Cranach und keine Ende?

Digitale (Ver-)Ordnungen

Andreas Mertin

Die Digitalisierung unseres kulturellen Erbes schreitet voran. Das kannman nur begrüßen. Immer mehr von der Fülle dessen, was Menschen im Laufe der Zeit geschaffen haben, wird digital zugänglich. Wobei das Wort „zugänglich“ ja ganz Unterschiedliches bedeuten kann – zum Beispiel im Blick auf Kunstwerke und Gemälde. Im allgemeinsten Sinne könnte es heißen, dass Informationen über ein Artefakt greifbar sind. Dann könnte es heißen, dass man einen Blick auf ein Objekt werfen kann. Besser wäre es, man könnte es in einer angemessenen Auflösung betrachten. Optimal wäre es, man könnte ein Kunstwerk quasi Millimeter für Millimeter untersuchen und zugleich auf radiologische und Infrarot-Aufnahmen zurückgreifen. Und all diese Informationen müssten dann auch noch übersichtlich und gut organisiert sein. Das findet man nur selten.

Bei der digitalen Erschließung des Werkes von Lucas Cranach war man bisher auf konventionelle Quellen angewiesen. Die Digitale Bibliothek, die seit längerem unter www.zeno.org zugänglich ist, versammelte immerhin 78 Abbildungen von Gemälden, die Cranach bzw. seiner Werkstatt zugewiesen wurden. Die Webgallery of Art (www.wga.hu) verfügt über 349 Bilder, die zum Teil aber auch nur Detailansichten sind. Freilich sind die Auflösungen bei der Webgallery of Art begrenzt, zu einem Detailstudium im engeren Sinne reicht das nicht. Googles Arts & Culture listet für Lucas Cranach 295 Objekte auf, die zum Teil hochauflösend studiert werden können, wie es für Google typisch ist. Allerdings sind dabei zurzeit noch kaum Hauptwerke von Cranach zu finden. Die Wikimedia Commons bieten wie immer eine Fülle von Bildern, allerdings wenig strukturiert und selten mit zuverlässigen Informationen versehen. Dafür sind darunter auch einige hochauflösende Bilder.

Trotzdem gelingt es mit diesen konventionellen Zugängen nur schwer, einen Überblick über das Oeuvre von Cranach (und seiner Werkstatt) zu bekommen. Einfacher ist dies mit zwei Datenbanken wissenschaftlicher Art, die einem zumindest einen guten Überblick über das Gesamtwerk von Cranach verschaffen, auch wenn sie mit hochauflösenden Bildern geizen.

Corpus Cranach

Das Digitale Cranach-Werkverzeichnis Corpus Cranach wird von den Universitäten Heidelberg, Stuttgart und Trier betrieben und listet sehr gut und übersichtlich die bekannten Werke Cranachs auf. Es ist erkennbar dem Wissenschaftskontext entsprungen, die Vermittlung der Werke steht weniger im Fokus. Zu den Zielen und Aufgaben des Archivs schreiben die Betreiber:

Corpus Cranach ist das digitale Werkverzeichnis aller Werke von Lucas Cranach dem Älteren, seinen Söhnen, seiner Werkstatt und seinen Nachfolgern ... Aufnahme finden alle Werke, die sich diesem Malerkreis zuordnen lassen. Aufgrund der langen Wirkungszeit und der vielen Mitarbeiter der Cranach-Werk­statt sowie der weiten Verbreitung mancher Bildtypen Cranachs ist eine unzweifelhafte Zuschreibung bestimmter Werke nur selten möglich. Für vergleichende Studien sind daher auch abgeschriebene und fragliche Werke sowie Kopien und Fälschungen aufgenommen und behandelt. Das Werkverzeichnis Corpus Cranach wird erstellt vom Cranach Research Institute unter Leitung von Dr. Michael Hofbauer, in Zusammenarbeit mit der Universitätsbibliothek Heidelberg, dem Lehrstuhl für Kunstgeschichte an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart und dem Lehrstuhl Kunstgeschichte an der Universität Trier ... Corpus Cranach ist darauf ausgelegt, nie abgeschlossen zu sein, sondern mit fortschreitender Forschung sukzessive fortgeschrieben zu werden. Gleichwohl soll Corpus Cranach in jedem Entwicklungsstand stets auch eine nutzbare Forschungsressource zu den Werken des Cranach-Kreises sein. Bei Vorstellung des vorläufigen Werkverzeichnis-Entwurfs im September 2014 waren etwa 2400 Gemälde katalogisiert und rund 1.000 Kataloge und Schriften zu Cranach erfasst. Gegenwärtig (Mai 2017) gibt es einen Bestand von 2.841 Einzeldarstellungen zu Gemälden, wovon bereits an 2.666 Werke persistente Werknummern vergeben wurden. Bis heute wurden 1.588 Schriften erfasst und ausgewertet.

Das, was mich an diesem Verzeichnis am meisten beeindruckt hat, war die Systematik, die einem nicht nur hilft, schnell zu einem bestimmten Bild zu gelangen, sondern auch, einen Überblick über die Vielzahl der Arbeiten von Cranach und seiner Werkstatt zu einem bestimmten Thema zu bekommen.

Die Systematik gliedert sich in zehn Abteilungen. Der Blick auf die Darstellungen des Alten Testaments in der ersten Abteilung zeigt einem so schnell, dass zwei Themen im Vordergrund stehen. Adam und Eva sind 57mal in der Datenbank vertreten, Judith als Einzelfigur 47mal. Mit Abstand folgt dann das Motiv „Lot und seine Töchter“ mit 17 Exemplaren.

In der Abteilung zum Neuen Testament steht die Kreuzigung an der Spitze (69mal), gefolgt von „ur-protestantischen Themen“ wie „Christus segnet die Kinder“ (39mal) und „Christus und die Ehebrecherin“ (37mal). Die dritte Abteilung verzeichnet nur Madonnendarstellungen und hier stehen die Darstellungen „Madonna mit Kind“ (209mal) an der Spitze. In der vierten Abteilung mit den Heiligen ist der Hl. Hieronymus am häufigsten vertreten (17mal). Unter den dogmatischen Darstellungen der fünften Abteilung ragen der Schmerzensmann/die Schmerzensmutter mit 55 Nennungen und das Motiv von Sündenfall und Erlösung mit 23 Nennungen hervor. Erwartungsgemäß ist in der sechsten Abteilung „Bildnisse“ Martin Luther mit sage und schreibe 179 Nennungen vertreten, gefolgt von Friedrich dem Weisen (84mal), Philipp Melanchthon (89mal), Johann dem Beständigen (63mal), Johann Friedrich dem Großmütigen (48mal) und Katharina von Bora (40mal). Unter den Mythologien der siebten Abteilungen ragen erwartungsgemäß die Venus-Darstellungen hervor (80mal). Natürlich sind all diese Nennungen noch nicht danach spezifiziert, welchen Anteil Lukas Cranach d.Ä. an den einzelnen Werken hatte. Aber es gibt doch einen guten Überblick über die Schwerpunktsetzungen im Oeuvre von Cranach bzw. seiner Werkstatt.

Natürlich gibt es auch Unsicherheiten in der Zuordnung. Das in der Düsseldorfer Cranach-Ausstellung so hervorgehobene Bildnis der vom Hl. Chrysostomos vergewaltigten Prinzessin wird im Corpus Cranach etwas anders systematisiert. Natürlich kommt es nicht unter den Heiligenbildern vor, das war auch nicht zu erwarten. Stattdessen findet es sich unter „Sonstige weibliche Bildnisse“ mit dem Titel „Junge Frau mit Neugeborenem“. Das zeigt ganz gut die Problematik der Zuweisung des Bildes.

Grundsätzlich ist dieses Verzeichnis aber ein exzellenter Zugang zu den Werken von Cranach – mit einer Einschränkung. Denn dass man heute noch auf Bilder im Internet stößt, die im Mini-Format dargestellt sind, irritiert doch. Die Betreiber machen dafür urheberrechtliche Fragen geltend. Aber angesichts dessen, dass Cranach 450 Jahre tot ist und zunehmend die kunsthistorische Forschung schwieriger wird, weil manche Museen meinen, über die Fotografien der Kunstwerke den Zugang reglementieren zu können, ist das das falsche Signal.

Das digitale Archiv lucascranach.org

Dieses Archiv ist eine Initiative der Stiftung Museum Kunstpalast, Düsseldorf und der Technischen Hochschule Köln in Zusammenarbeit mit über 250 Museen, Forschungseinrichtungen und Kirchgemeinden in 29 Ländern. Es ist erkennbar moderner als das gerade vorgestellte Corpus Cranach, hat aber auch ein anderes Zielpublikum, da es in die Breite zielt (sonst würde man kaum mit Rückmeldungen aus dem Feuilleton Werbung machen). Dazu gehört auch, dass Cranach und seine Angehörigen ausführlich vorgestellt werden und die Nutzer direkt angeredet werden („Entdecke die Gemälde“). Grundsätzlich gliedert sich der Auftritt in drei Bereiche: die Gemälde, die Archivalien und die Literatur.

Letzteres verzeichnet mit 3.266 Einträgen (Stand 2.5.2017) alles, was irgendwie mit Cranach zu tun hat. Über die erweiterte Suche lassen sich schnell alle gesuchten Autoren finden. [Und das alles mit bemerkenswerter Präzision. Selbst mein mit Andreas Quade und anderen geschriebener religionskultureller Reiseführer durch Bremen, der ein Werk von Cranach erwähnt, ist mit genauer Stellenangabe beschrieben.]

Die Archivalien versammeln die historischen Dokumente, die zu Lukas Cranach und seinem Umfeld vorliegen und verfügen neben den Abbildungen auch über Transkriptionen der Texte.

Und schließlich der für das breite Publikum wahrscheinlich interessanteste Teil, das Verzeichnis der Gemälde. Der Überblick auf der Startseite nennt 1.600 Gemälde, 14.200 hochauflösende Abbildungen, 1.285 Infrarotreflektogramme und 520 Röntgenaufnahmen. Klickt man nun auf den Reiter „Entdecke die Gemälde“ dann findet man auf der linken Seite ein Suchfeld und auf der rechten werden die gefundenen Artefakte angezeigt. Die Ergebnisse lassen sich ganz gut filtern. Der Systematik des Corpus Cranach entspricht der Filter „Inhalt“, der sich wiederum in die Grobkategorien „Allegorien“, „Bildnisse“, „Christliche Religion / Bibel“, „Genre“ und „Klassische Mythologie und antike Geschichte“ untergliedert, die dann wiederum in weitere Unterkategorien eingeteilt sind. Das ermöglicht einen guten und schnellen Zugriff auf die Datenbank.

Freilich überzeugt mich die Systematik weniger als die des Corpus Cranach, was nicht zuletzt daran liegt, dass die Kategorienbildung unlogisch ist. Es fehlt eine Kategorie wie „Dogmatische Darstellungen“ mit der man Themen wie die Trinitätsdarstellungen einordnen kann.

Logisch wäre ja:

·        Altes Testament

·        Neues Testament

·        Madonnen

·        Heilige

·        Dogmatische Darstellungen

·        Kirchengeschichtliche Themen

Auch dann gäbe es noch Unsicherheiten, aber es wäre schon einfacher. Das Corpus Cranach ordnet etwa die Taufe Christi unter die Dogmatischen Darstellungen, das digitale Archiv dagegen zutreffender unter „Neues Testament / Wirken und Leben Christi / Taufe Christi“. Je logischer aber eine solche Auflistung ist, desto besser für den Nutzer der Datenbank.

Faktisch kann man nun so vorgehen, dass man bei den Filtern zunächst die Zuschreibung auf Lukas Cranach den Älteren festlegt, dann „Erlösung“ als Thema wählt und schließlich die Unterkategorie „Gesetz und Gnade“. Das Ergebnis sollten alle Werke zum Thema sein, an denen Lukas Cranach d. Ä. nach Ansicht der Experten mit beteiligt war. Angezeigt werden acht Werke (s. Screenshot). Sehr schön wird einem beim Überfahren mit der Maus angezeigt, welche elementaren Daten zum jeweiligen Bild vorliegen (also Titel, Datierung und Besitzer). Das ist sehr gut gelöst und hilft einem schnell ein gesuchtes Werk zu finden.

Wenn man nun auf eines der Bilder klickt, dann kommt man zum Datenblatt, das alles verzeichnet, was die verschiedenen Quellen zu diesem Bild zu sagen haben. Ich kenne keine Datenbank, die das so penibel und genau macht. Es könnte vielleicht noch ein wenig übersichtlicher sein, aber man findet alles, was man braucht. [Und manchmal wünschte ich mir, es gäbe eine vergleichbare Datenbank zum Beispiel zum Kirchenbau in Deutschland.] Man erfährt alles über die Datierungen, die Provenienz, die Zuschreibungen und die Erwähnungen in der Fachliteratur.

Bleibt nun noch das Einzige zu erwähnten, was die Freude an diesem Digitalen Archiv trübt. Wenn man beim Datenblatt rechts auf das Bild klickt, wird es in den Imageviewer geladen und kann nun studiert werden. Ich mache das einmal mit einem Bild, mit dem ich mich selbst intensiv beschäftigt habe, dem Nürnberger Doppelbild zum Thema Gesetz und Gnade. Man kann – oder sollte ich sagen: könnte – das Bild en Detail gut studieren, wären da nicht eben die störenden Wasserzeichen mit den Buchstaben „cda_“. Ich weiß nicht, was dieser Unsinn soll. Angeblich sind es auch hier urheberrechtliche Gründe. Nur stehen sie hier der sinnlichen Erfassung der Werke zentral im Wege. Findet das irgendjemand sinnvoll? Mitten im Gesicht der Jungfrau Maria ein fettes cda_? Muss das sein. Jesus als Weltenrichter auf der linken Tafel aus Nürnberg wird gleich mit fünf cda_ verziert. Alles im Interesse der Urheber? Da sieht man zum ersten Mal, dass der Weltenschöpfer auf dem Tafelbild „Gesetz und Evangelium“ die Wundmale trägt, aber größer als die Wundmale ist das Markenlogo des Cranach-Archivs auf dem Bild.

Dass es auch ganz anders geht, habe ich hier im Magazin für Theologie und Ästhetik an anderen Beispielen mehrfach gezeigt. Ich erinnere an den Genter Altar, der ebenfalls wissenschaftlich erschlossen wurde und unter der Adresse Closer to van Eyck eine Annäherung an das Werk ermöglicht, die keine Wünsche offen lässt. Oder denken wir an Hans Holbeins Bild „Die Gesandten“ aus der National Gallery, das bei Googles Arts & Culture in einer unfassbar großen Auflösung vorliegt, ohne dass sich irgendwo ein Copyright dazwischen schieben würde. Und warum kann ich dem Porträt einer Frau von Cranach bei Googles Art & Culture ungestört in die Augen sehen, beim Digital Archiv aber nicht?

Ich vermute, es wird nicht unbedingt an den Betreibern des Digitalen Archivs von Cranach liegen, sondern an den Museen, die die Bilder zur Verfügung stellen und um die Zweitverwertung ihrer Bilder für Schirme, Sofakissen und Poster bangen. Sei’s drum, Kunstwerke von Cranach gehören nicht zuletzt der Menschheit. Und diese sollte ein Recht darauf haben, dass man auch digital einen Blick auf das Kulturerbe werfen kann, ohne gleich irgendwelche Logos aufs Auge gedrückt zu bekommen. Das ist barbarisch nicht nur im Blick auf die Betrachter, sondern vor allem im Blick auf den wahren Schöpfer (und das ist nicht der Fotograf des Kunstwerks). Lukas Cranach verdient es nicht, mit cda_ zugepflastert zu werden.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/107/am581.htm
© Andreas Mertin, 2017