Phantastische Thanatologie

Von lebenden Toten, der Verfluchung der Lebenden und später Rache:
Die Mumien der Filmgeschichte

Hans J. Wulff

Digging for History: Die Popularität von Archäologie und Ägyptologie

Seitdem im 19. Jahrhundert nach der Ägypten-Expedition Napoleons die Archäologie die Faszination nicht nur eines Fach-, sondern auch eines Massenpublikums auf sich zog, wurde auch die Mumie zu einer Figur des kollektiven Gedächtnisses und Imagination, wurde auch im Film schon früh thematisiert. Mumien fanden sich in den Berichten der Archäologen über geheimnisvolle Schatzkammern und die reichen Grabbeigaben; sie wurden von Sammlern antiker Stücke weltweit gesucht, standen in Privatsammlungen wie auch in Museen[1]. Schriftsteller wie Arthur Conan Doyle, Bram Stoker und Agatha Christie romantisierten die Figur des Archäologen – so, wie die Kolonisatoren und Weltreisenden in den Jahrhunderten zuvor zu Erkundern der Erde wurden, wurden sie zu Kundschaftern der Zivilisationsgeschichte. Ganze Hoch-Kulturen gewannen Gesicht, die schon vor Jahrtausenden untergegangen waren. Der Blick wurde frei auf Phasen eigener künstlerischer Produktion, auf rätselhafte Herrschaftssysteme und grausame religiöse Riten. Und Fragen nach dem Aufstieg und Fall dieser Kulturen stellten sich, gingen in die Produktion populärer Geschichtsmodelle ein.

Nun nimmt die Mumie eine Sonderstellung ein, weil nicht nur die exzesshafte bauliche Ehrung der toten Könige weit über die abendländischen Beerdigungsriten hinausging, sondern die Konservierung des toten Körpers deutlich gegen die gewohnten Umgehensformen mit Verstorbenen verstieß. Bereits im 19. Jahrhundert entstanden Mythen darüber, dass Pharaonengräber von Flüchen geschützt seien, vielleicht sogar von lebend-untoten Wächtern bewacht würden. Eine der Erzählungen über die Gründe des Untergangs der Titanic berichtet von einem Sarkophag mit Mumie, die auf dem Schiff nach Amerika transportiert werden sollte, eine Mumie, die während der Fahrt Rache nahm für die Störung ihrer Grabesruhe (allerdings enthält keine der Transportlisten der Titanic einen Hinweis auf einen Sarkophag). Ja, das Gewebe der Geschichten geht bereits in der frühen Stummfilmgeschichte weiter: Da ist die Rede von Wissenschaftlern, die Mumien zu neuem Leben erwecken, von mumifizierten Leichen, die in neuer Gestalt dem Forscher begegnen, von Verfluchungen, die diejenigen heimsuchen, die Mumiengräber ausheben, und sogar von Betrügern, die sich als Mumien wissenschaftlichen Experimenten zur Verfügung stellen.

Neue Nahrung erhielt dieser Komplex von Geschichten, als 1922 das nahezu unberaubte Grab des Tut-Ench-Amun (KV62) im Tal der Könige in West-Theben durch den englischen Ägyptologen Howard Carter gefunden wurde. Nicht nur die Weltgemeinde der Wissenschaftler war durch den Fund euphorisiert – die Weltpresse zeigte reges Interesse, die „Ägyptomanie“ des 19. Jahrhunderts schien fröhliche Urständ zu feiern. Endgültig zum Thema der Boulevardpresse wurde der Fund, als sich nach der Grabentdeckung die Legende vom „Fluch des Pharao“ in großer Geschwindigkeit verbreitete (und bis heute immer wieder thematisiert und – sich immer mehr von Tut-Ench-Amun und Carters Grabungen entfernend – zu einem freien Radikal populären Erzählens wurde): Einige Mitglieder aus Carters Grabungsteams starben innerhalb der ersten fünf Jahre nach der Hebung des Sarkophags, darunter der Finanzier, Lord Carnarvon, der an einer Infektion verstarb; fünf Mitglieder des Entdeckerteams begingen auf Grund der Veröffentlichungen der anderen Todesfälle Selbstmord. Die Spekulationen über die Todesursachen (Schimmelpilzsporen in der Luft der Grabkammer, Moskitostiche etc.) blieben ohne Befund – um so mehr bekam die Annahme Raum, dass sie durch das Wiedererwachen antiker Magie ausgelöst worden sein könnten. Ihren Ursprung hatte die Mär vom „Fluch des Pharao“ aber bereits im London der 1820er Jahre, als in bizarrem Theaterambiente Mumien ausgewickelt und sogenannte „Mumien-Parties“ gefeiert wurden.[2]

Entwicklungen kollektiver Bilder der Mumien im Erzählen des Kinos

Schon vor 1922 wurden die ägyptische Antike wie auch andere historische Epochen im Film zum Schauplatz von Verbrechen und Machtkämpfen, von Liebes- und Eifersuchtsdramen. Die Mumien wurden zu gegen die Zeit resistenten Zeugen vergangenen und sich oft in der Gegenwart verlängernden oder gar wiederholenden Dramas. Und sie wurden zugleich zu Unterhaltungsmasken, mit fester Ikonographie. Eingehüllt in weiße Mullbinden, schwerfälligen Gangs, ohne Angst sich auf ihr Ziel zubewegend, die Erstarrung des Mumienkörpers mit roboterhafter Gestik und Bewegung kombinierend – schon früh finden sich Hinweise auf Maskenbälle, auf denen auch Gäste in der Maske von Mumien auftraten. Die Mumien des Films wurden gewissermaßen zu Mittler-Figuren zwischen den Kulturen, der Faszination von Europäern am Exotischen und der Gegenwehr der Kulturell-Anderen. Ernst Lubitschs Die Augen der Mumie Mâ (Deutschland 1918) ist ein frühes Beispiel dieses zwischen dem Erotischen, dem Exotischen und dem Historischen schwankenden Form eines nie genau benannten Begehrens: Der europäische Maler, der das Grab einer altägyptischen Pharaonin aufsucht, sodann auf eine Frau trifft, die wie eine Wiedergeburt jener aussieht, die er mitnimmt und als exotische Tänzerin vermittelt; dazu ein finsterer Ägypter, ein Grabwächter, der der Wiedergeborenen folgt und sie tötet – eine Geschichte, die den Stoff populären Imaginierens um 1920 auf den Punkt bringt.

Endgültig wird die Mumie als Figur des Universums filmischen Erzählens mit Boris Karloff als versehentlich von Archäologen wiedererweckte, fluchbeladene Mumie des altägyptischen Priesters Im-Ho-Tep, der sich eines Mädchens (Zita Johann als Helen Grosvenor bzw. als Prinzessin Anck-es-en-Amon) bemächtigen will, das er für die Wiedergeburt der vor 3.700 Jahren frevelhaft geliebten Pharaonentochter hält: The Mummy (USA 1932, Karl Freund) etabliert ein neues, deutsch vom deutschen Expressionismus beeinflusstes Bild der erwachten Mumie. Und etabliert sie als Figur des filmischen Horrors. Mit der oft sogenannten Mummy Series der Universal Studios aus den 1940ern wurde diese generische Zuordnung verstetigt.

The Mummy ist – wie auch der kurz vorher entstandene Film Frankenstein (USA 1931, Frank Whale) – etablierte Boris Karloff als einen der Bösewichter-Stars Hollywoods. „The Man You Love to Hate“ war neben „Karloff, the Uncanny“ einer der Werbeslogans, der für ihn in Umlauf gebracht wurde. Ein Star, dessen Kapital und Publikumsbindung darin besteht, dass er gehasst wird? Dieser Widerspruch bedarf genaueren Nachdenkens, weil Karloff offenbar die Ankerfigur der Zuschauer war, die den Zugang zu den Lust-Gratifikation des Films ermöglicht. Es ist nicht die Schöne, die in Gefahr gerät (Zita Johann ist heute so gut wie vergessen), und auch nicht die Wissenschaftler, die ihre Arbeit machen. Nein, es ist der Bösewicht. Man ist geneigt, an Arno Schmidt zu denken, der den Bösewicht Conte Fosco in Wilkie Collins‘ mystery novel „The Woman in White“ (1860) als die einzige starke Figur des Romans bezeichnete, ein Faszinosum in sich, auf den sich alle teilnehmende Energie der Leser konzentrieren kann.

Lon Cheney, Jr., der die Bösenfigur des Kharis in den Universal-Filmen der 1940er spielte, und Christopher Lee – wiederum in der Rolle des Kharis in The Mummy (Großbritannien 1959, Terence Fisher) – setzten diese Funktion des Primats der Angstfigur in den Mumienfilmen der Zeit fort. Der Bösewicht als Ankerfigur ist insofern interessant, als sich die Beziehung zum Star in einer eigenartigen Spannung zwischen Sympathie (es ist der Star!) und Abwehr (er macht mich schaudern!) aufspannt. Es ist eine der Manifestationen der ambivalenten Position des „perversen Zuschauers“,[3] möchte man fortsetzen, wie sie vor allem im Gewalt- und Horrorfilm konstituiert wird und die eine Affekterwartung zwischen Angst, Ekel und Lust nominiert. Das hat sich in den 1960ern geändert, nun werden die Mumiendarsteller wieder zu reinen Funktionsfiguren, die „perverse“ Gratifikationserwartung löst sich vom Star und verbündet sich mit dem Genreversprechen.

Die Mumie wurde zu einer stock figure des Horrorfilms und wird oft mit den anderen Monsterfiguren Hollywoods (der Vampir / Dracula, der Werwolf / Wolfman, Frankensteins synthetischer Mensch, der Zombie) zusammen genannt: alles Figuren zwischen Mensch und Nicht-Mensch, alle dem Tod gegenüber gefeit und einer Welt entsprungen, die quasi wie eine Geheimwelt mitten in oder unterhalb der Menschenwelt angesiedelt ist. Ist es eine Neuauflage und Modernisierung der mythischen Welt der Elfen und Zwerge, der Hexen und Geistwesen? Das würde immerhin dafür sprechen, dass die Hollywood-Monster eine Fortsetzung der Welt mancher Märchen und Sagen wäre. Doch sind die Filmmonster auch den Super-Bösewichtern zugesellt, streben nach Weltherrschaft und suchen – und das ist gar nicht märchenartig – die Welt der Menschen zu zerstören. Filme dieser Art sind fast immer Exploitation-Filme, sie beuten das Affektpotential der Figuren in einer groben Weise aus und konstruieren eine von Animismus und Paranoia durchzogene Welt, die sozusagen durch ihre imaginären Angstgestalten sich selbst auslöschen könnte. Ein Beispiel dieser intellektuell flachen, künstlerisch anspruchslosen, von der Produktion her billigen, actionreichen und für den Tagesverbrauch bestimmten Filme ist Dracula jagt Frankenstein (BRD/Spanien/Italien 1968, Tulio Demicheli), in dem Frankenstein im Auftrag einer satanischen Macht die Schreckensfiguren der Filmgeschichte (Vampir, Pharaonenmumie, Werwolf) ihren Grabstätten entreißt: Weltbeherrschung à la Mabuse ist das Ziel; die Monster geraten aber in Streit und erledigen sich gegenseitig – die Gefahr ist gebannt. Nur blöde? Schon der Titel heischt nach Aufmerksamkeit, verspricht schnellen Kitzel ebenso wie eine Welt, die mit unserer nichts zu tun hat. Sind die Mumien wie andere Monsterwesen auch in eine reine Spielewelt umgezogen?

Das Ensemble der Film-Monsterwesen ist in Bewegung. Heute stehen die Mumien in der Nähe der Zombies als einer anderen Ausprägung der „lebenden Toten“ – Menschen der Vergangenheit, die die Todesruhe nicht finden konnten und wie eine Armee der Toten auferstehen, um eigene Reiche zu gründen. Das Motiv der Rache tritt zunehmend in den Hintergrund. Wenn am Ende der „klassischen Mumienfilme“ die Mumien unter Kontrolle gebracht oder niedergerungen sind, zerfallen sie oft zu Staub (manchmal bleibt nur das Skelett über), kehren so zu den Menschen und in die irdische Welt zurück. Auch die Gratifikationsaffekte verschieben sich im der Kette der Mumienfilme. Stand noch in den Universal-Filmen der 1940er deutlich ein melodramatisches Element im Zentrum, verschob sich in den 1960ern in den Produktionen der Hammer Film Studios die Genre-Zuordnung hin zum Grusel als dominantem Rezeptionsaffekt (mit Anlehnungen an die literarischen Traditionen des Schauerromans bzw. der Gothic novel). Mit dem Zombie-Film der 1970er und den Splatter-Filmen der 1980er wurde das Moment des Ekels zielführend; auch wurden dramaturgische Konstellationen an die neuen Leit-Genres angepasst. In Isis Rising: Curse of the Lady Mummy (USA 2013, Lisa Palenica) etwa erweckt eine bunt zusammengewürfelte Gruppe von Studenten im Keller des Völkerkundemuseums mit achtlos ausgesprochenen Beschwörungen die vor Jahrtausenden verschiedene ägyptische Gottkönigin Isis (Priya Rai), die unter möglichst vielen Menschenopfern ihren seinerzeit von ihr getrennten Mann Osiris zu finden und zu erwecken sucht, mit ihm und seiner bösen Totenarmee ihre Herrschaft auf Erden zu reinstallieren. Zombie- und Splatter-Elemente, der märchenhafte Super-Bösewicht, die Weltherrschaft: die Mischung der Genre-Elemente ist deutlich greifbar.

Das Leben der Menschen, die zu Mumien wurden, tritt immer mehr in den Hintergrund. Ihr eigentliches Wirken als Figuren der Erzählung beginnt erst nach dem Tod. „Death is only the Beginning!“, lautete ein Werbeslogan der Universal Studios für ihren Film The Mummy (USA 1999, Stephen Sommers), genau diese Transformation der mumifizierten Leiche in eine Funktionsfigur der Action- und Horrorfilme der Gegenwart. Sie verliert ihre Vorgeschichten. Und sie verliert alle melodramatischen Rückbindungen an das einmal gelebte Leben. Noch Boris Karloffs Im-Ho-Tep war auf der verzweifelten Suche nach der verlorenen Geliebten; in der 1999er Neuadaption des Stoffes wird die Zentralfigur zu einem viel abstrakteren Bösen, wird zudem noch von einer ganzen Armee von Schergen begleitet, die mühsam niedergekämpft werden müssen. Die Aktion der Schlägereien und Tötungen verschlingt alle tieferen Motivationen. Offen muss bleiben, dass auch diese Beobachtung darauf hindeutet, dass die Mumie immer mehr zur Figur eines Action- oder Kampfspiels wird und dass sie einer Herleitung ihrer Handlungsmotive aus vergangenem Leid oder Unrecht nur noch formal bedarf.

Zwischen Romantik und Gelächter

In der historischen Schau auf die Mumienfilme lässt sich eine Verschiebung des semantisch-narrativen Hofs der Mumienfigur beobachten, die die romantischen und melodramatischen Horizonte der Frühzeit immer mehr in ein Feld von Gefahr und Bedrohung, Schauder und Angst überführt. Manche Mumien der Frühzeit sind Traumgestalten, die nach dem Erwachen ihr reales Pendant in der Realität finden. Es sind Männer, die träumen, und es sind Frauen, die sie erträumen – in der Maske der Mumie, so dass die reale Frau wie eine Wiederauferstehung einer Schönheit erscheint und als erotische Inkarnation einer Wunschenergie, die alle Zeiten überdauert. Die Quellen dieses universalen Ersehnens der Frau weist ins 19. Jahrhundert zurück; ein Beispiel ist der französische Film Le roman de la momie (Frankreich 1911, Albert Capellani) nach der gleichnamigen Novelle von Théophile Gautier (1857), der die Pharaonentochter eines Traums in der realen Frau wiederentdeckt (gespielt von Jeanne Grumbach). In den 1930ern endet die Koexistenz von Angst- und Wunschmumie, wird durch das nun dominant werdende Horrorszenario abgelöst.

Allerdings ist die angstbesetzte Mumie bereits in der Frühzeit des Films auch komödiantisch interpretiert worden. Sei es, dass Lebende als Mumien verkleiden, um andere zu ärgern und zu erschrecken oder um Wissenschaftler zum Narren zu halten, sei es, dass sie sich als Mumien verkleiden müssen, um den Mordgelüsten von Mumien zu entkommen. Die Zeichentrick-Mumien, die seit den 1920ern die Leinwände bevölkern, sind ausschließlich als Humoresken ausgeführt, bis heute in Kinderprogrammen des Fernsehens überaus präsent. Manchmal singen die Mumien sogar (wie etwa in The Magic Mummy [USA 1933, John Foster, Vernon Stallings], in dem ein Skelett-Orchester die Begleitung übernimmt). Nicht nur hier werden Mumien der Lächerlichkeit ausgesetzt (oder und eigentlich genauer: die in der Nicht-Komödien-Welt dominanten Gefahren- und Angstbilder der Mumien), sondern hier wird der mechanische Körper, der in sich immer das Potential des Gelächters birgt, ebenso zum Gegenstand des Gespötts wie die Mumiomanie selbst: In einem Film mit dem Komikertrio The Three Stooges erweist sich der Pharao, der am Ende die Bühne der wissenschaftlichen Suche betritt, als Zwerg und nicht als Herrschaft symbolisierende, stolze Königsfigur (es handelt sich um den Film We Want Our Mummy, USA 1939, Del Lord).

Die Komödien-Mumien sind die karnevaleske Ausprägung des Wissenskomplexes der Mumien, möchte man Michail Bachtin zu Hilfe holen, eine reflexive Außerkraftsetzung alltäglichen Wissens. Gerade die übertreibenden, dem Klamauk zugeneigten Filme spiegeln so das kollektive Wissen ihrer Zeit, als seien sie seine Seismographen. Abbott and Costello Meet the Mummy (USA 1955, Charles Lamont) zeichnet das Bild ganz anderer Wissensmumien als die englische Horror-Klamaukkomödie Carry On Screaming! (1966, Gerald Thomas), die sich wiederum radikal von einem Film wie The Monster Squad (USA 1987, Fred Dekker) unterscheidet. Es sind zentrale Rollenmodelle des Spiels – akzentuiert das erste Beispiel die Rolle der Mumie als Nebenfigur des comic relief, thematisiert das zweite vor allem die Genrefigur des mad scientist und das dritte die so neue Berufsgruppe der ghost busters – ebenso wie die generischen Muster, in denen die Figuren im Horizont jeweiligen zeitgenössischen Lachen-Machens im Kino erschlossen sind.

Die Realität der Mumien

Stand die Suche nach den antiken Vorgeschichten des Jetzt am Beginn der Mumienkunde – das Wort Mumie leitet sich vom arabischen mumia ab, mit dem wiederum Bitumen bzw. Erdpech bezeichnet werden – und zogen die Funde der ägyptischen Mumien breites wissenschaftliches Interesse auf sich, so verselbständigten sich die Mumien schnell von diesem erfahrungswissenschaftlichen Interesse und entfalteten in der populären Imagination ein rühriges Eigenleben. Die Figur der Mumie wurde in zahllosen Fiktionen immer weiter von der Realität entfernt, wurde zu einem eigentlich abstrakten Geistwesen, das nur noch lose mit den tatsächlichen Mumienfunden verbunden war. Allerdings wurde die Mumie auch in der wissenschaftlichen Öffentlichkeitsdarstellung zum Anschauungs- bzw. Ausstellungsobjekt. Museen und thematische Ausstellungen spekulierten auf ein öffentliches Interesse, das zwischen den Polen „sachliche Neugierde“ und aus Fiktionen gespeister Schaulust schwankt. Die Besichtigung von Toten, die in der abendländischen Kultur so verpönt war (wenn man von den einbalsamierten Leichnamen Lenins und Stalins einmal absieht), war angesichts der Ausstellungs-Mumien möglich und sogar qua Bildungswissen nobilitiert.

Ein eigenes Mumienmuseum wie das El Museo de las Momias im mexikanischen Guanajuato, in dem mumifizierte (aber nicht einbalsamierte) Mumien, die als Opfer der Cholera 1833 beerdigt worden waren, ausgestellt sind, mutet befremdlich an. Die Funde kamen bei einer Friedhofserweiterung 1865 zuerst zu Tage; sie wurden in einem eigenen Gebäude gelagert, das in den 1950ern zum Museum deklariert wurde. Ungefähr zur gleichen Zeit begann die Produktion einer ganzen Reihe exploitativer mexikanischer Mumienfilme (beginnend mit La momia azteca, 1957, Rafael Portillo), deren Geschichten sich meist um die Suche nach einem sagenumwobenen Schatz der Azteken drehten. Ihre Verbreitung blieb aber weitestgehend auf Mexiko beschränkt, zumal die Filme Elemente des so mexikospezifischen Ringerfilms (auch: Luchador-Film) adaptierten.

Für westliche Zuschauer blieben die Filme weitgehend unzugänglich (im doppelten Sinne des Wortes). Vor allem die Bilder der Leichenfunde aus Guanajato wirkten in ihrer Zeit wie ein „semantischer Schock“, faszinierten und stießen ab gleichzeitig, den Betrachter in einer höchst ambivalenten Haltung zwischen Betrachten-Wollen und -Nichtwollen bindend. Als Werner Herzog seinen Film Nosferatu – Phantom der Nacht (BRD/Frankreich 1979) mit einer Titelsequenz eröffnete, in der er dokumentarische Aufnahmen der Mumien von Guanajato verwendete, etablierte er eine ganz eigenartige Stimmung, die den ganzen folgenden Film zwischen Trauer, Bedrohung und der Faszination des unerhörten Blicks lokalisierte. Es mag das eingefroren wirkende Leid der Toten des Museums, die Erstarrung des Schmerzes gewesen sein, das einen Vorschein auf die kommende romantische Geschichte warf.

Für den Kontext der vorliegenden Darstellung wichtiger ist aber die Frage nach einer kulturell ganz anderen Steuerung (oder sogar Verhinderung) des Blicks auf den Körper der Toten, die sich in den westlichen Kulturen erst in den 1990ern neu konfigurierte. Sicherlich gehört die Exposition des toten Körpers zu den elementarsten Strategien des Öffentlichmachens medizinischer Tatsachen. Der medizinisch erschlossene Leib ist von Beginn an eine öffentliche Tatsache gewesen und sogar öffentlich vermarktet worden: Leichenöffnungen waren öffentliche Veranstaltungen und nicht für den Ausbildungsbetrieb der Medizin reserviert. Anatomie ist auch eine Kunst (oder ein Kunstgewerbe). Wachsmuseen stellten nicht nur historische Szenen nach, sondern öffneten auch Blicke in den geöffneten Körper. Anatomische Museen stellten Besonderheiten und Absonderlichkeiten für eine allgemeine Öffentlichkeit aus (und gerieten oft in die Nähe der Freak-Show). Anatomische Atlanten waren auf der Grenze zwischen Aufklärungs- und Kunstbuch angesiedelt. Die Trichterform des Medizin-Hörsaals diente als theatrum anatomicum dazu, einen möglichst unverstellten Blick auf Leichenöffnungen zu ermöglichen und war öffentlicher Ort, den man gegen Eintritt betreten konnte.

Die Konjunktur der Gerichtsmediziner im Fernsehen der 1990er[4] und vor allem die Ausstellung Körperwelten von Gunther von Hagens[5] stehen beide in der Tradition medizinischer Körper-Exposition und -Sensationalisierung (ungeachtet aller medizinethischen und -politischen Diskussionen, die die von-Hagens-Ausstellung ausgelöst hat). Es sei auch daran erinnert, dass von Hagens die Ganzkörper-Exponate in der Ausstellung ästhetisch arrangierte, als Skulpturen zwischen der Realität der toten Körper und der Tradition der Bildenden Künste, so ästhetische Distanz zwischen Betrachter und Objekt bringend.

Seit den 1990ern ist auch eine wahre Sturzflut von meist mittellangen TV-Dokumentationen entstanden, die der Geschichte der Mumienfunde – nun nicht mehr nur auf ägyptische Mumienfunde beschränkt, sondern das Feld auf Eis-, Sand- und Moorleichen ausdehnend und sogar mumifizierte Körper prähistorischer Tiere einbeziehend – und die Bemühungen um ihre wissenschaftliche Beschreibung erzählen, die Rekonstruktion oft prähistorischer Lebensbedingungen angehen und sogar die Umstände des Todes der Gefundenen zu rekonstruieren suchen. Modernste Methoden der Medizin kommen zur Darstellung, und sie werden eingebettet in ein narratives Umfeld, in dem die Wissenschaftler zu Detektiven werden (darin den Rechtsmedizinern nicht unähnlich). Die ägyptischen und später die aztekischen Mumien waren Manifestationen des Geheimnisvollen, ja des Mysteriösen in der Welt: eine vollkommen fremde Sepulkralkultur, kaum durchdringliche Herrschaftsverhältnisse, der Status von Menschen als Götter, sagenhafte Reichtümer, zudem Hinweise auf Opferrituale, deren Sinn sich nicht zu erschließen vermochte, unentzifferbare Schriften. Das änderte sich nun: Die wissenschaftliche Analyse brachte Licht in das Dunkel der Geschichte, sie trieb den Mumien das Geheimnis aus und verschob ihre populären Imaginationen in das Reich des Imaginären und des Phantastischen.[6] Wiedererweckungen, geheimnisvolle Wächter, Flüche, die alle bedrohen, die sich den Toten nähern – all dieses gehört dem Mummenschanz des Schaudern-Machens an, ist Material eines narrativen Spiels, nicht aber Teil der Realität.

Diese Mumien der Realwelt stehen heute neben den Mumien der Imagination und der Fiktion, die die älteren Motive und Ikonographien des Mumien-Wissenskomplexes fortführen. Das Mumien-Monsterwesen ist bei allen Veränderungen der Blickordnungen und der Beurteilung der Blickobjekte nicht tot, sein Ende ist nicht in Sicht: Für den Sommer 2017 ist der Start von The Mummy (eine Produktion des Universal Monsters Cinematic Universe, dem wiederum das Mummy-Franchise gehört). Tom Cruise wird den Wissenschaftler-Protagonisten spielen, die französisch-algerische Sängerin und vor allem aus HipHop und Street-Dance bekannte Sofia Boutella die wiedererwachte Mumie, die ihren über Jahrtausende gewachsenen Zorn an den Menschen auslassen will.

Anmerkungen

[1]    Die Mumiomanie (mummymania) des 19. Jahrhunderts mündete direkt in die Filmproduktion des 20. Jahrhunderts ein; vgl. dazu Jasmine Day: The Mummy's Curse. Mummymania in the English-Speaking World. London: Routledge 2006; Carter Lupton: ‚Mummymania‘ for the masses - is Egyptology cursed by the Mummy curse? In: Consuming Ancient Egypt. Ed. by Sally Macdonald & Michael Rice. Walnut Creek, Cal.: Left Coast Press 2010, S. 23-46. Vgl. dazu auch: Bob Brier: Egyptomania. Our Three Thousand Year Obsession with the Land of the Pharaohs. New York: Palgrave Macmillan 2013, bes. S. 151-192. Auf eine genauere Thematisierung des „westlichen“ Blicks auf die Mumien sowie die Frage, ob die implizite Perspektive der Mumienbilder eine Verlängerung des imperialen Blicks der Kolonialzeit gewesen ist, werde ich hier verzichten. Vgl. dazu etwa Carol Siri Johnson: The Limbs of Osiris: Reed’s Mumbo Jumbo and Hollywood’s The Mummy. In: Melus 17, 1991-92, S. 105-115. Vgl. dazu auch Leslie Anne Lewis: Trading in Withered Flesh: Mummies, Movies and Modernity. Ph.D. Thesis, Evanston, Ill.: Northwestern University 2006, die die Figur der Mumie auf tiefere Konzeptionen Ägyptens bzw. des antiken Exotischen aus der Sicht der Europäer zurückführt. Zum weiteren Umfeld vgl. Ella Shohat: Gender and Culture of Empire. Toward a Feminist Ethnography of the Cinema. In: Quarterly Review of Film and Video 13,1-3, 1991, S. 45-84, die die Orientalismen der Filmgeschichte auf patriachalistische und kolonialistische Kernannahmen der Kolonialzeit zurückführt.

[2]    Vgl. Jane C. Loudon: The Mummy! Or a Tale of the Twenty-Second Century. 1.2.3. London 1827. 2nd ed. London: Henry Colburn 1828. Vgl. dazu Lisa Hopkins: Jane C. Loudon’s The Mummy! Mary Shelley Meets George Orwell, and They Go in a Balloon to Egypt. In: Cardiff Corvey: Reading the Romantic, 10, June 2003, URL: <http://www.cf.ac.uk/encap/corvey/articles/cc10_n01.pdf>.

[3]    Vgl. dazu Janet Staiger: Perverse Spectators. The Practices of Film Reception. New York [...]: New York University Press 2000, v.a. S. 28ff.

[4]    Vgl. die umfangreiche Filmographie von Hans J. Wulff: Gerichtsmedizin, Rechtsmedizin, forensische Medizin in Film und Fernsehen: ein Dossier. In: Medienwissenschaft: Berichte und Papiere. Westerkappeln: Derwulff.de 2003, URL: <http://berichte.derwulff.de/0052_03> sowie den Artikel des gleichen Autors: Quincy und die anderen oder Im Angesicht des Todes: Die Figur des Rechtsmediziners in den fiktionalen Formen des Films und des Fernsehens. Westerkappeln: Derwulff.de [2007], URL: <http://www.derwulff.de/10-9>.

[5]    Vgl. Hans J. Wulff: Anwälte der Toten. Dramaturgien des Leichnams im neueren Film- und Fernsehkrimi. In: TV-Diskurs 11,1 (= 38), 2007, S. 64-67. Zur „Körperwelten“-Ausstellung vgl. Liselotte Hermes da Fonseca u. Thomas Kliche (Hrsg.): Verführerische Leichen - verbotener Verfall. "Körperwelten" als gesellschaftliches Schlüsselereignis. Lengerich [...]: Pabst 2006, v.a. 99ff u. 140ff (Perspektiven politischer Psychologie. 1.). Zur Frühgeschichte der Konstitution von Mumien als ästhetische Objekte vgl. S.J. Wolfe / Robert Singerman: Mummies in nineteenth century America. Ancient Egyptians as Artifacts. Jefferson, N.C.: McFarland 2009.

[6]    Vgl. dazu J.P. Telotte: Doing Science in Machine-Age Horror: The Mummy's Case. In: Science-Fiction Studies 30,2, 2003, S. 217-230.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/105/hjw15.htm
© Hans J. Wulff, 2017