Scheinbar Outsider – Das Spiel mit einem Klischee

Vorstellungen ausgewählter Videoclips XLIX

Andreas Mertin

Als ich mir überlegte, welche Videos bzw. welche Musikgruppe ich wohl für das Outsiderheft des Theomag vorstellen könnte, fiel mir eigentlich nur eine Gruppe ein, eine Ausnahmegruppe auf dem Markt – lokal/regional wie von ihrer Ästhetik. Sie erinnert mich in vielem an Arbeiten von Jean Dubuffet, jenem Hauptvertreter des Art Brut, der für Vieles, was wir heute als Outsider-Kunst bezeichnen, überhaupt erst einen Blick geschaffen hat.

Die Gruppe, von der ich spreche, ist „Die Antwoord“, eine 2009 gegründete Rap-Rave-Band. Ich greife zur Vorstellung der Gruppe der Einfachheit halber auf die Wikipedia zurück:

Die Antwoord bestehen aus den Mitgliedern Ninja (Rap / Gesang), Yolandi Visser (Rap / Gesang) und DJ Hi-Tek (Beats / DJing). Frontmann Ninja (Watkin Tudor Jones) ist in Südafrika ein bekannter Künstler, Musiker und Produzent und wechselte in der Vergangenheit mehrfach seine Bühnencharaktere. ... DJ Hi-Tek wird allgemein als drittes Mitglied der Gruppe bezeichnet, doch gibt es zwei Personen, die als DJ Hi-Tek in Frage kommen, vielleicht gibt es aber auch keine konkrete Person dazu. Die Gruppe mischt musikalische Elemente des Rap, Drum & Bass und Elektro mit Texten zwischen Sozialkritik und Satire, geschrieben auf Afrikaans, Xhosa und Englisch. Ihr Debütalbum $O$ erschien im Jahr 2009 auf der Webseite der Band. Als unterstützende Künstler wirkten unter anderem Jack Parow, Jaak Paarl (aka Jaak), Knoffel (aka Garlic Brown), Scallywag and Isaac Mutant mit. Die Gruppe bezeichnet ihre Musik als Zef, dies bedeutet auf Afrikaans umgangssprachlich in etwa „Hinterwäldler“ oder „Prolet“. Die Gruppe selbst versteht unter Zef die unbeschreibbare Mischung aus den verschiedensten südafrikanischen Kulturen, welche sie in ihrer Musik vereint. Im Stile amerikanischen Gangsterraps wird hier unter anderem vom Aus- und Aufstieg aus den sozialen Brennpunkten der südafrikanischen Vororte erzählt (Rich Bitch). Nachdem das Video Zef-Side im Internet in Blogs und sozialen Netzwerken für Aufsehen sorgte, produzierte die Gruppe mit dem Regisseur Rob Malpage zusammen das Video Enter the Ninja, welches Anfang 2010 mit vielen Klicks bei YouTube zu einem noch größeren viralen Hit wurde. In diesem Video tritt auch der 2011 verstorbene südafrikanische Künstler und DJ Leon Botha auf, der an Progerie litt.

Soweit die Wikipedia. Da im Artikel die zentralen Informationen zur Sängerin Yolandi Visser aus unerfindlichen Gründen unterschlagen werden, trage ich sie aus ihrem eigenen Wikipedia-Artikel nach:

Yolandi Visser (alternative Schreibweise ¥o-Landi Vi$$er; * 3. März 1984 als Anri du Toit in Port Alfred, Südafrika) ist eine südafrikanische Musikerin und Schauspielerin. Gemeinsam mit Watkin Tudor Jones ist sie Teil der Rap-Rave-Formation Die Antwoord. ... Im Dezember 2002 veröffentlichte sie mit der Formation The Constructus Corporation das Konzeptalbum The Ziggurat, das eine 88 Seiten lange Graphic Novel beinhaltete. Teil dieses Albums war ein CD-Rohling und eine Anleitung, um den zweiten Teil des Albums aus dem Internet zu laden und auf diese CD zu brennen. Die Formation löste sich nach der Veröffentlichung des Albums im Jahr 2003 wieder auf.

Ich bin vor Jahren durch einen Artikel in der Süddeutschen auf die Gruppe aufmerksam geworden, ein Text von Paul-Philipp Hanske unter dem schönen Titel „Alptraumhafter Kitsch. Soundtrack des White Trash“. Und er schrieb zu den Visualisierungen der Musik der Gruppe: „Die Videos von Die Antwoord changieren zwischen ausgestellter Peinlichkeit und hintergründiger Unheimlichkeit.“ Und angesichts der Tatsache, dass „Die Antwoord“ de facto ein Kunstprodukt und nicht ein Ghettogewächs ist, schreibt Hanske abschließend:

Dass dieses unbestreitbar attraktive Stück Pop nun nicht Ausdruck einer tatsächlichen Subkultur, sondern vielmehr von der Kulturindustrie ausgedacht ist, ist zwar eine schwere Kränkung für die Genie-Ästhetik des Independent-Pop. Aber man kann den Fall Die Antwoord auch positiv interpretieren. Zeigt sich doch darin, dass Pop vor allem eins ist: ein unberechenbares System.

Da ich an die Authentizität des Independent-Pop eh‘ nicht glaube, sondern so ziemlich alles im Musikbusiness für das Ergebnis von Strategien und ausgefeilten Konzepten, erfreue ich mich an dieser künstlerischen Strategie, im Spiel mit Outsider-Stereotypen neue Erfahrungen zu generieren. Letztlich besagt dieses Spiel aber auch, dass „Outsider“ inzwischen ein so marktfähiges Konzept ist, dass man damit Karrieren begründen kann.


Die Antwoord – Zef Side (02:24)

Schon das erste Video, mit dem die Gruppe im Netz öffentliche Aufmerksamkeit erzielte, spielt mit Klischees, mit geronnenem habituellem Verhalten der angeblichen Outsider, die ihre Geschichte erzählen und sich dem Publikum präsentieren. Das ist eine Mischung aus unsäglich peinlich und gekonnt. Man möchte glauben, hier würden sich wieder einige aus der schier unerschöpflichen Masse derer, die nach Aufmerksamkeit gieren, auf merkwürdige Weise zu profilieren suchen. Andererseits gibt es im Video keinen wirklichen Bruch, kein Abrutschen, es ist alles wirklich ‚dargestellt‘.

 


Die Antwoord – Enter the Ninja (05:12)

Noch wesentlich weiter geht die Gruppe in ihrem ersten Klassiker „Enter the Ninja“, der nicht nur von den Träumen eines Schulmädchens erzählt, sondern auch den südafrikanischen Künstler Leon Botha (1985-2011) vorstellt, der an Progerie litt.

Der Liedtext ist an selbstbezüglicher Dreistigkeit kaum zu überbieten: „Verdammt, das ist der coolste Song, den ich in meinem ganzen Leben gehört habe. Scheiß auf alle die gesagt haben, ich würde es nicht schaffen, sie sagten, ich sei ein Verlierer, sie sagten, ich sei ein Niemand, sie sagten, ich sei ein verdammter Psycho. Aber schaut mich jetzt an, alles im Internet, weltweit, 2009, hoch modern. Trete dem Ninja bei, Yo-Landi Vi$$er, DJ Hi-Tek, Die verdammte Antwoord“.

Im gleichen Jahr folgte noch ‘Evil boy’ dessen sexualisierte Sprache noch einmal zugespitzt die Outsider – Insider – Frage aufgriff. Das Video zu ihrem Lied Fok julle naaiers (Afrikaans für fickt euch ihr Ficker) aus dem Jahr 2011 ist deutlich stärker als Performance aufgebaut. Verschiedene Protagonisten treten vor der Kamera porträthaft auf, die bekannten Bandmitglieder sind zum Teil mit vermutlich allegorisch zu verstehenden Tieren (Schmetterlingen, Würmern, Skorpionen, Vogelspinnen) ausgestattet. Die Sprache ist wieder überzeichnet, wenig ausdifferenziert und klischeehaft. Das alles fügt sich aber durchaus zu einem stimmigen Bild des „klischeehaften Kitsch“.

  


Die Antwoord - Ritch bitch (02:56, 2011)

Das Stück “Ritch Bitch” spielt sehr ironisch mit allen Klischees des Gangster Rap. Das arme Mädchen aus der Vorstadt, das zur „reichen Schlampe“ aufsteigt:

  

„Ich war nicht immer eine reiche Schlampe. Ich war gewohnt, ein armes Mädchen zu sein. Rücksichtloses, geschändetes armes Mädchen. Ich war ein Opfer einer scheiß Situation. Im System festgesteckt. Mit keiner Scheiß-Unterstützung. Ich weiß, es klingt hart. ... Keine Butter auf meinem Brot. Kein kaltes Getränk, einfach nur Stroh. Aber dann spielte ich mein Spiel weiter. Wie als würde ich aufflammen. ... Zu all meinen Menschen. In einer schwierigen Situation. Kommt Gott näher. Kannst du das hören? Ich flowe vom Herzen. Fick die Oberklasse. Vorsicht, ich bin noch immer giftig.“

Aber, wie gesagt, dies alles ist eine Performance, nicht Ausdruck einer realen Outsider-Erfahrung. „Outsider“-Sein ist ein Etikett geworden mit dem man arbeiten kann. Oder es ironisieren und als Klischee behandeln. Ich vermute einmal, „Die Antwoord“ spricht beide an: die­jenigen, die ein Outsider-Gefühl musikalisch ausgedrückt sehen wollen. Und jene, die diesen Wunsch als Klischee durchschauen und in der Performance die gelungene Ironisierung feiern. Aber vielleicht ist das ja der Rezeption eines Jean Dubuffet nicht unähnlich, dessen Wirkungsgeschichte ja auch von dieser Ambivalenz getragen ist.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/106/am579.htm
© Andreas Mertin, 2017