreit[49], so schließt das die konkrete Auseinandersetzung mit der Gegenwartskunst nicht aus, sondern erzwingt sie geradezu.
Anmerkungen[1] D. Fr. Niebergall, Die gegenwärtigen kultischen Reformen, gemessen am Evangelium in: Kultus und Kunst. Beiträge zur Klärung des evangelischen Kultusproblems, hg. von Pfarrer Lic. Dr. Curt Horn, Berlin 1925, S. 23. [2] K. Barth, KD IV/3, S. 995f. [3] Ebenda, S. 996. [4] Etwa Markus Lüpertz vgl. H. Klotz, Die Neuen Wilden in Berlin, Stuttgart 1987, S. 31. [5] E. Herms, Die Sprache der Bilder und die Kirche des Wortes in: Die Kunst und die Kirchen. a.a.O., S. 242ff. [6] Ebenda, S. 256. [7] Ebenda, S. 257. [8] G. Steiner, Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt, München 1990, S. 179. [9] Vgl. die kritische Darstellung von R. Bubner, Über einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik jetzt in: ders., Ästhetische Erfahrung, Frankfurt 1989, S. 9-51. [10] P. Klee, Schöpferische Konfession in: Das bildnerische Denken. Form- und Gestaltungslehre, Bd. 1, hg. von J. Spiller, Basel/Stuttgart 1956, S. 76-80, hier S. 76. [11] Manche dieser Fragezeichen betreffen auch die "normale" Predigt, vgl. H. Albrecht, Arbeiter und Symbol. Soziale Homiletik im Zeitalter des Fernsehens, München 1982. [12] P. Bourdieu, Elemente zu einer soziologischen Theorie der Wahrnehmung in: ders., Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt 1970, S. 159-200, hier S. 163. [13] Es ist charakteristisch, dass diese Frage in den vorliegenden Bildpredigtbänden nicht erörtert wird, ja die Bildpredigt in völliger Verkehrung der kulturellen Realitäten mit Gedanken aus der "litterae laicorum"-Tradition gestützt wird. Hier scheint die kulturelle Brille, die die Prediger als Gebildete aufgesetzt haben, tatsächlich so nahe zu sein, dass sie gar nicht bemerkt wird, m.a.W. dass jene "die die Brillen der Bildung tragen ... gerade das nicht sehen, was ihnen zu sehen ermöglicht, und ebensowenig sehen, dass sie nicht sehen könnten, nähme man ihnen, was ihnen erst zu sehen erlaubt." P. Bourdieu, Elemente zu einer soziologischen Theorie der Kunstwahrnehmung, a.a.O., S. 164. [14] Vgl. Verf. Ars ante portas? Skeptische Erwägungen zur Kunstvermittlung in der Kirche, Kunst und Kirche 3/91. [15] J. Calvin, Unterricht in der christlichen Religion. Institutio Christianae Religionis, hg. von O. Weber, Neukirchen 5/1988. [16] J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt 1985, S. 59. [17] Vgl. zum Vorstehenden M.J. Kobbert, Kunstpsychologie. Kunstwerk, Künstler und Betrachter, Darmstadt 1986, S. 129ff. [18] A. Grözinger, Theologie und Kultur, a.a.O., S. 209. [19] H.-U. Schmidt, Bildpredigt. Anmerkungen zu einer vernachlässigten Predigtkategorie in: Schmidt/Schwebel, Mit Bildern predigen. Beispiele und Erläuterungen, Gütersloh 1989, S. 13. [20] R. Bohren, Predigtlehre, München 5/1986, S. 368ff.: Moderne Kunst und Meditation. [21] J. Mukarovsky, Kapitel aus der Ästhetik, Frankfurt 4/1982 ders., Kapitel aus der Poetik, Frankfurt 1967. [22] H. Link, Rezeptionsforschung, Stuttgart 2/1980, S. 135ff. [23] Mukarovsky, Kapitel aus der Ästhetik, a.a.O., S. 137. [24] S. W. Busch, Kunst und Funktion - Zur Einführung einer Fragestellung in: Funkkolleg Kunst. Eine Geschichte der Kunst im Wandel ihrer Funktionen, 2 Bde., München 1987, Bd. 1, S. 5-26. [25] Vorbemerkung zum Funkkolleg Kunst, a.a.O., S. 2. [26] J. Habermas, Die Moderne - ein unvollendetes Projekt in: W. Welsch, Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne Diskussion, Weinheim 1988, S. 184. [27] E. Canetti, Die Fackel im Ohr, München 2/1980, S. 130. [28] G. Sickmüller, Stellungnahme zu H. Schwebels "Öflinger Thesen zur Verteidigung der autonomen Kunst in der Kirche" in: Unbequeme Kunst - Unbequeme Autonomie, hg. von Paul Gräb, Wehr Öflingen 1980. [29] H.U. Schmidt, Bildpredigt, a.a.O., S. 13. [30] So H.U. Schmidt, ebenda. [31] J.-Fr. Lyotard, Beantwortung der Frage: Was ist postmodern? in: W. Welsch, Wege aus der Moderne, a.a.O., S. 193-203 S. 203. [32] Ebenda. Lyotard unterscheidet zwischen postmoderner und moderner Darstellung des Erhabenen, zwischen der modernen melancholia etwa der deutschen Expressionisten, deren Kunst den Verlust des Nicht-Darstellbaren schmerzhaft erfahren lasse, und der postmodernen novatio etwa von Picasso oder Duchamp, die im gewagten Experiment zeigen, dass es immer wieder Bereiche gibt, in der die Vernunft jegliche Darstellung übersteigt und Einbildungskraft und Sinnlichkeit dem Begriff nicht zu entsprechen vermögen. [33] Ebenda. [34] Vgl. H. Schwebel, Wer Augen hat, der höre. Thesen zur Bilderpredigt in: Schmidt/Schwebel, Mit Bildern predigen, a.a.O., S. 94. [35] K. Barth, KD IV/3, 130f.: Gerade (die Gemeindemitglieder) können, dürfen und müssen darauf gefaßt sein, 'Gleichnissen des Himmelreiches' in jenem Vollsinn des biblischen Begriffs auch dort zu begegnen: nicht nur im biblischen Zeugnis also und nicht nur in den Veranstaltungen, Werken und Worten der christlichen Kirche, sondern auch in der Profanität, d.h. dann aber in wunderbarer Unterbrechung der Profanität des Weltlebens". Vgl. A. Grözinger, Christologie und Ästhetik. Die Lichterlehre Karl Barths in ihrer Bedeutsamkeit für die Praktische Theologie in: Seim/Steiger (Hg.), Lobet Gott. Beiträge zur theologischen Ästhetik. FS Rudolf Bohren, München 1990, S. 40-46. [36] K. Barth, Gesamtausgabe, 2. Akademische Werke: 1928, Ethik Band II, Zürich 1978, S. 439 und 443. [37] W. Harnisch, Die Gleichniserzählungen Jesu. Eine hermeneutische Einführung, Göttingen 2/1990, S. 12. [38] Vgl. D.O. Via, Die Gleichnisse Jesu. Ihre literarische und existentiale Dimension, 1970, S. 78. [39] W. Harnisch, Die Gleichniserzählungen Jesu, a.a.O., S. 64. [40] Ebenda, S. 162f. und S. 164. [41] Ebenda, S. 165. [42] A. Grözinger, Christologie und Ästhetik, a.a.O., S. 43. [43] K. Barth, KD IV,3, S. 151. Barth verweist darauf, dass die Wahrnehmung der wahren Worte "extra muros ecclesiae", unter die auch ästhetische Objekte gezählt werden könnten, in der Regel nur die Sache Weniger sein könne und deshalb nicht kanonisiert und fixiert werden und damit dem Rest der Gemeinde aufgezwungen werden dürfe. A. Grözinger weist darüber hinaus zu Recht darauf hin, dass Karl Barth es immer unterlassen hat, mögliche Worte extra muros ecclesiae konkret als solche zu benennen, vgl. A. Grözinger, Christologie und Ästhetik, a.a.O., S. 46. [44] Th. Lehnerer, Kunst - Selbstzweck und Totalität. Über die Autonomie der Kunst gegenüber der Religion, Kunst und Kirche 1/87, S. 40. [45] P. Bourdieu, Satz und Gegensatz. Über die Verantwortung des Intellektuellen, Berlin 1989, S. 18. [46] Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt 5/1981, S. 106. [47] Fr. Hiddemann, Das Geheimnis Gottes und die Rätsel der Kunst. Bemerkungen zum Verhältnis von Theologie und Ästhetik, Ms. Bochum 1991 vgl. Verf., Der allgemeine und der besondere Ikonoklasmus. Bilderstreit als Paradigma christlicher Kunsterfahrung in: ders., H. Schwebel (Hg.), Kirche und moderne Kunst. Eine aktuelle Dokumentation, Frankfurt 1988, S. 146-168. [48] H. Luther hat mich auf diese Möglichkeit der nicht heteronomen Thematisierung von Kunst in der Predigt hingewiesen. [49] Verf., Der allgemeine und der besondere Ikonoklasmus, a.a.O. |
Artikelnachweis: https://www.theomag.de/104/am569.htm |