Bloß kein Museum!?

Auch ein Beitrag zur Outsiderkultur

Andreas Mertin

Was ist eigentlich so schlimm an einem Museum, dass man sich in der evangelischen Kirche permanent davon absetzen muss? Was ist schief gelaufen in der kulturellen Sozialisation so vieler Protestanten, dass sie „Museum“ nicht mit einem Ort der Reflexion und des Bedenkens der kulturellen Errungenschaften der Menschheit verbinden, sondern mit etwas, von dem man sich abgrenzen muss:

Das ist für jeden, der in den letzten Jahren vor Ort in Wittenberg war, ein Treppenwitz der Weltgeschichte. Natürlich ist die Schlosskirche durch und durch ein Museum, sie wird sicher nicht aufbereitet für Gottesdienste oder andere religiöse Zeremonien (da würde ein schlichter Versammlungsraum reichen), sondern nur und fast ausschließlich für den Tourismus und die Vergegenwärtigung eines historischen Ereignisses. Nichts anderes machen auch Museen.

Ich weiß nicht, in welchen Museen die Interviewpartnerin bisher gewesen ist, aber in allen Museen wird selbstverständlich über den Sinn und Zweck eines Objektes gesprochen – gerade das zeichnet moderne Museumspädagogik aus.

Größte Probleme habe ich mit dem Satz, Sinn der Kirchenpädagogik sei es, „den Gästen ein geistliches Erlebnis zu eröffnen“. Das scheint mir in so vielerlei Hinsicht falsch, dass ich nicht weiß, wo ich anfangen soll.

1 - Ich mag schon das Wort „Erlebnis“ im Kontext von Religion nicht.
Es hat mir zu viel von der Anpassung an die Erlebnisgesellschaft und zu wenig von dem, was religiöse Erfahrung ausmacht. Das Wort Erlebnis stammt sicher nicht aus Luthers Wortschatz, vor 1800 kommt es in der deutschen Sprache kaum vor. Das Grimm’sche Wörterbuch kennt es zwar, benennt aber nur zwei Belege. Konkurrierend benennt es noch das schöne Wort Erlebung bei Klopstock:

fliesze mir jetzt ein rieselnder bach in den strom des gesanges,
den vollendend ich der erlebungen seligste fühlte.
Messias 16, 212.

Seligste Erlebungen hatten freilich auch die Pilger zur Kapelle mit dem Bild der schönen Maria in Regensburg, gegen das die Reformatoren und die Humanisten so polemisiert haben. Die damaligen Wallfahrer hatten sogar, folgt man Michael Ostendorffers Wallfahrts-Holzschnitt, ein religiös-ekstatisches Erlebnis. Aber das ist eben kein Selbstzweck, sondern kann durchaus irreführend sein wie Albrecht Dürer süffisant anmerkte:

„Dies Gespenst hat sich wider die heilige Schrift erhoben zu Regensburg und ist vom Bischof gestattet worden, zeitlichen Nutzens wegen nicht abgestellt. Gott helfe uns, dass wir seine werte Mutter nicht so verunehren,  sondern allein in Christi Jesu. Amen."

Wir sollten uns hüten, Erlebnisse als Zweck kirchlichen Handelns vorzugeben.

2 – Ich weiß auch nicht, was ein geistliches Erlebnis ist.
Ist das so etwas wie eine religiöse Erfahrung? Oder eben nicht doch ein synthetisch herbeigeführtes Ereignis? Wenn man „geistliches Erlebnis“ bei Google eingibt, meldet die Suchmaschine bei mir als ersten Treffer eine Fundstelle bei „holidaycheck.de“ unter der Überschrift „Reisetipp Papstaudienz“. Da schreibt dann ein User:

Ein geistliches Erlebnis
Wir waren in Rom von 16-21 Juni '13 und wollten unbedingt den Heiligen Vater Francesco erleben. Die Karten für die Generalaudienz sind zwar kostenlos, da wir aber gute Sitzplätze haben wollten, haben wir die Karten online bestellt (32 € p.P.). Es war ein eimaliges tief bewegendes Erlebnis mit hunderttausenden von Gläubigen aus der ganzen Welt.

Gut, das mag ein Zufall sein, aber vielleicht ist so etwas heute ein „geistliches Erlebnis“. Auf nach Wittenberg! Wir wollten Luther erleben und gute Sitzplätze haben, deshalb haben wir vorgebucht ... Es mag zur Papstkirche passen, aber kaum zum Protestantismus. Die spezifische Frömmigkeit des Protestantismus erreicht man so nicht.

3 – Und wie „eröffnet“ man ein geistliches Erlebnis?
Das kann doch nur heißen, man inszeniert etwas, um eine religiöse Bewegung auszulösen. Und was unterscheidet das von barocker gegenreformatorischer Theatralik? [„Soweit der Barock mit der Gegenreformation zusammengeht, ist ein Wille unverkennbar, der kein Kunstwollen war. Die der Kirche entlaufenden Massen sollten beeindruckt und wiedereingefangen werden.“ – Theodor W. Adorno].

Es geht ja nicht um die Durchführung von Gottesdiensten durch Kirchenführer. Auch nicht um das Abhalten von Unterrichtsstunden. Sondern um die Begegnung mit einem historischen, aber weiter in religiösem Gebrauch befindlichen Gebäude und seinen Artefakten. Museal im positiven Sinne (der intendierten Vergegenwärtigung historischer Ereignisse) ist alles an diesem Ort. Sonst müsste man schon die Thesentür entfernen, die doch nur Show-Charakter hat und wenig mit den historischen Ereignissen gemein. (Anders etwa als die Bernwardstüren und die Bernwardssäule in Hildesheim, die bis heute auch Teil öffentlicher Theologie sind.)

Selbstverständlich braucht man keine Kirchenführer, die über die Objekte, die sie zeigen, nicht Bescheid wissen. Aber das gilt auch für das Museum. Ein gutes Museum weckt Begeisterung für die Kunst. Insofern kann man nur hoffen, dass die Kirchenpädagogik wenigstens ansatzweise an die Qualität heutiger Kunstmuseen herankommt. Dort wird für Junge und Alte eine Vermittlungsarbeit geleistet, die ich in einer Kirche noch nicht erlebt habe.


Notabene: Der Teaser zum gerade zitierten Text auf evangelisch.de mit der prägnanten Überschrift „Thesentür und Luthergrab. Die Schlosskirche bereitet sich auf den Reformationstourismus vor“ (so viel 'geistliches Erlebnis' muss sein) lautet übrigens:

Das ist etwas missverständlich formuliert. Ich hoffe, dass meine Lesart nicht zutrifft, aber ich lese es so, dass künftig nur noch zertifizierte Fachkräfte durch die Schlosskirche führen dürfen. Wenn das zuträfe, dann bitte ich doch darum, mir einmal zu erklären, wie das mit dem protestantischen Priestertum der Laien zusammenpasst. Dessen Witz war es doch gerade, nicht nur zertifizierten Priestern die Führung zu überlassen, sondern dem einzelnen Gläubigen zuzutrauen, eigene Annäherungen zu finden. Dieses Vertrauen scheint man am „Geburtshaus der Reformation“ verloren zu haben. Künftig sollen nur noch Insider den imaginierten oder auch realen Outsidern erläutern dürfen, was ein Altar ist, wie Protestanten ihn verstehen und nutzen und was die Schlosskirche zu Wittenberg von einem Museum unterscheidet. Als wenn die das wissen würden.

Theodor W. Adorno hat einmal geschrieben:

Der Ausdruck »museal« hat im Deutschen unfreundliche Farbe. Er bezeichnet Gegenstände, zu denen der Betrachter nicht mehr lebendig sich verhält und die selber absterben. Sie werden mehr aus historischer Rücksicht aufbewahrt als aus gegenwärtigem Bedürfnis. Museum und Mausoleum verbindet nicht bloß die phonetische Assoziation.

Das Problem ist – ein Mausoleum ist die Schlosskirche schon (Luthergrab). Zum Museum soll sie offenbar nicht werden (trotz Thesentür). Eine einfache Gemeindekirche kann sie nicht sein (Geburtshaus der Reformation). Was bleibt? Vermutlich nur das, was Adorno in den Minima Moralia unter dem schönen Titel „Tod der Unsterblichkeit“ so zusammengefasst hat:

Man nimmt das Bekanntwerden und damit gewissermaßen auch das Nachleben – denn was hätte in der durchorganisierten Gesellschaft Chance erinnert zu werden, was nicht schon bekannt wäre – in eigene Regie und kauft sich wie ehedem bei der Kirche so nun bei den Lakaien der Trusts die Anwartschaft auf Unsterblichkeit. Aber es ist kein Segen daran. Wie willkürliches Gedächtnis und spurlose Vergessenheit stets zusammengehörten, so führt die geplante Verfügung über Ruhm und Andenken unweigerlich ins Nichts, dessen Vorgeschmack schon am hektischen Wesen aller Zelebrität sich wahrnehmen läßt. Den Berühmten ist nicht wohl zumute. Sie machen sich zu Markenartikeln, sich selber fremd und unverständlich, als lebende Bilder ihrer selbst wie Tote. In der prätentiösen Sorge um ihren Nimbus vergeuden sie die sachliche Energie, die einzig fortzubestehen vermöchte. Die unmenschliche Gleichgültigkeit und Verachtung, die gefallenen Größen der Kulturindustrie sogleich zuteil wird, enthüllt die Wahrheit über ihren Ruhm, ohne daß doch jene, die daran teilzuhaben verschmähen, bessere Hoffnung auf die Nachwelt hegen dürften.

Dann doch lieber das Lob den Outsidern, auch wenn es in den Augen mancher Kirchenvertreter ein Lob der Torheit ist.

Grundsätzlich sollte aber auch in der evangelischen Kirche ein positiver Begriff des Museums kultiviert werden. Waren das noch Zeiten, als in Deutschland Kultur-Zeitschriften gegründet wurden, die den Titel „Deutsches Museum“ trugen und nicht nur Hauszeitschriften eines Museums oder des Museumsverbandes waren. Etwa das 1776 begründete „Deutsche Museum“ des Dichters Heinrich Christian Boie, in dem die kulturelle Elite Deutschlands schrieb. Oder das 1812 begründete „Deutsche Museum“ des Romantikers Friedrich Schlegel. Oder etwa „Deutsches Museum. Zeitschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben“, die von 1851 bis 1867 existierte. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie keinen pejorativen Begriff des Museums pflegen, sondern das Museum als Errungenschaft begreifen. Damals war man noch stolz darauf, im Museum zu stehen.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/106/am578.htm
© Andreas Mertin, 2017