Gott erleben im Alltag und in der Liebe

Zu A.L.Kennedys Gleissendes Glück

Hans Jürgen Benedict

Im Dezember 2016 hat die britische Schriftstellerin A. L. Kennedy den Heine-Preis der Stadt Düsseldorf erhalten.

Sie bedankte sich für diese Ehre mit einer fulminanten politischen Rede, in der sie die immer stärker werdende soziale Ungerechtigkeit in Großbritannien anklagte. Die Behindertenpolitik des Königreichs erinnere inzwischen mit ihrer Ausgrenzungsstrategie an Euthanasieprogramme.

Gerade läuft in den Kinos der Film Gleissendes Glück (mit Martina Gedeck und Ulrich Tukur in den Hauptrollen), der auf dem gleichnamigen Roman Kennedys beruht.

Ein Roman, der ganz unpolitisch ist, dafür aber mit einer in postsäkularer Zeit erstaunlichen theologischen Implikation, die in dem Roman viel stärker zum Ausdruck kommt als in dem Film (In Schottland gehört seine Lektüre zur theologischen Ausbildung.)

Worum geht es in dem Roman? Helen Brindle ist eine unglücklich verheiratete Frau, die mit ihrem Mann in Glasgow lebt. Sie haben keine Kinder, Mrs. Brindle geht auch keinem Beruf nach. Sie versorgt gründlich den Haushalt und legt einen gewissen Ehrgeiz darein, gut zu kochen. Von ihrem unzufriedenen und jähzornigen Mann wird sie gelegentlich geschlagen und misshandelt. Zu ihren Ablenkungen gehören das Fernsehen und Radiohören. In einer Fernsehsendung sieht sie, wie ein hochgewachsener Mann mit vollem Haar über Selbstbefriedigung spricht und was dies für unser Liebesverhalten bedeutet. Wen dürfen wir uns beim Onanieren vorstellen? Und was bedeutet das für den Kontakt mit ihm? Am nächsten Tag begegnet sie der Stimme wieder, in einer BBC-Radiosendung, sie erfährt dass es sich um den bekannten Neuropsychologie-Professor Edward E. Gluck handelt. Sie ist so angetan von seiner Stimme und dem, was er zu sagen hat, dass sie in eine Buchhandlung geht, in die Abteilung „Religion, Selbsthilfe und Psychologie“ und sich das neueste Buch von Gluck mit dem Titel Die neue Kybernetik kauft. Darin verspricht er dem Leser, ihm beim Verstehen zu helfen, bei dem Prozess, der darin besteht, „ein Wunder zu sein, das sich selbst erschafft.“ Dieses Versprechen berührt Mrs. Brindle, (die ihren Glauben an Gott verloren hat) so stark, dass sie Edward E. Gluck einen Brief schreibt und ihn am Rande eines wissenschaftlichen Kongresses in Stuttgart trifft. Ihrem Mann lügt sie vor, sie mache mit ihrer Schwester eine kleine Europa-Reise.

Zwischen den beiden beginnt eine zarte Beziehung, in der Professor Gluck sich als ein unglücklicher, von sexuellen Obsessionen gequälter Mann erweist. Die sich entwickelnde Zuneigung zwischen den beiden so unterschiedlichen Menschen wird intensiver, als sie nach einer schlimmen Gewaltattacke ihres Mannes (der an sie adressierte Postkarten von Gluck entdeckt hatte) zu Gluck nach London zieht. Es scheint alles auf eine glückende Beziehung hin zulaufen, bei der Gluck sich langsam von seinen Obsessionen befreien kann, als die von Schuldgefühlen geplagte Mrs. Brindle noch einmal zu ihrem Mann zurückkehrt, sie zeigt sich ihm nackt mit rasierter Vulva, worauf dieser sie derart schwer misshandelt, dass sie wie tot in der Wohnung liegen bleibt. Was ihren Mann dazu bringt, mit Schmerztabletten Selbstmord zu begehen. Mrs. Brindle überlebt die Gewalttat; gesund gepflegt von Gluck kommt es endlich zur ersten sexuellen Begegnung, mit der der Roman endet. Eine Handlung, die ein wenig kolportagehaft wirkt, wenn da nicht der Versuch A. L. Kenndys wäre, sie mit der Sinnfrage zu verbinden. Denn die unscheinbare Mrs. Brindle hat ihren Glauben an Gott verloren.

Und das ist das Besondere an Kennedys kleinem Roman. Es ist der Versuch, diesen Glauben ihrer Protagonistin alltagsweltlich zu beschreiben. Die Gottesbeziehung ist nicht etwas, was gelegentlich bei Gottesdienstbesuchen oder in kritischen Momenten ihres Lebens aktualisiert wird. Nein, sie ist eine Konstante ihres Lebens. Ihr Glaube wird mit mystischen und pantheistischen Begriffen beschrieben. „Gott hatte sich mal weniger, mal mehr offenbart, aber er war doch immer, absolut, ewig da gewesen. Gott, ihr Gott, unendlich zugänglich, der Trost ihres Fleisches.“(18) Gott war ihr „ein Vater und Freund“ gewesen und hatte ihr eine „Seele voll Vertrauen“ geschenkt. In ihren Gebeten hatte sie Gott als „das heiße Herz der Welt“ gespürt und ihr Schönheit geschenkt. Oder pantheistisch formuliert: „Es gab nichts auf der Welt, worin ich ihn nicht finden und berühren konnte. Alles Erschaffene – ich konnte sehen und riechen, daß es tatsächlich erschaffen worden war.“(42) Diese Hingabe, dies Vertrauen ist ihr plötzlich abhandengekommen: „Ihr natürliches gleißendes Glück hatte sie aus dem Gleichgewicht gebracht.“(19) Hier steht im Englischen original bliss. Übersetzt ihre originale, anfänglich-paradiesische Glückseligkeit. Es gibt also in dieser mystisch getönten Gottesbeziehung so etwas wie ursprüngliche Glückseligkeit. Sie kann verloren gehen - mit Kierkegaard zu sprechen dadurch, dass der Mensch vom „den Schwindel der Freiheit“ ergriffen wird. Das Vertrauen auf den haltenden Gott geht so plötzlich verloren. In Kennedys Roman wird nicht näher beschrieben, wie dieser Verlust zustande kam. Er wird nur konstatiert. „Die Liebe verlässt einen ohne vorstellbaren Grund.“ Plötzlich ist er da (Karl Valentin würde sagen, das stimme nicht, wenn etwas verloren sei, könne es nicht da sein). Beschrieben werden die Auswirkungen. Nach dem Verlust der Sinnmitte ist Mrs. Brindle nur noch „ein Bündel von Tätigkeiten“. „Sie versuchte den Anfällen von Verzweiflung durch sinnlose Einkäufe oder Putzattacken zu entrinnen.“ (19) „Sie suchte Trost in den Verrichtungen des Alltag“, in kleinen Gesten der Aufmerksamkeit gegenüber anderen. Aber es hilft nicht. Es sind kleine Tricks, die wir als Leser auch kennen. Ein spontaner Einkauf eines schönen Konsumgegenstands, einer schon lange gesuchten CD. Der aufmunternde small talk mit einem unbekannten Zeitgenossen, mit jemandem aus dem Dienstleistungssektor, der ohne zu fragen seit Jahren seinen Dienst tut, die Frau an der Kasse zum Beispiel, der Kioskbesitzer. In Stuttgart gesteht sie Edward Gluck: „Ich bin ein Mensch ohne Glauben. Es ist vorbei mit mir.“ (36) Das sei mehr als der Verlust eines Menschen, sagt Mrs. Brindle sogar. Aber der Verlust scheint doch nicht total zu sein. Als Helen und Edward sich zum ersten Mal anfassen, kommentiert der Erzähler: „Aus großer Entfernung sah ihr ihre alte Liebe zu, ihr Schöpfer zu.“ (53) Im Gespräch mit Edward taucht der Gedanke auf, die Beziehung zu Gott wieder aufzubauen - so wie er mit dem Geist seiner toten Mutter spreche, könne sie mit Gott reden. Es heißt: „eine Ahnung von Gott war zurückgekehrt.“ (62) Dann: sie sei „eine Witwe Gottes, die sich in Trauer befinde“ (69). Andererseits macht sie Erfahrung von Weltvertrauen – sie lächelt die Welt an und die Welt lächelt zurück.

Es kommt jetzt, je mehr sich die Beziehung zu Edward intensiviert, eine andere Gotteserfahrung hinzu – die der Schuld und des Verbotenen (76), die katholische Morallehre meldet sich, die Ehe sei Sakrament, gegen das niemand verstoßen dürfe (101). In dem Maße, in dem ihr Begehren im Kontakt mit Edward wächst, kommen ihr auch Gedanken aus ihrer Jugend von Befleckung und Ansteckungsgefahren. Dann taucht noch einmal ganz stark der alles sehende Gott auf (von Ps 139). „Gott kannte sie voll und ganz, die vollständigen Fakten, alles was sie bis zu ihrem eigenen Tod tun würde, und entweder er hatte es ihr vergeben oder Er hatte es nicht, so würde es bleiben, von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen .“ (132) „Von überall hörte sie den metallenen Donner des himmlischen Zorns“ (132). Im Denken an Edward taucht „ein Abglanz ihrer guten Gottesfurcht“ auf.(ebd) Sie fragt sich, ob die Begegnung mit Edward nicht „ein Eingriff Gottes“ sei, ihr zugestoßen wie ein Gewitter (133). In dem Moment, in dem sie überlegt, ob sie in der Annäherung an Edward Gott auch dienen kann, attackiert ihr Mann sie, reißt ihr die Kleider vom Leibe und schlägt sie brutal. Jetzt verlässt sie ihn und zieht zu Edward.

Doch herausgefallen aus der ursprünglichen Glückseligkeit, der Übereinstimmung mit Gott, kann sie trotz der noch größer gewordenen Nähe zu Edward diesen Weg nicht ganz als den ihr möglichen akzeptieren. Ihr strafendes Gottesbild, das sich gegenüber der mystischen Gottesbeziehung jetzt stärker durchsetzt, treibt sie zu der Entscheidung, zu ihrem gewalttätigen Mann zurückzukehren. Sie sucht in gewisser Weise mit diesem Schritt ein Gottesurteil zu erzwingen. „Sie war gekommen“, heißt es, „sich zu unterwerfen, und Mr. Brindle würde Gottes Willen an ihr vollziehen, auch wenn er Atheist war.“ (172) In einer Abstellkammer der Wohnung bezieht sie ihr Quartier. Sie fällt auf die Knie und betet: „Also gut, Gott. Hier bin ich. Was soll ich tun? Sei mein Hirte, Vater und führe mich Deinen Weg.“ (175) Sie erbittet von Gott ein Zeichen, das aber nicht kommt. Er war nicht hier. „Er war nur in der Nähe.“ (176) Trotzdem gibt sie die Hoffnung nicht auf, trotz ihrer Angst, in die sie immer mehr verstrickt ist, dass „Gott größer als jeder Begriff, tiefer als die Zeit und Tod“ (177) sich nähert. Sie wählt den Opfergang schließlich im Vertrauen auf den „Vater, der du bist im Himmel, der doch auch viel näher und viel schrecklicher ist“ (180), ein Hinweis auf die doppelte Erscheinung Gottes, er ist nicht nur der Freundliche, sondern auch der Schreckliche (Steht dahinter eine Gewalterfahrung seitens des Vaters in der Kindheit?) Sie wagt das Ungeheuerliche, als schreite sie in ein „neues Sein“ (180). Sie zeigt sich ihrem Mann nackt mit rasierter Scham. Der stürzt sich auf sie und bringt sie fast um. Sie überlebt und im Gespräch mit Edward Gluck, warum sie zurückgegangen sei, wird noch einmal die Gottesfrage angesprochen. „Helen dacht an Gott. Wenn Gott da war, dann war er natürlich in jedem ihrem Blutergüsse und im Wasserglas und in allem, was ihr einfiel.“ (190) Angesichts der Tatsache, dass sie überlebte, ihr Mann tot ist, denkt sie, muss Gott auch „Sinn für Humor“ (190) haben. Sie benutzt traditionelle Frömmigkeitsformeln der Bewahrung, die aber noch mal ihren Sinn entfalten „Sie ist hindurchgeführt worden: Ich meine, ich lebe. Ich glaube an Etwas oder Etwas glaubt an mich (..) Ich kann wirklich alles tun, was ein lebendiger Mensch tun kann.“ (191) Nach dem Verlust der ursprünglichen Glückseligkeit ist sie ins Leben zurückgekehrt, aber nur indem sie durch die Negativität hindurch gegangen ist. „Nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und vor der Verwüstung rein bewahrt, sondern das ihn erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes (…) Er ist diese Macht nur, indem er dem Negativen ins Angesicht schaut, bei ihm verweilt.” (Hegel, Einleitung in die Philosophie des Geistes, Frankfurt 1964, 26) Was im Roman dramatisch ausagiert wird(eine Frau, die wider besseres Wissen zu ihrem gewalttätigen Mann zurückkehrt), kann und sollte im normalen Leben natürlich durch eine Therapie oder Beratung ersetzt werden. In der endlich sexuell erfüllten Liebesbegegnung sind sie, sich umschlingend „eine gemeinsame Bewegung vor Gott. dem Geduldigen, Eifernden Liebhaber: der Eifernden, Geduldigen Liebe.“ (201) Man könnte sagen, in diesem Roman erfüllt sich in gewisser Weise unter postmodernen Bedingungen noch einmal das Liebeskonzept des Pantheismus – der in die Natur und die Liebe ausgegossene Gott kommt in der Vereinigung der Liebenden, in der Eifernden Geduldigen Liebe zu seiner Erfüllung. Sie vereinigen sich ohne Gott zu vergessen. (Also nicht: „Als ich ihn sah, wußte ich von keinem Gotte mehr“, so Luise in Schillers Kabale und Liebe). Die Liebe ist die erfüllte Bewegung vor Gott und durch Gott. Ähnlich wie bei N. Kermani ist die Gottesliebe gerade auch in der sexuellen Begegnung anwesend, Kermani kann ja im Rahmen eines islamisch-mysti­schen Liebeskonzepts ganz selbstverständlich davon reden, dass sich im sexuellen Akt Gott realisiert. Aus der eher inhaltsleeren Mystik der unbefriedigten Mrs. Brindle, die Ihn kompensatorisch erfährt, und je stärker, je weniger sie geliebt wird, wird die reife Liebe zu Gott und dem geliebten Menschen, wo der eine nicht auf Kosten des andern verdrängt wird. Paradox gesagt muss Mrs. Brindle Gott loslassen, um ihn in der Liebe eines anderen Menschen voller, schöner wiederzufinden. Sie macht darin eine Auferstehungserfahrung nach der äußersten Erniedrigung. Gottesmystik in dem Leben einer unscheinbaren Frau, keine Mystik des Widerstands (Sölle), keine Mystik tiefer innovativer Erkenntnisse sondern eine Alltagsmystik des Ertragens widerwärtiger Ehe-Verhältnisse. A. L. Kennedy ist in Gleissendes Glück ein Roman gelungen, der Gott im Alltag zur Erscheinung bringt und dem Glück zweier Menschen nicht im Wege steht.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/105/hjb53.htm
© Hans-Jürgen Benedict, 2017