06.04.2017 - Wenn sich rechte und linke Parolen nicht mehr unterscheiden
"Wir müssen wieder Verantwortung übernehmen und wie politische Subjekte handeln, anstatt das einfach den gewählten Vertretern zu überlassen" meint der Leiter der documenta 14 zur Eröffnung der Ausstellung in Athen. Das scheint mir gefährlich nahe an Pegida-Parolen zu sein. Wie handeln denn politische Subjekte, die nicht den von ihnen repräsentativ gewählten Vertretern das Handeln überlassen? Letztlich läuft es darauf hinaus, dem erklärten politischen Willen der Wähler zuwider zu handeln. Das wollen alle Totalitären - ob sie nun rechter oder linker Provenienz sind. Die kollektiven Energien, die sie entfesseln wollen, kann das Subjekt nur fürchten - es kommt nichts Gutes dabei heraus.
07.03.2017 - Liebe hoch 3
Vor einigen Jahren schrieb Markus Günther in der FAZ über die Ersatzreligion Liebe:
"der Mythos Liebe erfüllt ausnahmslos alle Kriterien einer Pseudoreligion: Diese höhere Macht verlangt Unterwerfung und verspricht im Gegenzug Erlösung und Heil. Sie duldet keine anderen Götter, verspricht den (siebten) Himmel und droht mit der Hölle des Alleinseins. Die höchsten Feiertage dieser Religion heißen Valentinstag, Hochzeitstag, Geburtstag. Wer sie nicht angemessen würdigt, wird mit Liebesentzug bestraft. Die Grundgebete: Ich liebe dich. Du bist mein ein und alles. Ich bin total verrückt nach dir. Die Sakramente: Zungenküsse, Sex. Das sakrale Erkennungszeichen: rotes Herz. Die Ikonen: Fotos von UNS. Der Altar, der Ort der Erlösung: das Bett. Die Hymnen: UNSERE Songs. Die Heilige Schrift: UNSERE Liebesbriefe. Und außerdem jedes herzerweichende Zitat, das dem Gott Liebe huldigt, vom kleinen Prinzen über Elton John bis zum Apostel Paulus."
Meine Kirche findet das gar nicht so ersatzmäßig, vielmehr reicht es ihr, wenn man irgendwie und irgendwann zwischen den Bergen bei den sieben Zwergen von der Ersatzreligion zur eigenen Religion kommt. Und sei es nur deshalb, weil die Kirche diese gesungene Ersatzreligion selbst vertreibt. Da schunkeln wir doch alle mit und sind uns ganz sicher, dass der gute alte Paulus vor 2000 Jahren den gleichen Schwachsinn auch geschunkelt hätte, wenn es damals schon CDs gegeben hätte. Na denn, Wumm-Tata-Wumm-Tata:
09.04.2017 - Das ist das Leben
Ich sitze im Moment im Hotelzimmer in Toledo, es ist Mitternacht. In dem Moment in dem ich diese Buchstaben tippe, schlägt die Uhr der Kathedrale 12 mal. Vom Hotelzimmer blicke ich auf die hell erleuchtete Kathedrale, ihren Turm und nicht weit davon entfernt die Kirche der Jesuiten. Dort waren wir auch beim abendlichen Spaziergang und haben den letzten Teil eines Konzertes zum Beginn der Heiligen Woche in Toledo gehört. Es ist Samstag Nacht, die Straßen dieser mittelalterlichen Stadt der vielen Kulturen ist voller junger Menschen, die leben und feiern. Auf der Dachterrasse des Hotels feiern mit Blick auf die Kathedrale viele junge Menschen ausgelassen. Auf der Seite zum Alkazar sitzt niemand. In der Stadt begegnen einem heute vor allem Spanier, die hier nicht nur wegen der Religion, sondern wegen der Kultur und der Feier des Lebens sind. Ich liege auf dem Bett, drehe den Kopf ein wenig weiter und blicke auf den über Jahrhunderte wuchernden Baukörper der Kathedrale. Im Stockwerk über mir singen die Leute auf der Dachterrasse ein Lied. Leben. Morgen werden wir in die Welt El Grecos eintauchen. Heute Abend aber fühle ich mich wie in einem Haschischtraum von Walter Benjamin. Die Turmuhr der Kathedrale schlägt 12:15. Gute Nacht. Ich gehe feiern.
10.04.2017 - El Greco und Toledo
Heute also: El Greco. Wir besuchen das kleine, aber feine El Greco Museum in Toledo. Nach dem Umbau ist es schöner und repräsentativer geworden. Die Phalanx der Jünger-Bilder weiterhin beeindruckend, die Charakterstudien der einzelnen Apostel bei aller Serialität der Bilder wirklich aller Aufmerksamkeit wert. Wir diskutieren über den Dämon, der auf dem Bild des heiligen Bartholomäus auftaucht und von dem niemand bisher etwas gehört hat. Hochinteressant. Dann bleiben wir an zwei Bildern hängen, die im Abstand von 25 Jahren gemalt wurden und dieselbe Person zeigen: Portrait of Diego de Covarrubias y Leiva. Was wir übersehen, das eine ältere Bild ist von einem anderen Künstler gemalt, der den Bischof noch lebend porträtierte, aber El Greco malt sein Bild 23 Jahre nach dessen Tod. und er benutzt das Bild seines Kollegen Coello als Vorlage. Aber er ändert den Charakter des Menschen. Er bekommt eine Art Rühmannsche Ironie. Im Grunde das gleiche Bild und doch ganz anders. Danach Besuch in den beiden alten Synagogen in Toledo und man wünschte sich, sie würden nicht nur der jüdischen Gemeinde zurückgegeben, sondern sich auch mit jüdischen Leben füllen. Dann schließlich die alte Moschee aus dem ersten Jahrtausend, die später eine Kirche wurde und immer noch Schriftzüge mit dem Lobpreis Allahs trägt. So könnte man miteinander ins Gespräch kommen. Zum Abschluss des Tages die Prozession zur Eröffnung der heiligen Woche in Toledo, dargestellt wird der Einzug Jesu in Jerusalem auf dem Esel. Es ist wirklich berührend. Die Prozession stoppt an einem Kloster, die Nonnen öffnen die Tür, es gibt Segenswünsche, die Nonnen winken und die Klostertüren schließen sich. Die Prozession zieht weiter. Abends wieder auf der Dachterrasse mit Blick auf die erleuchtete Kathedrale. Heute ist Toledo ruhiger, morgen müssen die Menschen arbeiten, trotz der Heiligen Woche. Gwrade hat die Turmuhr der Kathedrale zur Mitternacht geschlagen. Ich sitze jetzt wieder im Hotelzimmer und genießen den Blick auf die erleuchtete Kathedrale. Morgen steht die Kathedrale selbst und viel El Greco auf dem Programm, morgen Nacht zwei Prozession zur Gefangennahme Jesu. Dazu dann mehr im nächsten Post.
11.04.2017 - Kultureller Reichtum und Barbarei
Heute erlebten wir ein Beispiel für den kulturellen Reichtum der katholischen Religion. Der Besuch der Kathedrale von Toledo macht einem deutlich, welche Bedeutung diese Stadt einmal hatte, was sie alles in sich aufgesogen und inkorporiert hat. Und zugleich diese faszinierende Mischung aus Hochkultur und Trivialkitsch. Aber auch das ungute Gefühl, dass der Tourismus - zu dem wir natürlich auch gehören - alles entwertet.
Der Convento de Santo Domingo El Antiguo, den ich auf meinen bisherigen Toledo-Besuchen außen vor gelassen hatte, erwies sich als Schlüsselstadion für das Verstehen von El Greco. Quasi eine doppelte Visitenkarte als Michelangelo- und als Tiziankenner hat Greco hier hinterlassen. Zwei weiter Greco-Museen später dann die abendliche Prozession zur Heiligen Woche - dieses Mal von der Kathedrale ausgehend. Das Thema: Die Gefangennahme Jesu. Und mitten während dieser Prozession fühlte ich mich ganz schlecht und wäre am liebsten weggegangen. Nicht wegen der Prozession, die war überaus beeindruckend, sondern wegen der Fotografen, die mitten durch die Prozession wuselten. Es war eine Art Menetekel, man war Zeuge des Untergangs einer Kultur, die nur noch als Event überlebt. Vom Kultwert zum Ausstellungswert - aber welchen Preis zahlen wir dafür? Die Schauseite einer Religion allein ist nicht überlebensfähig. Die Menschen beten und ein Pulk von Fotografen wuselt um sie herum und wartet auf das geilste Foto. Wir vergegenwärtigen die Gefangennahme Jesu - aber es ist doch nur ein Anlass, auf den Auslöser der Digitalkamera zu drücken. Das ist Kultureller Reichtem und Barbarei Side by Side. Morgen Madrid, Goya, Goya und vielleicht ein wenig Ägypten.
14.04.2017 - Mona Lisa Overdrive
Heute also Madrid, das pulsierende Leben im Zentrum Spaniens. Wir fahren zum Grab von Francisco Goya und studieren das Deckengemälde. Lange zuvor hatten wir Goyas Geister gesehen samt der dortigen Darstellung der Komposition der Szene. Nun der Blick auf das Original. Aber was heißt hier Original? Ein interessantes Beispiel für das Kunstwerk im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit.
Die Basilica de San Francisco el Grande aus dem 18. Jahrhundert ist imposant, insbesondere das angeschlossene kleine Museum im Kreuzgang. Die Plaza Mayor hat uns dieses Mal nicht so beeindruckt, zu viel Tourismus und überall dieselben Gaukler.
19.04.2017 - Bilder, Bilder, Bilder
Drei große Museen an einem Tag. Das ist wirklich jenseits der Grenze dessen, was man sich zumuten / leisten sollte. Am Anfang stand das Museo Thyssen-Bornemisza mit seiner exzellenten Sammlung von Kunstwerken seit dem 14. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Unser Fokus lag auf der Kunst zwischen 1500 und 1800 und wir sind kaum durchgekommen, so reich ist die Sammlung. Das einzige, was uns geärgert hat, war der Umstand, dass der Museumswächter uns Gespräche vor den Bildern untersagen wollte. Wir standen zu dritt vor einem Bild des 15. Jahrhunderts und sprachen über einzelne Bildelemente, aber der Wächter meinte, das erfülle schon den Tatbestand der Führung. Auf diese Weise wird das Museum unter der Hand zur katholischen Kirche, in der nur die initiierten Priester den Heilsschatz vermitteln dürfen. Mit der Entwicklung der Kunst in der Neuzeit und Moderne ist das nicht kompatibel.
Im Prado dann natürlich Hieronymus Bosch und überraschender Weise hatte man zwischendurch immer wieder auch Freiräume vor seinem Werk. El Greco, der im Zentrum unserer Reise stand, war reichlich vertreten und man merkte, wie häufig dieser Künstler seine eigenen Motive wiederholt hat. Der Höhepunkt war für uns sicher Die Meninas von Velazquez, eine halbe Stunde haben wir uns gegönnt, diesem so faszinierenden und überraschenden Werk nachzugehen. Und zum Abschluss die schwarze Serie von Goya. Eigentlich bräuchte man allein für den Prado eine Woche Zeit.
Im Museo Sofia Reina war alles auf Picassos Guernica fokussiert. Gegenüber dem letzten Besuch galt nun ein absolutes Fotografierverbot, was der Wahrnehmung des Kunstwerks sehr gut tat. Letztes Mal drängelten sich lauter Selfie-Akrobaten vor dem Werk, dieses Mal war es deutlich entspannter. Zwei Stockwerke höher in der Sammlung zeitgenössischer Kunst war dann kaum noch jemand, so dass man Dubuffet, Tapies und viele andere konzentriert studieren konnte.
19.04.2017 - Semanta Sancta
Die Semana Santa in Toledo und Madrid war ebenso beeindruckend wie verstörend.Beeindruckend war die Konzentration der Teilnehmer der Prozession, insbesondere ist mir eine fast 5-stündige Prozession aus der Parroquia De Nuestra Señora Del Carmen Y San Luis in Erinnerung, bei der einige der Fackelträger barfuss liefen und die beteiligten Kinder am Ende wirklich völlig erschöpft waren, aber unbedingt weitermachen wollten. Fünf Stunden Prozession durch das nächtliche Madrid! Verstörend war die zunehmende Medialisierung des Ganzen, die mir vor allem in Madrid aufgefallen ist. Ein Meer von Smartphones, wenig Compassion. Ich bin mir sehr unsicher, wie man das bewerten soll. Subjektiv empfinde ich es als einen Verlust an Authentizität und Intensität. Aber vielleicht ist es eine zeitgenössische Form der Teilhabe.
20.04.2017 - Storia di un Burattino
Pinocchio ist eine überaus interessante Figur, weniger als fiktionale Darstellung als vielmehr als Spiegel der Wirklichkeit. So mancher reist als Pinocchio durch die Weltgeschichte, erzählt Lügen und Märchen, wo es nur geht und merkt gar nicht, wie seine Nase immer länger wird. Ein in dieser Kolumne schon öfter erwähnter evangelikaler Spaßmacher, promovierter Theologe zumal, erzählt gerne Geschichten und wie sein fiktionales Vorbild nimmt er es dabei mit den Fakten nicht so genau. Dieses Mal hat er sich auf kath.net die strukturelle Verwandtschaft von Antisemitismus und Islamophobie vorgenommen. Sein Kunstgriff besteht darin, den rassistischen Antisemitismus der Nazis mit der Islamophobie der Gegenwart zu kontrastieren und ihre Unvereinbarkeit festzustellen. Was er darzustellen vergisst, ist, dass es lange vor dem Antisemitismus einen religiösen Antijudaismus gab, der eben nicht auf die Rasse, sondern auf den Glauben zielte. Und dieser Antijudaiusmus ist durchaus mit der Islamophobie der Gegenwart vergleichbar. Unser Pinocchio steigt nun ein mit den folgenden beiden Sätzen:
Ist das wahr? Nun zum einen finden sich bei Google für den Satz "Muslime sind die neuen Juden" gerade einmal 1.070 Treffer, von denen die Hälfte aus dem Dunstfeld der AFD oder Geistesverwandter unseres Spaßmachers kommt. Wirklich überzeugend ist das als Argument nicht. Und dass der Behauptung, den Muslimen ginge es heute so, wie den Juden in früheren Zeiten, nicht widersprochen würde, ist schlichtweg falsch. Es gibt eine lange intensive Debatte darüber, wie weit die Argumente einer strukturellen Analogie tragen. Sie wird nicht nur wissenschaftsintern, sondern durchaus öffentlich ausgetragen. Und die überwältigende Mehrzahl der an der Diskussion Beteiligten, lehnt die Gleichsetzung oder Überbetonung der strukturellen Verwandtschaft ab. Zu klar erkennbar ist, dass der Verweis auf Analogien mit dem Nationalsozialismus vor allem rhetorischer Natur ist. Unsinnig ist daher die steile These, niemand würde dieser Gleichsetzung widersprechen. Nicht umsonst sucht sich unser Spaßmacher einen Provinzfußballer aus, um seine These zu erhärten. Seriosität sieht anders aus.
02.05.2017 - Lichtblicke
Heute schaute ich aus dem Fenster meines Arbeitszimmers und sah einem Arbeiter der Stadtwerke dabei zu, wie er sich an der Straßenlaterne vor dem Haus zu schaffen machte. Er steuerte sich mit Hilfe einer Hebebühne hoch und entfernte die Lampe der Laterne. Das erinnerte mich daran, dass in meiner Jugendzeit diese Laterne noch keine elektrische Lampe gewesen war, sondern eine Gaslaterne, ein Phänomen, das inzwischen weitgehend aus dem Stadtbild der Städte verschwunden ist. Und doch waren diese Gaslaternen ein Teil des Projekts Aufklärung, wie Wolfgang Schivelbusch in seinem interessanten Buch "Lichtblicke. Zur Geschichte der künstlichen Helligkeit im 19. Jahrhundert" gezeigt hat. Wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, kam damals (also Anfang der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts) jeden Tag ein städtischer Mitarbeiter bei Beginn der Dämmerung auf dem Rad vorbei, um die Lampen in Gang zu setzen (vielleicht kontrollierte er sie auch nur). Der Schein, den die Lampe verbreitete, reichte aus, um sich im Dunkeln einigermaßen zu orientieren, war aber keinesfalls so grell, dass die Straße wirklich insgesamt erleuchtet war. Zudem flackerte das Licht nach meiner Erinnerung. Heute habe ich das Ganze aber als etwas durchaus Romantisches im Gedächtnis.
Später wurden die Gaslaternen dann durch elektrische Straßenlaternen ersetzt, auch in unserer Straße, und deren letzte war so grell, dass sie mein Schlafzimmer bei Nacht hell erleuchtete. Wirklich Dunkel wurde es in dem Zimmer nie mehr. Aber es ersparte einem spätabends den Griff zum Lichtschalter. Und die Straße war hell erleuchtet, so dass man selbst tief in der Nacht alles, was dort geschah, präzise beobachten konnte. Enlightment hieß hier ganz handfest, dass alles sichtbar wurde.
Nun aber zurück zu dem Handwerker der Hagener Stadtwerke, der sich heute an der Straßenlaterne vor dem Haus zu schaffen machte. Er verabschiedete mich sozusagen von jenem Relikt aus Zeiten, in denen wir uns zwar zur Ökologie bekannten aber nicht um sie kümmerten und ließ die alten stromverschleudernden Lampen Geschichte werden. Mit etwas Mühe montierte er eine moderne LED-Straßenlaterne an der Stelle der alten.
Jetzt also sind wir nicht nur im Zeitalter der Aufklärung, sondern auch noch ökologisch korrekt. Als ich mit dem Schreiben des Blogeintrages begann (und das war der eigentliche Anlass für die Notiz) lag das ganze Stadtviertel im Dunkeln. Die Ökologie hatte etwas zu radikal zugeschlagen und erst gar keine Lampe leuchten lassen. Ökologie durch Unterlassung sozusagen. Auch das ist eine interessante Erfahrung - ein Großstadtviertel im Dunkeln. Jetzt aber, es geht gegen 22 Uhr, sind die Lampen angegangen und ich blicke auf den Lichterkranz der LED-Lämpchen, der hellweiß erstrahlt, während einen Straßenzug höher noch die alten Lampen im diffusen Gelb leuchten. Eine Zeitzone existiert für einen Tag zwischen den beiden Straßen, erkennbar am gelblichen Farbton der alten Zeit und dem klaren Weiß der neuen. Die Welt wird kälter durch die neuen Lampen, aber das Grün des Rasens wirkt natürlicher. Eine Lichteinbuße kann ich nicht erkennen, ganz im Gegenteil.Im Internet gibt es ein Foto aus Buenes Aires über die Differenz der Beleuchtung und der Wahrnehmung. Damit schließe ich meine Notiz ab:
26.05.2017 Bad Times Stories
Heute mal wieder Klaus Kelle, der Märchenerzähler aus dem finsteren Tal der Ahnungslosen. Auf seiner Hauspostille The Germanz fabuliert er über den Protestantismus. Und wie immer ist es eine unterhaltsame Halloweengeschichte über die bösen Kirchen und die lieben Sekten. In Berlin träfen sich gerade 100.000 Gutmenschen meint er, die sich um Terrorismus und Klima, sexuelle Vielfalt und die AfD kümmern würden. Jeder, der schon einmal auf einem Evangelischen Kirchentag war, weiß, dass schon hier die Nase des Pinocchio zu wachsen beginnt.
Zunächst einmal ist der Kirchentag ein spirituelles Jugendereignis, bei dem nur für die Medien und die Journalisten politische Themen im Vordergrund stehen. Denn die Journalisten gehen natürlich nicht zu den Gebetshallen oder den religiösen Konzerten, sondern zu den Prominenten-Shows.
Bei Kelle folgt der schöne Satz "Die evangelische Amtskirche EKD hat ein Problem mit Gott". Nun, die EKD ist eine Verwaltungseinheit von Landeskirchen, selbst keine Kirche. Als Journalist sollte man das wissen. Und sie ist schon gar nicht der Veranstalter des Kirchentages - auch das sollte ein Journalist wissen. Der Kirchentag ist eine Laienveranstaltung. Margot Käßmann und Obama sind keine Götzen, wie Kelle meint, sondern nur Teilnehmer und Gesprächspartner. Als Götze könnte man da schon eher Papst Benedikt ("Wir sind Papst") auf dem Weltjugendtag in Köln bezeichnen, der nun wirklich frenetisch bejubelt wurde. Aber sei's drum.
Und dann folgt bei Kelle der Rekurs auf Hans Apel, der seinerzeit mit viel Geschrei aus der Nordelbischen Kirche ausgetreten ist und sich der SELK anschloss, weil dort eben noch erfolgreich Gottes Wort verkündigt würde. Selten so gelacht. Die SELK, das muss man wissen, ist die erfolgreichste missionarische Kirche in Deutschland, weil sie Gottes Wort strikt befolgt und sich nicht wie die EKD und ihre Landeskirchen dem Zeitgeist anbiedert.
Und deshalb steigen ihre Mitgliederzahlen seit Jahren kontinuierlich an, so dass sie eine ernsthafte Konkurrenz zur EKD werden konnte. Hups, da habe ich wohl zu viel bei Klaus Kelle abgeschaut und bin selbst zum Pinocchio geworden. Die Mitgliederzahlen der SELK sind in Wirklichkeit seit Jahren rückläufig - wie der Zahlen der EKD. Und alles in allem hat die SELK mit 33.000 Mitgliedern die erfrischende Größe einer kleinen westfälischen Mittelstadt. So ganz überzeugend kann sie daher nicht sein. Die der EKD angeschlossenen Landeskirchen versammeln zeitgleich etwa 22.000.000 Mitglieder.
Klaus Kelle jedenfalls, der über den Kirchentag offenbar nach Hörensagen berichtet, ist stattdessen zu einem Workshop gefahren: "Eingeladen hatte eine evangelische Kommunität namens Offensive junger Christen (OJC), Freikirchler, würde man sagen." Könnte man sagen, wäre aber gelogen. Ich lese auf der Homepage der OJC: "Als ökumenische Kommunität in reformatorischer Tradition stehen wir bewusst unter dem Dach der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), arbeiten aber mit vielen Partnern im Horizont der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK) und der weltweiten Ökumene zusammen." Für Freikirchler wäre es nun wichtig, bewusst nicht(!) unter dem Dach der EKD zu erscheinen. Wusste Kelle es nicht besser oder belügt er uns und sucht zu suggerieren, nur bei Freikirchlern funktioniere der Protestantismus?
Kelle berichtet nun von einem indischen christlichen Philosophen, der den Europäern die Rückkehr zu den christlichen Wurzeln predigt. Ich bin mir nun nicht sicher, ob Kelle beim Vortrag nicht eingeschlafen ist und jetzt nur das wiedergibt, was er gerne gehört hätte oder ob der Philosoph es wirklich gesagt hat. Angeblich habe dieser ausgeführt: "Es sei 'eine Torheit' westlicher Intelektueller (sic), anzunehmen, dass persönliche Freiheit, Wahlen und 'Regime-Change' in anderen Teilen der Welt, die Lösung für die Zukunft sei." Das scheint mir im Kontrast zu stehen zu einer Meldung von Idea, wonach derselbe Philosoph 2017 "den deutschen Reformator Martin Luther als Wegbereiter der Volkssouveränität, Demokratie und Menschenrechte in Deutschland und weltweit würdigte." Weltweit! Eins von beiden kann nicht stimmen. Entweder stimmt etwas mit dem Bericht bei Idea nicht (wonach der Verdienst des Protestantismus in der weltweiten Förderung der westlichen Ideale Volkssouveränität, Demokratie und Menschenrechte liegt) oder etwas im Bericht von Klaus Kelle (dass es ein Fehler sei, anzunehmen, dass persönliche Freiheit, Wahlen und 'Regime-Change' in anderen Teilen der Welt, die Lösung für die Zukunft seien). Oder der Philosoph sagt heute dies und morgen das je nach Publikum.
Abgeschlossen wird der Text von einem weiteren Zitat des Philosophen: "Die Bibel sei das Buch, dass (sic) die Toleranz nach Europa gebracht hat." Dem werden ganz gewiss die Katharer, die Waldenser, die Hussiten, die Hugenotten, die Juden in Europa ‚begeistert‘ zustimmen, denn das entspricht präzise ihrer historischen Erfahrung mit der Amtskirche als toleranter Institution. Wie schön, dass die Bibel die Toleranz nach Europa gebracht hat.
Der Moderne spinnefeind sind auch manch andere und sie sehnen aus ähnlichen Gründen das religiöse Mittelalter zurück, in der es noch keine Diktatur des Relativismus gab, sondern Andersdenkende ordentlich gefoltert, gehängt oder verbrannt wurden. Mensch, waren das geile Zeiten. Heute aber leben wir in der Diktatur des Relativismus und müssen (sic) daher erleben, was auf dem Evangelischen Kirchentag so alles gesagt wird. Zum Beispiel von Margot Käßmann, einer früheren evangelischen Bischöfin, die aber - wie Klaus Kelle aus sicherer Quelle weiß - Lichtjahre vom früheren Papst entfernt lebt.
Was will uns Klaus Kelle damit sagen? Dass der Papst ein Alien ist? Margot Käßmann lebt schließlich mitten unter uns. Oder will er sagen, dass der zurückgetretene Papst und die zurückgetretene Margot Käßmann kosmisch betrachtet ganz eng beieinander sind, weil nur 0,61320222 Parsec voneinander entfernt? Wenn der Coma-Haufen (in dem ich mal Klaus Kelle vermute) rund 300 Millionen Lichtjahre von unserer Sonne entfernt liegt, dann sind Käßmann und Benedikt eigentlich doch fast - Nachbarn.
Was hat unseren neurechten katholischen Kommentator nun so aufgeregt, dass er Margot Käßmann gleich für unzurechnungsfähig erklärt? Er hat - im Fernsehen oder in der kolportierenden Presse - einen Satz von ihr gehört oder gelesen. Und diesen Satz hat er nicht verstanden, auch wenn er behauptet, ihn mehrmals gelesen zu haben. Und schon kommt mir wieder das Lied von Eure Mütter in den Sinn. Der Satz lautet
„Zwei deutsche Eltern, vier deutsche Großeltern: ‚Da weiß man, woher der braune Wind wirklich weht.'“
Was kann man an diesem Satz nicht verstehen? Sofort - auch ohne den genaueren Kontext zu kennen - weiß man, dass Margot Käßmann über das Ansinnen gesprochen hat, die Zugehörigkeit zum deutschen Volk über die biologische Abstammung zu definieren. Und dass sie darauf verwiesen hat, dass dies zuletzt die Nationalsozialisten und deren Nachfolger getan haben. Das weiß doch jeder, der nur über einen Funken Intelligenz verfügt. Oder man muss sich bewusst blöd anstellen (Eure Mütter ...).
Das hat alles nichts mit Relativismus zu tun, nichts mit Familie, nichts mit Demografie wie Kelle unterstellt (weil er ... siehe Eure Mütter), sondern es geht schlicht um deutsche Geschichte. Weil unsere Eltern im Schulunterricht einen Stammbaum ausfüllen mussten, der über ihr weiteres Schicksal im nationalsozialistischen Staat entschied. Weil manche eben nicht reine Bio-Deutsche waren, sondern Halb, Viertel und was weiß ich was (Juden, Roma ...) und deshalb mit Vernichtung nicht nur bedroht wurden, sondern real vernichtet wurden. All dies ist Gegenstand des Satzes von Margot Käßmann und gehört zum Grundkonsens der bundesrepublikanischen Gesellschaft seit 1945. Und einige aus der AfD wollen diesen Konsens nun aufkündigen, indem sie einen völkischen Staatsbegriff reaktivieren wollen, der sich an die biologische Abstammung knüpft. Dem zu widersprechen ist die Aufgabe jedes Christen - nicht nur in Deutschland. Klaus Kelle aber meint, hier die AfD stärken zu müssen.
Kelle schließt seine Invektive mit folgenden Worten:
Alles wird neuerdings relativiert. Die Russen und die Amis sind das gleiche, Terroropfer und Verkehrstote werden gleichgesetzt, Ehe und Wohngemeinschaft nichts wird mehr richtig ernst genommen. Menschen, die ihre Überzeugungen oder ihren Glauben ernst nehmen, werden als seltsam wahrgenommen, als Sektierer.
Wer einen so dummen Satz schreibt, könnte normalerweise in Deutschland nicht das Abitur bestehen. Schon Umberto Eco hatte über Papst Benedikts Satz mit der "Diktatur des Relativismus" gewitzelt, er habe ein intellektuelles Niveau, das unter dem eines typischen italienischen Dorfschullehrers läge. Klaus Kelle weiß das zu toppen. Wenn jemand ihn darauf verweist, dass im Jahr 2015 in ganz Europa(!) 160 Menschen in Folge des Terrorismus gestorben sind und 26.000 durch Verkehrsunfälle, dann beschuldigt er ihn, ein Relativist zu sein, der alles gleich mache. Dabei ist es doch genau umgekehrt: Klaus Kelle setzt 160 Tote mit 26.000 Toten gleich und erklärt, die 160 Toten durch Terrorismus bedeuteten für den einzelnen die gleiche Bedrohung wie die 26.000 Toten im Straßenverkehr. Was ihn von Relaivisten unterscheidet ist, dass er die 160 Terrortoten absolut setzt. Relativisten aber stellen Relationen her und weigern sich, die eine Seite der Relation als das Absolute zu betrachten. Und nur so kann man vernünftige Urteile fällen. Aber Klaus Kelle scheint dann doch in einer Wirklichkeit zu leben, die 120 Mpc von uns entfernt liegt.