„Die Art und Weise zum Bild zu kommen ...“

Gespräch mit Lisa Inckmann

Karin Wendt


Wendt: Das Kunsthaus Kannen ist unter Deiner Leitung zu einem der wichtigsten Orte für Gegenwartskunst im Kontext der Psychiatrie geworden. Als Du hier vor 25 Jahren anfingst, sah es hier anders aus als heute. Aber es sah nicht nur anders aus, Du hast einmal gesagt, es war auch ein anderer Ort als die bis dahin vertrauten Orte für die Begegnung mit Kunst. Wie kann man sich das vorstellen, und was bedeutete das für Deine anfängliche Arbeit?

Inckmann: Zunächst war es rein räumlich ein anderer Ort: eine Gründerzeitvilla hier vorne auf dem Klinikgelände, dort „wo jetzt ein Alexianer Parkplatz ist“, wie der Künstler Robert Burda so schön auf einem Bild schreibt. Der Besucher musste durch den Vorgarten, die Treppe hoch und dann klingeln, es war verschlossener, geheimnisvoller; und es hatte zugleich eine intimere Atmosphäre, woran sich viele der früheren Besucher heute noch erinnern – man musste in gewisser Weise noch eine Schwelle übertreten. Was wir zeigten, war bis dahin nicht bekannt. Die Bilder lagen in den Mappen in den damaligen Bereichen der Ergo- und Kunsttherapie, die das Material noch wie ein geschlossenes Magazin führten. Man wusste zwar, dass Psychiatrien eigene Sammlungen haben, aber sie waren eng mit der Psychiatrie und mit einem therapeutischen Blick verbunden, eigentlich noch bis in die 70er Jahre. Ein Startpunkt, das Bildmaterial im Alexianer-Krankenhaus zu sichten und zu sammeln, war 1990 der Kongress „Kunst und Psychiatrie“[1] in Münster zum Stand der kreativen Therapie in Deutschland und den Niederlanden. Auf einer unserer ersten Tagungen im Jahr 2000 ging es denn auch um das Verhältnis von Kunsttherapie und freien Ateliers.[2]

Worauf ich von Anfang an hingewirkt habe, ist, dass unsere Sammlung ein öffentlicher Raum wurde, seit 1996 mit Namenszug und Logo auf einer weißen Fahne und vor allem mit festen Öffnungszeiten für die Besucher. Wir haben dann bald auch außerhalb des Kunsthauses ausgestellt. Nachdem die Villa abgerissen wurde, arbeiten wir nun seit gut siebzehn Jahren in diesem schönen Neubau, in den man einfach eintreten kann – wie eine helle Glasvitrine in einem Park mit alten Bäumen, die schon von weitem diese Offenheit auch architektonisch sichtbar macht.

Wendt: Das Kunsthaus Kannen ist heute ein Museum für Gegenwartskunst im Bereich Outsider Art, das künstlerische Praxis mit künstlerischer Vermittlung verbindet: Es gibt offene Ateliers mit festen Plätzen für die Künstler, eine große Ausstellungshalle und einen Galeriebereich, das Archiv, eine Präsenzbibliothek und einen Museumsshop. Die Sammlung, die aus der Atelierarbeit der vergangenen Jahrzehnte heraus entstanden ist und weiter wächst, wird in Ausstellungen zusammen mit anderer zeitgenössischer Kunst gezeigt. Würdest Du sagen, dass das Kunsthaus trotzdem ein besonderer Ort geblieben ist?

Inckmann: Ja, es ist nach wie vor ein besonderer Ort, weil es auf dem historischen Gelände einer Psychiatrie liegt. Ende des 19. Jahrhunderts erwarben die Alexianerbrüder das Land am südlichen Stadtrand von Münster und richteten hier eine Pflege- und Heilanstalt ein.[3] Als wir das Kunsthaus 2000 neu eröffneten, gab es dann auch die Diskussion, „warum geht ihr nicht in die Stadt?“, die Alexianer haben ja viele Gebäude in der Stadt gekauft, gemietet oder gebaut. Ich finde es aber nach wie vor gut, dass unser Haus hier steht und nicht losgelöst von der Psychiatrie, weder vom historischen Ort noch von der Gegenwart. Es ist ein Ort, zu dem man sich hinbewegen muss, diesen Akt zur Kunst hin finde ich gut. Vor zwanzig Jahren gab es auch die Idee, dass etwas erst Kunst ist, wenn es im Museum hängt. Mit dieser Vorstellung „spielt“ das Kunsthaus, indem es die Atmosphäre, aus der heraus es entstanden ist, für jemanden, der sensibel ist, vermittelt, mit reflektiert. Das Kunsthaus auf dem alten Gelände mit den historischen Gebäuden rund um den ehemaligen Wasserturm zu belassen, war in gewisser Weise auch ein Vor-Zeichen für die nachfolgende Öffnung des gesamten Geländes, das heute ein moderner Campus ist mit Kliniken, Werkstätten, Sinnespark, Kirche, Café und Hotel. Wer das möchte, kann sich hier also auch mit dem Thema Psychiatrie und mit der heutigen modernen Psychiatrie beschäftigen.

Das Kunsthaus selbst ist zudem ein besonderer Ort, weil es sehr transparent, sehr offen ist. Die Büros sind verglast, und auch der Atelierbereich ist für den Museumsbesucher einsehbar. Die Kunstvermittlung, die Kommunikation liegt sozusagen auf der Hand.

Robert Burda - © Kunsthaus Kannen, Fotograf: Ralf Emmerich


Wendt:
Du selbst kommst ja aus der Kunst, dem künstlerischen Design und der Bühnenbildnerei. In Deiner jetzigen Tätigkeit bindest Du gezielt auch immer wieder professionelle Künstler ein, in Form von Projekten, aus denen heraus dann gemeinschaftliche Ausstellungen entstehen. Wenn Du kuratierst, ist mein Eindruck, dass es Dein Anliegen und auch ein Anspruch ist, die Arbeiten aus dem Kunsthaus um ihrer selbst willen zu zeigen. Wenn Du sie zusammen mit denen anderer Künstler präsentierst, dann so, dass sie sich wechselseitig erhellen und auf Augenhöhe zur Geltung kommen. Wie würdest Du Deinen kuratorischen Ansatz beschreiben? Hast Du so etwas wie ein kuratorisches Ethos?

Inckmann: Mich hat von Anfang an vor allem anderen die Bildsprache interessiert. Ich komme ja nicht aus der eigentlichen Museumslandschaft, mein Werdegang hat sich aus der Projektarbeit ergeben und ich gehe von der eigenen Kunsterfahrung aus. Schon während der ersten Jahre, in denen ich mich eigentlich nur mit der Sammlung und ihrer ersten Veröffentlichung[4] beschäftigt habe, habe ich die Bilder wieder und wieder angesehen, und mir fiel auf, wie nahe sie kulturgeschichtlich an der jeweiligen Zeit sind. Wenn man zurückblickt etwa auf die Bilder der Prinzhorn-Sammlung und diese mit der Kunst ihrer Zeit vergleicht, dann fällt halt auf, dass Ende des 19. Jahrhunderts Maschinen so eine große Rolle spielten – vergleichbar sehen wir heute Arbeiten wie die von Hans-Georg Kastilan, der Kürzel und Zeichen für Gedankenreisen erfindet, oder von Alfred Olschewski, der nur die Farbflächen nebeneinander setzt. Solche minimalistischen Bilder findet man eben auch in der zeitgenössischen Kunst. Mich interessiert, wenn Künstler zu ähnlichen Bildsprachen kommen, so dass man unmittelbar in das Bild hineinkommt.

Eine Ausstellung, die ich gerne gemacht habe, ist zum Beispiel „Jeden Tag eine Linie[5] zusammen mit zeitgenössischen Zeichnern. Dorothee Rocke hat damals für Fritz Tobergte, der auf einer langen Tapetenrolle seine Bilderschrift zeichnete, jeden Tag eine Zeichnung gemacht. Sie hat zeichnerisch auf seine Zeichnung geantwortet. Da entsteht dann etwas, was sich an dem Bild festmachen lässt, wo man einfach beim Bild bleibt; wo es um die Art und Weise geht, zu dem Bild zu kommen. Ja, das interessiert mich am meisten, die Art und Weise, zum Bild zu kommen.

Es gibt aber auch stärker thematisch ausgerichtete Ausstellungen oder jene, die wir von anderen Häusern übernehmen. Aber wenn ich selber kuratiere, interessiert mich schon die Herangehensweise an das Bild, sei es die Linie, die Aussprache oder das Minimalistische, wo nur noch die Zeichnung oder die Zeichenspur vorhanden ist.

Helmut Feder - © Kunsthaus Kannen, Fotograf: Ralf Emmerich


Wendt: In einem früheren Interview hast Du einmal gesagt, dass Dich die künstlerischen Arbeiten von Menschen mit eigenen Psychiatrieerfahrungen von Anfang an besonders angezogen haben. Könntest Du das noch einmal näher fassen?

Inckmann: Mich reizt der Sog eines Bildes. Wir sehen eine Fülle von Bildern, die in diesen, sagen wir einmal, Kunstwerkstätten entstehen oder auch in der Kunsttherapie, das Spektrum ist ja weit. Sobald es aber zu einer Bildsprache kommt, die eigen ist – das haben etablierte Künstler auch – dann interessiert mich das. Wir sehen ebenso viele Bilder, bei denen das Ziel, ein Produkt zu machen, so im Vordergrund steht, dass es mich nicht mehr interessiert.

Vielleicht kann man aber auch sagen, dass wir hier sehr ruhig arbeiten können, weil wir nicht so stark in diesem Markt bestehen oder ihn beherrschen müssen, weil das Kunsthaus von den Alexianern als Träger stärker in der Vermittlung gesehen und weniger an den Besucherzahlen gemessen wird. Wir haben hier aber auch Künstler, die sich gar nicht behaupten wollen. Nimmt man zum Beispiel Stephan Meishner, von dem wir beide sagen, das ist ein guter Künstler, dessen Bilder eine eigene Spannung und Ironie besitzen. Er hat sich entschieden, nicht mehr ausstellen.

Wendt: Ja, da erfährt man selbst auch eine Grenze, die man achten muss. Was zeichnet eine künstlerische Begleitung im Unterschied zu einer sozialen oder sozialpädagogischen Begleitung aus?

Alfred Olschewski - © Kunsthaus Kannen, Fotograf: Ralf Emmerich


Inckmann: Wir haben hier mit verschiedenen Gruppen von Menschen zu tun. Einmal Bewohner mit einer psychisch labilen Konstellation und zum anderen Menschen mit geistiger Behinderung, die durch ihre Selbstständigkeit die Atelierarbeit suchen und sich darin einfinden. Gegenwärtig sind es in den Ateliers etwa vierzig Personen, die Thomas Schwarm (Kunsttherapeut) oder ich künstlerisch begleiten – heute sagt man eigentlich assistieren. Es ist eine Art Künstlerassistenz. Manchmal ist es nur der Rhythmus, die Arbeitsfläche und das Material. Wir werden beispielsweise einem Alfred Olschewski nicht in die Zeichnung hineinreden. Durch die Struktur des Hauses ist es ihm möglich, einen Rhythmus finden, regelmäßig daran zu arbeiten. Wenn er allein leben würde, würde er in diesen Rhythmus wahrscheinlich nicht hineinfinden. Oder nehmen wir Robert Burda, der sicher schon über fünfzig Jahre lang malt und zeichnet; er hat das in seinem Elternhaus so gelernt. Dem geht man dann einfach nach und bietet ihm täglich die Zeit und den Raum dafür. Oder sehen wir Klaus Mücke, der hierher kommt, seit es das Kunsthaus gibt, auch samstags und sonntags. Zur Zeit zeichnet er jeden Tag das Bild einer „Frau Blume“. Für ihn ist entscheidend, dass das Haus geöffnet ist, dass er an seinen Atelierplatz kann und sein Zeichenpapier hat. Er kommt vielleicht zu einem, wenn der Stift angespitzt werden muss – aber auch das nimmt er eigentlich eher als Kontakt. Was ist es also? Vielleicht ist der Raum die eigentliche Begleitung – die Situation und der Ort.

Es gibt natürlich auch andere Bewohner, mit denen man in kleinen Gruppen arbeitet wie Jörg Lohmann (Ergotherapeut). Da geht es dann stärker um eine handwerkliche Unterstützung, die Anleitung in verschiedenen Techniken und Materialien, oder einfach um die Ermunterung etwas zu gestalten. Dennoch ist auch da das Ergebnis nie gleichförmig, sondern schon sehr individuell. Man kann durch bestimmte Vorgaben Gestaltungsergebnisse vorwegnehmen. Das machen wir hier aber nicht.

Hans-Werner Padberg - © Kunsthaus Kannen, Fotograf: Ralf Emmerich


Wendt: Euer Interesse ist es also, ergebnisoffen zu arbeiten, konkret Raum anzubieten und im übertragenen Sinne auch den Freiraum zu geben?

Inckmann: Ja, aber auch zu fördern. Ein gutes Beispiel ist vielleicht Rosa Benzel, die sich lange und intensiv die Buntstifttechnik angeeignet hat. Sie zeichnet sehr schöne Tierdarstellungen, Pflanzenporträts und Gesichter wie das einer „Jägerin“. Jetzt hat sie gesagt, dass sie die Aquarelltechnik lernen möchte. Da ist eine deutliche Frage und ein Anliegen. Gerade bei Menschen, die psychisch labil sind, wird eine solche Unterstützung gefordert. Wir besuchen auch Museen oder die Kunstakademie, um uns Werke anzuschauen.

So einen Ausstellungsbesuch würden viele allein nicht schaffen. Vielleicht geht es darum, zu einem Kontakt nach außen zu ermutigen, gegen den Drang sich zurückzuziehen, indem man mitgeht. Das Spektrum der Förderung ist sehr weit. Es gibt auch Bewohner, die schreiben, Prosa und Gedichte. Sie haben mit Brigitte Thie (Poesietherapeutin) die Schreibgruppe Lichtblicke gegründet und treten auch in Lesungen auf.[6]



Wendt: Für mich ist das Kunsthaus auch ein Versuch, Gerechtigkeit herbeizuführen, nicht von oben, sondern sozusagen von unten, nicht auf theoretischem, sondern auf praktischem Weg. Es wird nicht gesagt, alle Menschen sind gleich und deshalb ist – letztlich – auch alles gleich gut, was Menschen irgendwie kreativ herstellen. Denn das stimmt nicht, und es entspricht eben auch nicht unserer Wahrnehmung. Im Kunsthaus schaut man dagegen umgekehrt darauf und stellt fest: Wir wissen nicht, wie Kunst entsteht. Wir wissen nicht einmal genau, was Kunst ist. Aber wir sehen, dass es einen spezifisch menschlichen Freiraum gibt, den Raum des Kreativen, des Spiels, des gestaltenden Experiments. Darin kann auch Kunst entstehen. Von diesem Freiraum und seinen Möglichkeiten darf ich, und noch entscheidender, kann ich, wie Christoph Menke sagt, gar keinen von vornherein ausschließen. Geht es für Dich auch um Gerechtigkeit?

Inckmann: Mein Anliegen bei all dem, was wir hier aufgebaut haben, ist es zu zeigen, dass es neben dieser ganzen Kunstwelt Menschen gibt, die auch schaffen. Nehmen wir Bernhard Pfitzner, der einmal die Woche kommt und mit den Papieren aus dem Papierkorb abstrakte Collagen fertigt – er tut es einfach! Oder sehen wir Klaus Mücke, er malt und zeichnet eben. Das hochzuhalten, darum geht es mir, zu zeigen, dass es da ist, damit es sich nicht verhuscht und versteckt – und das ohne dabei gleich die Werteskala von hoher und niedriger Kunst anzulegen. Und es genügt eben nicht wie noch zur Zeit der Prinzhorn-Sammlung zu sagen: „jaa, das sind Patientenarbeiten ...“ oder wie heute viele Kunsthistoriker von „Artefakten“ zu sprechen, nein – wenn man die Werke sieht, dann sieht man abstrakte Arbeiten, Faltungsarbeiten, Zeichnungen,  Objekte, genauso wie sie die Kunst unserer gegenwärtigen Kultur hervorbringt. Dennoch gibt es nur wenige Kuratoren, die den Mut haben, diese Arbeiten einzubeziehen. Ja, das ist, glaube ich, mein größtes Anliegen, das einfach vorzuhalten, es im kulturellen Gedächtnis zu halten.

Wendt: Der Kunsthistoriker Erich Franz betont in einem Aufsatz[7] über Arbeiten von Künstlern aus dem Kunsthaus Kannen die Eigenständigkeit des Sichtbaren. Er zitiert den Künstler Willi Baumeister, der in seinem Buch über „Das Unbekannte in der Kunst“ schreibt, Malerei sei „die Kunst des Sichtbarmachens von etwas, das durch sie erst sichtbar wird“. Geht es im Grunde um Sichtbarkeit?

Inckmann: Was mich fasziniert und auch immer wieder verblüfft (lacht ...), wenn ich sehe, dass das, was etwa Berni Pfitzner macht, der sicher nicht in ein Museum geht, eben überhaupt nicht fernzuhalten ist von dem, was in der zeitgenössischen Kunst passiert – das ist einfach bewegend, dass Menschen, die scheinbar abgeschlossen in der Psychiatrie oder in ihrer „eigenen Welt“ leben, mit dem, was kulturell passiert und mit der Entwicklung der Bildsprache ihrer Zeit mitgehen.

Bernhard Pfitzner - © Kunsthaus Kannen, Fotograf: Ralf Emmerich


Mich interessiert auch, wie sich das in den kommenden Jahren entwickeln wird. Wir haben inzwischen eine zweite und dritte Generation, die in Wohngemeinschaften in den umliegenden Gemeinden lebt, und es ist spannend zu sehen, wie sie ihr Surrounding verarbeiten, vor allem die neuen Medien, so wie Wilke Klees, der die klassische Zeichnung mit der Comicsprache verknüpft. Die veränderte Wohnsituation und das stärkere Eingebundensein in Arbeitswelten verlangt auch mehr Organisation und bedeutet im Gegenzug weniger Muße. Die Frage ist dann, bleibt da jemand am Ball? Ich frage mich schon manchmal, wird es in Zukunft noch diejenigen geben, die den Raum und die Muße haben, um ihre Kreativität zu entdecken, um ein Interesse daran zu entwickeln und sich dem dann auch zu widmen? Denn all das braucht die Kunst.

Karl Cornelius - © Kunsthaus Kannen, Fotograf: Ralf Emmerich


Wendt: Die heutige Sammlung des Kunsthauses umfasst mehr als 5000 Arbeiten von den 70er Jahren bis heute, und sie wächst – vielleicht etwas langsamer als zu Beginn – weiter. Schwerpunkt ist die Zeichnung, aber auch Malerei und Objekte. Man findet gegenständliche Positionen, ganz prominent Robert Burda, es gibt informelle Malerei von Josef König, abstrakt dichte Zeichnungen von Heinz Thomas oder von Matthias Stöppeler, poetische, hintergründige Werke wie das von Wolfgang Brandl oder auch ein so singuläres Werk wie das von Helmut Feder, das eine eigene Forschung wert wäre. Es gibt erhellende Aneignungen von Gemälden der klassischen Moderne von Muammer Savran oder die Bilder von Hans-Jürgen Fränzer, ein Werk wie ein Statement – um nur einige zu nennen. Es ist beeindruckend, was da vor unseren Augen liegt.

Inckmann: Ja, und was ich ja auch wichtig finde: Hier geht es nicht um drei, vier Bilder von einer Person, sondern es sind Œuvres – oder wie Kasper König sagt, ihn beeindruckt „die Masse“ – Friedrich Wilhelm Koch: 500 Arbeiten, Hans-Georg Kastilan: 600 Arbeiten – das alleine ist ein Standpunkt, eine Haltung, es ist kein Zufall. Es zeigt auch so etwas wie einen Zeittakt, oder wie Koch sagte, der jeden Tag zehn Blätter gezeichnet hat, „wir sind kleine Künstler, die sich mit den großen unterhalten“.

Wendt: Kulturhistorisch sind Museen Orte, an denen etwas, das für die Menschheit Bedeutung hat, für die Nachwelt bewahrt und reflektiert wird – Museen sind Reflexionsorte, wie Günter Grasskamp sagt. Die Sammlung des Kunsthauses Kannen ist eine Fortschreibung der Geschichte der frühen Sammlungen Dubuffet oder Prinzhorn, aber auch ihre Neuschreibung.

Inckmann: Ja, unsere Sammlung beginnt um 1970, sie steht damit – wie etwa Gugging in Österreich – historisch in einer Abfolge mit der Sammlung Prinzhorn. Zu Beginn stand die Sichtung, Ordnung und Archivierung im Vordergrund. Heute sind es zum einen nicht mehr so viele, die hierher finden, weil sich der Alltag verändert hat und mehr Betreuung bzw. Integrationsarbeit stattfindet. Wenn es die Arbeitsweise des Künstlers erlaubt, treffen wir mit Blick auf die Sammlung vielleicht zu einem früheren Zeitpunkt der künstlerischen Entwicklung eine ästhetische Auswahl. Es sind heute aber auch andere Menschen hier als die Generation, die aus dem Krieg kam wie Hans-Georg Kastilan oder Hans-Jürgen Fränzer, auch andere als die, die nach 1945 noch dauerhaft in die Psychiatrie kamen. Die Behandlungen haben sich geändert und viele von denen, die früher in der Psychiatrie lebten, müssen das heute nicht mehr. Andere sind zu krank, um sich überhaupt der Kunst widmen zu können. Von daher spiegelt unsere Sammlung einen Abschnitt der Psychiatriegeschichte wider.

Inzwischen gibt es natürlich aber auch Bestrebungen, dieses Feld anders zu erschließen, und es wird mit dem Label Outsider Art auch anders benannt. Da spielen meines Erachtens Kriterien eine Rolle, die eher den voyeuristischen Blick suchen, das Spektakuläre oder das Skurrile. Aus meiner Sicht geht es dabei oft darum, erneut Kategorien abzustecken und die Dinge einzuordnen. Große Ausstellungen wie etwa „Weltenwandler[8] zeigen die wichtigsten Arbeiten und Namen, die sich schon durch den Markt hindurchbewegt haben. Im Vergleich dazu ist unsere Sammlung stärker am langsamen Entstehungsprozess interessiert und unser Ausstellungskonzept mehr am Bild orientiert; vielleicht stellt das Kunsthaus nach wie vor eine eigene Haltung dar, die einer Vermarktung gegenüber widerständig bleibt.

Wobei man insgesamt sicher sagen muss, dass sich der ganze Hype um die Outsider Art inzwischen beruhigt hat und es eine Annäherung an den ersten Kunstmarkt gegeben hat. Vieles ist in den Häusern angekommen und wird nicht mehr als etwas Besonderes gesehen. Gleichwohl bleibt die Frage, ob das Wissen darum sich wirklich kulturell sedimentiert hat oder ob es nicht nur an der Oberfläche Angleichungen gegeben hat.

Wendt: Für eine Vernetzung aller Akteure, um das Thema zu diskutieren und ein Publikum zu schaffen, hast Du 2009 eines Deiner jüngsten Projekte ins Leben gerufen, das 2x2 Forum für Outsider Art[9]. Alle zwei Jahre lädt das Kunsthaus Aussteller, Künstler und Sammler aus ganz Europa ein. Wie wichtig ist Netzwerken im Bereich der Outsider Art heute?

Inckmann: Viele derer, die in dem Feld arbeiten, haben sich in den Städten, also vor Ort, eingefunden und professionalisiert. Sie müssen, nicht zuletzt durch das Internet, weniger reisen, um überhaupt Dinge zu sehen und zu erfahren, um sich auszutauschen und anregen zu lassen. Die Atmosphäre ist insgesamt vielleicht abgeklärter. Dennoch ist das Forum als Plattform und Diskussionstreffpunkt gefragt und gut besucht. Es kommt natürlich eine neue Generation, die wieder neue Konzepte erarbeiten wird, andere Fragen stellen und auch andere Antworten finden wird.


Weitere Angaben zu den Werken und Künstlern in: Das Kunsthaus Kannen Buch. Kunst der Gegenwart – Art Brut und Outsider Art, Alexianer GmbH (Hg.), Bielefeld: Kerber 2016.

Anmerkungen

[1]    Hendrikus van Andel / Wolfgang Pittrich (Hg.): Kunst und Psychiatrie. Kongress in Münster, 1.-5. Oktober 1990, Münster: Lit 1991.

[2]    Lisa Inckmann / Klaus Telger: Freies Atelier und Kunsttherapie in der Psychiatrie. Aktuelle Konzepte im Vergleich [Dokumentation der gleichnamigen Fachtagung]. Münster: Alexianer 2001.

[3]    Karin Feuerstein-Praßer: 800 Jahre Leidenschaft. Die Geschichte der Alexianer von den Anfängen bis zur Gegenwart, Ordensgemeinschaft der Alexianerbrüder (Hg.), Münster: Alexianer 2013.

[4]    Das Haus Kannen Buch. Bilder aus der Psychiatrie, Konzept und Realisierung Elisabeth Inckmann, Münster: Alexianer Krankenhaus 1994.

[5]    „Jeden Tag eine Linie“ (Paul Klee) – Art Brut und Zeichnung. Eine dialogische Ausstellung, Kunsthaus Kannen, Münster 2012.

[6]    „gedankenschwer und federleicht“. Texte, Gedichte und Zeichnungen aus der Psychiatrie. Mit Hör-CD, hg. v. Lisa Inckmann / Norbert Rath / Hanns Rüdiger Röttgers / Klaus Telger, Münster: Alexianer 2010.

[7]    Erich Franz: Momente visueller Intensität. Zu einigen Werken von Künstlern aus dem Kunsthaus Kannen, in: Lisa Inckmann / Karin Wendt: Das Kunsthaus Kannen Buch. Kunst der Gegenwart – Art Brut und Outsider Art, Alexianer Münster GmbH (Hg.), Bielefeld: Kerber 2016, S. 17-22.

[8]    Weltenwandler: Die Kunst der Outsider, Schirn Kunsthalle Frankfurt 2010.

[9]    2x2 Forum Outsider Art. Eine Dokumentation zu Kunstmesse, Vorträgen, Diskussionen und Workshops 2009/2011, Buch und DVD dtsch-engl., Kunsthaus Kannen, Münster: Alexianer 2012; 2x2 Forum Outsider Art 2013. A European Platform in Germany for Art Studios, Galleries, Museums and Art Projects, Kunsthaus Kannen, Münster: Alexianer 2013.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/106/kw76.htm
© Karin Wendt, 2017