Christian Wagner

Engagierter Dichter in Warmbronn um 1900

Burckhard Dücker

1. Einleitung

Im Wesentlichen hat der Dichter Christian Wagner (1835-1918) seine fundamentale Programmatik von der Notwendigkeit »der möglichsten Schonung alles Lebendigen« (Wagner 2013, 35) durch seine Erfahrungen als literarisch und intellektuell interessierter Kleinlandwirt entwickelt. Weil er mit bestimmten Erscheinungen seiner Zeit als Symptomen traditioneller, obrigkeitsorientierter Einstellungen nicht einverstanden ist, weil er immer wieder moralische, politische, kulturelle, soziale und ökologische Unordnung feststellt, etwa im Umgang mit Tieren (Haus-, Wildtieren und ›Ungeziefer‹), mit gesellschaftlichen Minderheiten oder mit dem Schutz natürlicher Ressourcen, aber auch im alltäglichen Umgang von Amtspersonen mit Bürgern, setzt er sich für die (Wieder-)Herstellung der Ordnung auf der Basis von Rationalität und Anerkennung gleicher Rechte für jeden Einzelnen ein. So kommuniziert er seine Diagnosen sozialer Missstände und möglicher Lösungsperspektiven öffentlich in literarischen Texten, gesellschaftskritischen Essays und Eingaben an kommunale Funktionsträger wie auch in privater Korrespondenz. Er exponiert sich, macht sich sichtbar als einer, der einer Situation, die von vielen, womöglich der Mehrheit, offenbar akzeptiert wird, nicht nur nicht zustimmen, sondern diese auch nicht hinnehmen kann. Indem er sich mit kritischem Gestus sichtbar macht, macht er sich zugleich zur öffentlichen Instanz und damit angreifbar.

Mit seinem Verzicht auf den Einsatz von Gift, Chemikalien und Fallen zur Bekämpfung von ›Schädlingen‹ auf seinen  landwirtschaftlichen Flächen begründet er seine Appelle an andere, es ihm gleich zu tun. So isoliert er sich in der bäuerlichen Sozialstruktur seines Dorfes sowohl durch seine (lebens-)reformorientierte Landwirtschaft, zu der für ihn auch die Anerkennung des Tierrechts mit der Ablehnung der menschlichen Interessen dienenden Unterscheidung von Nutztieren und Schädlingen bzw. Ungeziefer gehört, als auch durch seine literarischen Interessen, die ihm – gleichsam unvermeidlich – zahlreiche Kontakte zu lebensreformorientierten Schriftstellern und Intellektuellen (z. B. ›Friedrichshagener Kreis‹) verschaffen. In seiner programmatischen Schrift Neuer Glaube (1894), der er das Format des Katechismus gibt, fasst er seine Position zusammen.

Dass für ihn die kritische Einstellung gesellschaftlichen Defiziten gegenüber nicht verhandelbar ist, sagt er schon im Brief an Gustav Landauer vom 27. 8. 1899: »Alle besseren Menschen sind Protestler; sind Protestler von jeher gewesen, und nur der Unverstand findet im Publikum, in der vertrauten Mittelmäßigkeit so ausgiebig weiten Boden« (Wagner 2003, 79). Obwohl Wagner die Wörter ›sich engagieren‹ und ›Engagement‹ nicht verwendet, unterstellt er seine Texte wie seine landwirtschaftliche und gesellschaftliche Praxis der damit gemeinten sozial orientierten Programmatik individueller Verpflichtung, Verantwortung und Glaubwürdigkeit. Mehrmals bekennt er sich explizit zur Einheit sprachlichen und nichtsprachlichen Handelns, so im Brief an den Pfarrer Georg Finkbeiner vom 16.11.1889: »Denn wie ich schreibe und lehre, so lebe ich auch, und meine Lehre ist kein leeres Geschwätz« (Wagner 1980, 11). Im Brief vom 18.11.1902 an Magnus Schwantje (1877-1959), den späteren Gründer der ›Gesellschaft zur Förderung des Tierschutzes und verwandter Bestrebungen‹ (1907) heißt es: »Doch Wort und Tat muss zusammenstimmen« (Wagner-Schwantje 2002, 20). Als engagierter Dichter scheint Wagner auch dem Muster des mündigen Bürgers zu entsprechen.

Ich gebe zunächst einige Hinweise zur Wortgeschichte und Bedeutung von Engagement, zum Begriff ›engagierte Literatur‹ und stelle danach Beispiele von Wagners Engagement vor. 

2. Zu Wortgeschichte und Bedeutung von Engagement / ›engagierte Literatur‹

Im Deutschen ist Engagement ein Fremdwort,[1] das aus dem Französischen übernommen und in allen Bereichen der öffentlichen Kommunikation gegenwärtig ist. Es gibt wohl kaum jemanden, der es nicht versteht. Man findet ›Engagement / engagiert / sich engagieren‹ in allen Massenmedien in sämtlichen thematischen Feldern. Auffällig ist, dass die Wörter zwar inhaltlich nicht eindeutig bestimmt sind, dass sie aber je nach Kontext durchgehend eine besondere Intensität, Persistenz, Dynamik, Einsatzbereitschaft in Bezug auf Einstellung und Handeln von Personen bezeichnen, die sich in aller Regel für die Modifikation (z.B. Bestätigung, Veränderung, Genese sozialer Aufmerksamkeit) von Zuständen, Situationen, Traditionen usw. einsetzen. Wie von selbst ergibt sich daraus die Erwartung, dass eine Sache, die mit Engagement betrieben wird, günstigere Erfolgschancen hat als eine, deren Durchsetzungsprozess ohne Engagement des oder der Handelnden erfolgt. So ergibt sich der Befund, dass Engagement in der öffentlichen Sprache vor allem Formen veränderungsbezogenen Handelns bezeichnet. Grundsätzlich kann es mit beliebigen Sachreferenzen verbunden werden, weil es prioritär um das Wie, nicht um das Was geht.

Der Begriff ›engagierte Literatur‹ ist nach dem Zweiten Weltkrieg im Rahmen der Rezeption des französischen Existentialismus aus Jean-Paul Sartres Handlungskonzeption der ›littérature engagée‹ entlehnt worden, die er in seinem programmatischen Text Qu'est-ce que la littérature? (Was ist Literatur?, 1947) entwickelt und in seiner Zeitschrift Les Temps modernes ausgeführt hat. Daraus ergibt sich als bis heute aktuell gebliebene Bedeutung von ›sich engagieren‹, dass Worte als Handlungen gelten, mit denen der Sprecher etwas Bestimmtes erreichen will. Wer sich für etwas engagiert, ergreift Partei, ist nicht neutral. Zum Konzept Engagement gehört die Dimension der Selbstreflexion des Autors auf die soziale Funktion seines Schreibens, so dass in der Öffentlichkeit Verlautbarungen – vor allem – engagierter Autoren zu gesellschaftlichen Fragen erwartet werden. Max Frischs viel zitierter Satz »Engagement – Warum hat die deutsche Literatur dafür nur ein Fremdwort?« zeigt die Unverzichtbarkeit des Begriffs für die deutschsprachige Literatur nach 1945.

Als Subjekt kommt nur eine Person, kein Text oder künstlerisches Objekt in Frage, was sich in Aussagen wie ›Ich/wir engagiere/n mich/uns für xy dadurch, dass ich/wir diesen Roman, (offenen) Brief, dieses Drama schreibe/n‹ usw. zeigt. Sich literarisch zugunsten eines bestimmten Ziels zu engagieren, ist mit dem Anspruch ausgestattet, zur Lösung eines öffentlichen Problems, Defizits oder Konflikts beizutragen. Wird ›sich engagieren‹ in der ersten Person Singular oder Plural im Präsens verwendet, so wird eine sprachliche Handlung vollzogen. ›Sich engagieren‹ gehört zur Klasse der performativen Verben wie taufen, schwören, anklagen, verurteilen, ernennen usw. mit denen eine Handlung ausgeführt wird, wenn ein dazu Legitimerter wie ein Pfarrer, ein Zeuge vor Gericht, ein Richter usw. sie ausspricht. Zu untersuchen sind die Aktivitäten des engagierten Schriftstellers in und zu seinem gesellschaftlichen Umfeld.

Wortgeschichtlich belegt ist Engagement im Deutschen seit dem 17., im Französischen seit dem 12. Jahrhundert. Das französische Verb ›engager‹ ist eine Ableitung vom präpositionalen Ausdruck ›mettre en gage‹ und bedeutet ›verpfänden‹. Im Altfranzösischen sind außerdem belegt ›engagëor‹ = der auf Pfand verleiht und ›engagerie, engagîure‹, die beide Verpfändung bzw. die verpfändete Sache bezeichnen (vgl. Tobler/Lommatzsch 1954, Sp. 369). Diese ökonomisch-juristische Bedeutung haben engagement und engager von ihrem Etymon ›gage‹ übernommen, das auf ein fränkisches Grundwort ›*waddi‹ zurückgeht, das Einsatz bedeutet. Im Deutschen entwickelt sich ›*waddi‹ über die mhd. Formen ›wette, wete, wet‹ zu nhd. ›Wette‹. Mhd. ›wette‹ ist ein zentraler Begriff der Rechtsauffassung und Rechtsprechung und bedeutet »Wette, Pfandvertrag, Rechtsverbindlichkeit, Gesetz; bes. der Einsatz, Preis eines Wettspiels« (Lexer 1878, 808). Die Wette wird durch ein ›phant‹ besiegelt und damit rechtsgültig. Für unseren Zusammenhang ist wichtig, dass aus dem Pfandvertrag für den Pfandgeber die Orientierung seines Verhaltens an den Ansprüchen des Gläubigers oder der Instanz folgt, der er den Eid geleistet hat. Die Bürgschaft mit Wort und Ehre greift weiter als die Verpfändung von Sachgütern, sie verlangt die Übereinstimmung von Wort und Tat, d.h. es kommt nicht allein auf die materielle Erfüllung der ›wette‹ an, sondern ebenso auf die verwendeten Mittel. Daher heiligt der Zweck nur noch jene Mittel, die die Integrität des Handlungssubjekts nicht beschädigen. Es geht nun primär nicht mehr um ein juristisches, sondern um ein moralisches und politisches Problem.

Als Erstbeleg des Verbs ›sich engagieren‹ im Deutschen gilt eine Stelle in den Monatsgesprächen (1688) von Christian Thomasius. Vier Reisende unterhalten sich über die  Darstellung europäischer Staaten im Mercure historique. Der Autor kritisiert den schwedischen und den dänischen König, weil »jener sich bey den Kayser/dieser/aber bey Franckreich allzusehr engagiert habe ...« (Thomasius 1972, 75). ›Sich engagieren‹ bezeichnet hier politische Parteinahme dadurch, dass der schwedische und der dänische König ihren Partnern ihr Wort verpfändet, damit deren Perspektive übernommen und aus Vorteilserwartungen z.T. auf die eigene Souveränität verzichtet hätten. Wer sich engagiert, will etwas verändern, etwas Bestimmtes erreichen. Insgesamt ist die Intention, durch Sprache etwas erreichen zu wollen, nicht neu. Horaz erklärt aut prodesse aut delectare volunt poetae, d.h. die Dichter wollen nützen und unterhalten. Auch die klassische Rhetorik (ars rhetorica) und die öffentliche Beredsamkeit (ars oratoria) setzen auf die Wirkungsdimensionen docere (Belehrung), movere (Affekterregung, Appell, Überzeugung) und delectare (Unterhaltung).

3. Wofür Wagner sich engagiert

Am 28. Januar 1901 schreibt Wagner »An den Schultheiß von Magstadt: Hochgeehrter Herr Schultheiß! Ich erlaube mir, mit einer Vorstellung zu Ihnen zu kommen, einer Vorstellung, die nur vom Rahmen des echt Menschlichen aus voll zu verstehen ist, und bitte um freundliches Gehör«. In dieser Einleitung kündigt Wagner dem Schultheiß einen Vorschlag an, der seiner individuellen Einstellung entstammt, aber nur im sozialen Rahmen verständlich wird, Wagner will keine persönlichen Vorteile. Er beginnt mit der Diagnose eines Defizits:

Es ist mir stets aufgefallen, dass ich bei meinen vielen Wanderungen durch den Magstadter Wald, Wanderungen zum Zweck landschaftlicher Studien in poetischer Form, fast gar keinen Vogelgesang zu hören bekam. Und zwar gerade in bester Zeit, Frühling und Sommer. – Woher kommt nun diese Entvölkerung? Dieses Verschwinden dieser so lieben Singvögel? Dieser nützlichen Insektenfresser, wo über Raupenfraß so viel geklagt wird? – Die paar Holzsammler tuns nicht, auch die Fuhrleute tuns nicht – nein, das können nur Jäger tun, und zwar solche, die im Besitz eines Jagdscheins brutal im Walde herumstrolchen und sich für privilegiert dünken, alles, was vor ihre Büchse kommt, niederzuknallen. Zum Zeitvertreib, oder um ihre Treffsicherheit zu erproben. –  [...]

Ein solcher Schießheld scheint mir der gegenwärtige Pächter der Magstadter Jagd zu sein. Ich kenne ihn nicht persönlich, und deshalb ist auch meine Entrüstung gegen ihn nur die des Anwalts zertretenen Lebens. […] Ich bitte Sie nun im Namen der Menschlichkeit, dessen Anwalt, des Bundes für Vogelschutz, dessen Ehrenmitglied ich bin, dahin wirken zu wollen, dass Obgenanntem sein Patent entzogen werde. Dass der Friede des Waldes gewahrt werde gegenüber Mordbuben. – Ich selbst würde den Vorwurf versäumter Pflicht lebenslang an mir herumtragen, wenn ich nicht die ganze Wut des Unwillens über das vergossene Blut in allen bessern Menschen »als zur Fahne« herausforderte. (Wagner 2014, 1/15)[2]

In drei Texten macht Wagner seine Einstellung zur Singvogeljagd publik und hofft darauf, dass sein Auslegungsangebot angenommen und die Wirklichkeit entsprechend umgestaltet werde. Damit entspricht er der Struktur engagierten Handelns, nämlich die individuelle Perspektive als Möglichkeit, nicht als absolute Wahrheit der Öffentlichkeit zur Wirklichkeitsgestaltung anzubieten. Mit der sprachlichen Handlung seiner Eingabe verändert Wagner die gegebene Situation: Zwar gibt er mit dem Hinweis auf die »Entvölkerung« eine subjektive Wahrnehmung und Deutung weiter, dennoch spricht er nicht im eigenen Namen, sondern in dem der ›Menschlichkeit‹ und des ›Bundes für Vogelschutz‹ als »Anwalt zertretenen Lebens«. Er appelliert an den Schultheiß, die   Singvogeljagd zu verbieten, d.h. seine [Wagners] Diagnose in amtliches Handeln umzusetzen. Obwohl durch die Eingabe noch kein Singvogel geschützt oder gerettet ist, hat sich die Situation insofern verändert, als nun eine Idee in der Welt ist, zu der man sich von Amts wegen in Magstadt verhalten muss. Über den Schultheiß als direkten Adressaten seiner »Vorstellung« hinaus, wendet er sich mit diesem öffentlichen oder offenen Brief an die regionale Öffentlichkeit, um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, worauf z.T. mit heftigen Gegendarstellungen reagiert wird (vgl. Kommentar Kuhn 49-52). Weil seine »Vorstellung« den »Rahmen des echt Menschlichen« erschließe, beansprucht Wagner dafür den Geltungsmodus als soziale Handlung.

Im sozialen Leben diagnostiziert Wagner »als Hauptfehler von schlechten Zuständen […] die Pöbelhaftigkeit, die Bedientenhaftigkeit, den Knechtssinn« bei seinen Mitmenschen »in der frommen Umgebung der Pietistenstädtlein Leonberg und Korntal«. Gemeint sind damit rücksichtsloser Egoismus als »Pöbelhaftigkeit des Reichen und Vornehmen, der sich kein Gewissen daraus macht, Armen, natürlich in Form des Rechts, ihr bisschen Habe wegzunehmen, […] in adeligem Rennsport edle Pferde in den Tod zu hetzen, in vornehmem Jagdsport harmlose Tiere des Waldes […] aus bloßem Vergnügen erbarmungslos niederzuknallen«. Komplementär dazu stellt er bei Angehörigen unterer sozialer Schichten grenzenlose Korrumpierbarkeit sogar auf Kosten der eigenen Familie fest. Das Verhalten des »vornehmen Pöbels« sei nur möglich, weil der »geringe Pöbel« dieses ermögliche. Hier findet Wagner einen historischen Vergleich: »Philipp II von Spanien zum Beispiel hätte mit seinen eigenen Armen nicht nach Antwerpen und Brüssel hinüber langen und dort etwa 18 000 Menschen hinmorden können, wenn er nicht nur einen großen, sondern Tausende kleiner Albas gehabt hätte. Das heißt mit anderen Worten: Büttel, Schergen, Häscher und Henkersknechte, die sich zu jeder Schandtat bereit finden ließen« (Wagner 2014, 5b/20). So entdeckt Wagner aufgrund seiner Leitkonzeption ›möglichste Schonung für alles Lebendige‹ geradezu weltgeschichtlich geltende Strukturen politischer Herrschaft. Überdies entlarvt er in seiner Umgebung eine grundsätzliche Differenz zwischen Sein und Schein. Veröffentlicht wird dieser Text in der in Friedrichshagen erscheinenden Zeitschrift Der arme Teufel (8.10.1904, vgl. Kommentar Kuhn 54/55).

Ungastliche Leute! – All ander Haus tagt ein christlicher Verein oder eine Missionsgesellschaft, und arme Handwerksburschen, fahrendes Volk, z.B. Zigeuner werden von Ort zu Ort gehetzt oder ins Loch gesteckt, wenn sie gebettelt haben. – Und ebenfalls arm geborene Menschen, die in ihrer Jugend häufig selbst gebettelt, schämen sich nicht, zu diesem Bütteldienst der Unbarmherzigkeit sich herzugeben. Im Altertum, wie selbst im Mittelalter noch war solches Tun ein verachtetes, jetzt bringt es zu Ansehen. […] Es ist die Pflicht und Aufgabe jedes besseren Menschen, diese Pöbelhaftigkeit zu bekämpfen. (Wagner 2014, 5a/19).

In einem eigenen, allerdings unveröffentlicht gebliebenen Text schreibt Wagner »Über die ›Ermordung‹ eines ›Zigeuners‹«, der »vielleicht gebettelt« habe oder dem »sonst eine Bagatelle« vorzuwerfen sei, was aber in keinem Fall seine »Ermordung« »durch einen Landjäger« rechtfertige. Für Wagner bestätigt dieses Ereignis wieder die soziale Unordnung »in Württemberg«. Denn die Tatsache, »dass sein Mörder nach Instruktion gehandelt, beruhigt das Rechts- und Billigkeitsgefühl des besseren Menschen nicht, im Gegenteil macht es die Sache noch widerlicher, noch hässlicher.« Er formuliert einen Appell zur Wiederherstellung der Ordnung: »Es wäre Pflicht jedes besseren Menschen, gegen solche barbarische Handlung Front zu machen und Rüge zu fordern« (Wagner 2014, 6/21). Schon am 13. August 1891 hatte Wagner sich erfolglos für eine gastliche Aufnahme reisender Zigeuner in Warmbronn mit einer Eingabe engagiert (vgl. Dücker 2011, 77). Desgleichen setzt er sich für italienische Gastarbeiter ein, die 1911 in Warmbronn zu Entwässerungsarbeiten eingesetzt waren und nach deren Beendigung neue Arbeitsmöglichkeiten suchten (Wagner 2014, 17/32).

Immer wieder geht es Wagner um die Schonung des Lebendigen, seien es Maikäfer, Wildtiere, Amphibien oder Haustiere, die vor der Schlachtung zu retten seien. In diesem Zusammenhang plädiert er als konkrete Lösungsmöglichkeit für weniger Fleischkonsum. Insgesamt aber geht es ihm um die Aufhebung der kultur- und sozialgeschichtlich legitimierten Unterscheidung »des Lebendigen in Nützlich oder Schädlich«, eine Zweiteilung, die einzig am Profitstreben orientiert sei und der »humanere[n], edlere[n], höhere[n] Auffassung des tierischen Lebens« in keiner Weise gerecht werde. Er schließt mit der mehrmals verwendeten, formelhaften Bilanz: »Denn besser: Ein barmherziger Heide als ein unbarmherziger Christ« (Wagner 2014, 18/32f.). Darin zeigt sich die selbstreflexive Positionsbestimmung im Unterschied zur unreflektierten Mehrheit. Am 9. Februar 1909 richtet er ein weiteres

Bittgesuch an das verehrliche Schultheißenamt und Gemeindekollegium. Noch eine weitere Bitte wage ich vorzubringen: Es würde mir sehr, sehr leid tun, so die prächtige Birkengruppe, das kleine Birkenwäldchen auf der untersten Ecke der früheren Schafweide dicht am Weg nach Magstadt dezimiert oder gar ausgetilgt würde. Um demselben seine weitere Existenz zu sichern, sonst aus keinem andern, andern Grund, bitte ich, mir dasselbe käuflich zu überlassen, um einen frommen Birkenkult darauf pflegen zu können. Auch würde es für fremde Besucher einen Anziehungspunkt bilden. – Im äußersten Fall, so es nicht kaufbar wäre, möchte ich es pachtweise übernehmen. Achtungsvollst Christian Wagner. (Wagner 2014, 14/30)

Wiederum ist es persönliche Betroffenheit, die Wagner veranlasst, sich öffentlich sichtbar zu machen. Die soziale Dimension seines Engagements zeigt sich sowohl im Hinweis auf die Erhaltung der Birkengruppe als seltenes Naturdenkmal als auch auf deren mögliche Vorteile für den  Fremdenverkehr in Warmbronn. Sein Appell hat keinen Erfolg (vgl. Kommentar Kuhn 70).

Neben seinem Engagement für die Schonung alles Lebendigen sind es vor allem sozialdiagnostische und -analytische Beobachtungen, die Wagner in kulturkritischen Alltagsreflexionen thematisiert. Enttäuschung und häufige Ohnmachtserfahrungen gegenüber Landjägern – »In Leonberg hat nur der Landjäger Geltung, und der Respekt vor einem Schreibersknechtlein reicht zu den Wolken« (Wagner 2014, 26/41) – und anderen Amtspersonen lassen ihn an der vollendeten göttlichen Schöpfung des Menschen zweifeln. »Es ist überhaupt ein Irrtum, dem Guten, Edlen und Schönen in unserer Zeit der Nützlichkeitkeitstendenz, abwägenden Klugheit eine Wertung beimessen zu wollen […] Da muss noch mancher Jesus geboren werden, um das anders zu machen. – Und die heutige Menschheit ist ja so fromm, so gehorsam, so säbelgehorsam, kadavergehorsam diesen Paragraphen gegenüber« (Wagner 2014, 25/40).  Am 11. März 1914 schreibt er: »Aber ich will solches noch hinausschreien, will es bekannt machen in meinem poetischen Testament«. (Wagner 2014, 26/41) Mit Beginn des Ersten Weltkriegs wendet er sich gegen Phänomene wie Militarismus,Verachtung der ›Feinde‹, Verlust des Menschseins und plädiert für Pazifismus.

Der Gestus des Engagements durch das Schreiben fiktionaler, aber auch, wie im Falle Wagners, nichtfiktionaler Texte, schließt einen außersprachlichen, situationskonkreten Bezug ein, nämlich auf den Zustand, dessen defizitäre Befindlichkeit die Handlung ›sich engagieren‹ motiviert hat. Insofern weist ›sich engagieren‹ oder wie bei Wagner eine »Vorstellung« öffentlich machen auf die Bedeutung des folgenden Textes für irgendeine Fachgeschichte hin, bei Wagner sind dies z.B. die Geschichte des Tierschutzes, des Vegetarismus, der Verfolgung der ›Zigeuner‹ oder die Geschichte des Antimilitarismus bzw. Pazifismus. Anhand jener Texte, die im Zusammenhang mit Wagners Engagement entstanden sind, kann sich eine Sozialgeschichte Warmbronns, aber auch die Geschichte der Lebensreformbewegung orientieren. Fand Wagner doch schon früh Zuspruch bei auswärtigen Lebensreformern, die ihn in Warmbronn besuchten oder mit ihm eine Korrespondenz unterhielten (vgl. Dücker 2004), während er im Dorf lange auf seine Anerkennung warten musste. In aller Regel gilt das Engagement Positionen relativer Schwäche, der Minderheit oder Unterlegenheit, auch der Opposition, nicht der Regierung. Konsequent zeigt sich Wagners Leitsatz von der Schonung alles Lebendigen auch in Ausprägungen seines Engagements, wenn er Tiere und Menschen gleichberechtigt beurteilt.

Wenn Wagner immer wieder betont, sich für das bedrohte Lebendige in jeglicher Form einzusetzen bzw. zu engagieren und dabei die Einheit von sprachlichem und nichtsprachlichem Handeln, von Wort und Tat, einzuhalten, wenn er keine »Vorstellungen« zugunsten von Parteien oder herrschenden Interessen entwirft, dann entgeht er einer Gefahr, die Goethe am Beispiel des politischen Dichters benannt hat und der auch engagierte Schriftsteller der Zeit nach 1945 nicht immer entgangen sind. Im Gespräch mit Eckermann sagt Goethe kurz vor seinem Tod, Anfang März 1832: »Sowie ein Dichter politisch wirken will, muss er sich einer Partei hingeben; und sowie er dieses tut, ist er als Poet verloren; er muss seinem freien Geiste, seinem unbefangenen Überblick Lebewohl sagen und dagegen die Kappe der Borniertheit und des blinden Hasses über die Ohren ziehen« (Eckermann 1976, 509).

Wagner machte Ernst mit dem Schutz der ›Schädlinge‹, der Kritik an Jagd›lust‹ und der Autoritätsanmaßung der Landjäger. Eine Veröffentlichung seiner gesammelten Texte des Engagements, die als Ergänzungen seine literarischen Texten kommentieren, verhinderten Krieg und Alter. Sozial orientierte Leitgedanken und Intention seiner literarischen Texte, die ihn jahrelang in Warmbronn isolierten, fasst er zusammen:

Hatte ich doch in meinen Sonntagsgängen [Teile 1-3, 1885-1890] und Neuem Glauben [1894] für ein edles, schönes Menschentum das Banner erhoben, Liebe zur Heimatflur, Achtung, Rechtsanerkennung, Schonung der Tierwelt unablässig gepredigt, in den Weihgeschenken [1893] edlen Schönheitssinn zu wecken gesucht. – Bin später unsern einheimischen Sagen nachgegangen, sie teilweise aus dem Schutt gegraben und aufleben lassen. Alte Ruinen, Ringwälle neu belebt. – Alles umsonst! Kühl bis ins Herz hinein hielten sich die vornehmen Herren des Landstädtchens all meinen Dichtungen gegenüber. (Wagner 2014, 22/ 37)

Obwohl Wagner Zeit seines Lebens im Dorf lebte, kam die Welt dorthin, durch seine genauen Wahrnehmungen des Dorflebens gelang ihm die Erschließung historischer und womöglich kulturunspezifischer menschlicher Verhaltensweisen, die von Interessen der Macht und des Besitzes geleitet werden.

Literatur
  • Dücker, Burckhard: Theorie und Praxis des Engagements. Studien zur Geschichte eines literarisch-politischen Begriffs. Diss. Heidelberg 1978.
  • Dücker, Burckhard: »Doch Wort und Tat muss zusammenstimmen«. Kulturtransfer und Ritualisierung des Authentischen in der Literatur zu Beginn des 20. Jahrhunderts am Beispiel Christian Wagners. In: Kokorz, Gregor / Helga Mitterbauer (Hg.): Übergänge und Verflechtungen. Kulturelle Transfers in Europa. Bern 2004, 329-359.
  • Dücker, Burckhard: Ritualitätsformen von Gastlichkeit. In: Alois Wierlacher (Hg.): Gastlichkeit. Rahmenthema der Kulinaristik. Berlin 2011, 56- 81.
  • Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. München 1976.
  • Lexer, Mathias: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, Bd. III. Leipzig 1878.
  • Thomasius, Christian: Freimütige, lustige und ernsthafte, jedoch vernunftmäßige Gedanken oder Monatsgespräche über Allerhand, fürnehmlich aber neue Bücher, Bd. I., Jan. - Juni 1688. Frankfurt am Main 1972.
  • Tobler, Adolf / Erhard Lommatzsch: Altfranzösisches Wörterbuch, Bd. 3, E-F. Wiesbaden 1954.
  • Wagner, Christian / Georg Finkbeiner: Briefwechsel. In: Antwortsagend Fragesingend. Jahresschrift 1980 der Christian-Wagner-Gesellschaft e.V. Hg. von Harald Hepfer und Ulrich Keicher. Warmbronn 1980, 11-36.
  • Wagner, Christian / Magnus Schwantje: Doch Wort und Tat muss zusammenstimmen. Ein Briefwechsel 1902-1917. Hg. von Harald Hepfer und Jürgen Schweier. Warmbronn 2002.
  • Wagner, Christian: Eine Welt von einem Namenlosen. Lebenszeugnisse und Rezeption. Hg. von Ulrich Keicher. Göttingen 2003.
  • Wagner, Christian: Neuer Glaube. Hg. von Harald Hepfer. Warmbronn 2013 [1894].
  • Wagner, Christian: Schonung alles Lebendigen. Schriften aus dem Alltag 1901-1915. Hg., eingeleitet, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Axel Kuhn. Warmbronn 2014.
Anmerkungen

[1]   Für die Ausführungen zum Begriff Engagement stütze ich mich – z.T. wörtlich – auf meine Dissertation (Dücker 1978).

[2]   Die Zahlen beziehen sich auf die laufende Nummer des Beitrags/Seitenzahl.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/106/bud01.htm
© Burckhard Dücker, 2017