Avantgarde? Avantgarde!

Vorstellungen ausgewählter Videoclips L

Andreas Mertin

Prolog

Ach was, AVANTGARDE. In der populären Musik ist nichts oder alles AVANTGARDE. Jede Gruppe – mit Ausnahme der Cover-Bands – versucht, einen neuen Trend zu etablieren und leistet doch nur einen Beitrag zum Immergleichen: zur Unterhaltung.

AVANTGARDE ist eine retrospektive Kategorie. Wenn sich etwas nach einiger Zeit durchgesetzt hat, halten wir es für etwas, was ‚zu seiner Zeit vorzeitig‘ war: eben AVANTGARDE. Die abertausend gescheiterten Hoffnungen, all die untergegangenen hoffnungsvollen Avantgardisten von gestern vergessen wir dabei und erfreuen uns an den wenigen, die übrig geblieben sind. Wenn wir wüssten, was hier und jetzt AVANTGARDE ist, würden wir es machen. Aber wir wissen es nicht. Es ist keine Haltung, die man einzunehmen hätte – das machen nur Hipster.

Manche halten die neue Rechte a la AfD für AVANTGARDE, weil links, humanitär, aufgeklärt zu sein ja bereits eine konventionelle Position sei. Das erinnert an die Zeit, in der die Künstlergruppe NORMAL schön, gut und wahr malen wollten, weil hässlich, böse und falsch mit der Moderne ja durchgesetzt sei. Das war damals AVANTGARDE und dominierte eine Zeitlang unter dem Stichwort Post-Moderne den Markt. Prospect lässt grüßen. Aber die Moderne war nicht zu Ende, das Potential der AVANTGARDE nicht erschöpft, nach der Post-Moderne kam flugs die Zweite Moderne. Und auch danach ging es noch weiter – ich habe nur vergessen wie ...

Was also den Leserinnen und Lesern unter dem Stichwort AVANTGARDE in diesem Heft vorstellen? Bei allein 2500 neuen Musikvideos in den ersten vier Monaten des Jahres 2017 fällt mir eine Auswahl schwer und das macht jede Entscheidung mit Notwendigkeit kontingent. Ich habe mir schließlich das amerikanische Hip-Hop-Experiment clipping. ausgesucht. Zufällig. Weil es gerade in einer Datenbank empfohlen wurde. Weil ich schon vorher einen Clip der Gruppe ganz interessant fand. Weil ich das Ethno-Religiöse-Mischmasch nicht nur nicht uninteressant, sondern hip fand. Und weil ich die Umsetzung für gelungen halte. [Und vielleicht auch deshalb, weil Inge Kirsner versichert hat, Dystopien seien up to date – also AVANTGARDE].

Zur Band gehören ein Rapper und zwei Produzenten: Daveed Diggs, William Hutson und Jonathan Snipes. Daveed Diggs, 1982 geboren, hat eine jüdische Mutter und einen afro-amerikanischen Vater. ["The cultures never seemed separate – I had a lot of mixed friends. When I was young, I identified with being Jewish, but I embraced my dad’s side too.”] Seine Eltern nannten ihn nach dem biblischen Helden David: Daveed. William Hutson ist sein Freund seit frühen Zeiten, Jonathan Snipes dessen Freund seit dem College. Die Gruppe clipping. wurde 2009 gegründet und zählt zum experimentellen Hip Hop bzw. Industrial Hip Hop.

Die Videoclips, die ich im Folgenden vorstellen möchte, sind alle dem neuesten Album Splendor & Misery zugeordnet, dem nach CLPPNG zweiten Studio-Album der Gruppe. Das Label der Gruppe, Sub Pop, stellt das Album mit folgenden Worten vor:

Splendor & Misery is an Afrofuturist, dystopian concept album that follows the sole survivor of a slave uprising on an interstellar cargo ship, and the onboard computer that falls in love with him. Thinking he is alone and lost in space, the character discovers music in the ship’s shuddering hull and chirping instrument panels. William and Jonathan’s tracks draw an imaginary sonic map of the ship’s decks, hallways, and quarters, while Daveed’s lyrics ride the rhythms produced by its engines and machinery. In a reversal of H.P. Lovecraft’s concept of cosmic insignificance, the character finds relief in learning that humanity is of no consequence to the vast, uncaring universe. It turns out, pulling the rug out from under anthropocentrism is only horrifying to those who thought they were the center of everything to begin with. Ultimately, the character decides to pilot his ship into the unknown—and possibly into oblivion—instead of continuing on to worlds whose systems of governance and economy have violently oppressed him.
   Before the album’s recording, clipping’s members read sci-fi books from black writers like Octavia Butler, Samuel R. Delany and N. K. Jemisin. In an interview with the New York Times, Diggs called Splendor & Misery as “the most explicitly political Clipping album thus far”, saying that “‘The world we live in right now makes it pretty difficult not to be political’”.

Wenn das nicht AVANTGARDE ist, weiß ich es auch nicht: dystopische Musik, die einen Grundriss eines futuristischen Raumschiffs vor den Augen plastisch werden lässt und eine Lyrik, die den Rhythmus der Maschinen spiegeln soll. Wow. Besser geht es nicht. Also werfen wir einen Blick auf die optische Umsetzung. Zuerst veröffentlicht wurde das Video zu Baby don’t sleep.

Clipping. Baby don’t sleep (2016 / 03:14) [Regie: Cristopher Cichocki]

Und man kann nach dem ersten Blick auf dieses erste Video zum Album nur sagen: nicht zu viel versprochen. Das kommt schon nahe an die absoluten autonomen Musikvideos heran, bei denen das Videoformat unabhängig vom Text und vom Musikstück rezipiert werden konnte. Schon die ersten 25 Sekunden des Clips zeigen, dass hier an nichts weniger als ein konventionelles Musikvideo gedacht ist. Es dauert ganze 100 Sekunden bis zum ersten Mal so etwas wie Farbspritzer in das bis dahin Schwarz-Weiße-Bilderflimmern geraten. Ansonsten beherrscht das Flimmern von Maschinenwelten und scheinbaren Barcodes das Bild. Ich habe meine Goggle-App darauf angesetzt, ob hinter dem Schwarze-Balken-Flimmern nicht irgendein Code verborgen wurde, aber sie, die sonst jeden Code entschlüsseln kann, meldete mir nur: „Keine Übereinstimmung gefunden“. Durch und durch AVANTGARDE also.

Die Regie zum Videoclip hatte der Künstler Cristopher Cichocki (http://cristophersea.com/) und wenn ich es recht sehe, dann neigt er dazu, den Betrachter durch Reizüberflutung herauszufordern (vgl. etwa den nun wirklich einen zum Wahnsinn treibenden Clip zu Anti-Magic von Foot Village). Wenn es aber darum geht, in einer dystopischen Situation den Rhythmus des Raumschiffes auszudrücken, auf das ich als Überlebender einer unterdrückten Rasse verschlagen wurde, dann passt es. Man kann nicht mehr Face to Face mit den Rezipienten bzw. Adressaten sprechen, alles ist vermittelt, vollzieht sich durch Raster, durch Gitter, durch Signalwellen. Kein direkter Blick mehr, keine Spiegelungen, kein katoptrisches Universum, nur noch Brechungen und digitale Verzerrungen – AVANTGARDE eben. Man könnte also tatsächlich sagen: “In a reversal of H.P. Lovecraft’s concept of cosmic insignificance, the character finds relief in learning that humanity is of no consequence to the vast, uncaring universe.” Das wäre ja mal was Neues.

Clipping. "Air 'Em Out" (2016 / 04:02) [Regie: Carlos Lopez Estrada]

Kommen wir zum zweiten veröffentlichten Clip zum Album Splendor & Misery, das Musikvideo zur ausgekoppelten Single Air ‘Em Out. Gedreht wurde es unter der Regie von Carlos Lopez Estrada, der insgesamt fünf Clips für die Gruppe clipping. gedreht hat.

Im vorliegenden Clip werfen wir einen Blick auf den einsamen Astronauten des Raumschiffs, dessen Inneres wir eben noch akustisch erkundet haben, nur ist dieses Mal der Blick unverstellt. Der Astronaut sitzt am Tisch, schluckt irgendwelche Tabletten, die er mit Wasser aus einem Trinkbecher herunterspült. Er beginnt zu singen, der Bass lässt scheinbar das Mobiliar im Raumschiff vibrieren. Aber es vibriert nicht nur, sondern beginnt durch den Raum zu schweben. (Ganz nett dabei die Idee, in einem Raumschiff ein ISDN-Telefon aufzustellen.) Irgendwann beruhigt sich das Ganze, der Astronaut schluckt schnell eine zweite Tablette und schon beginnt der Zauber von vorne. Dann stürzt alles mit Gewalt nach unten und der Bildschirm wird schwarz. Wenn wir dann wieder etwas sehen können, scheint die Kamera in den Infrarot-Modus geschaltet zu haben. Aber das Geschehen wird nicht harmloser, nun beginnt auch noch der Tisch zu schweben, alles scheint außer Kontrolle zu geraten. Aber all das, so zeigt es sich am Ende, ist irgendwie nur ein intrinsisches Geschehen. Als der Astronaut den Tisch wieder auf den Boden drückt, bleibt er wider Erwarten stehen, es herrscht keine Schwerelosigkeit im Raum. Der Astronaut verlässt erstaunt den Raum. ENDE.

Es ist eine szenische Miniatur, die Carlos Lopez Estrada hier realisiert. Eigentlich haben wir ja nur vier Minuten auf die verzerrten Wahrnehmungen eines Astronauten gestarrt. Was aber, wenn sich so Wirklichkeit konstituiert, wenn nichts unverrückbar ist, wenn alles von unserem gestörten Blick auf eine nur scheinbare Wirklichkeit verursacht wird?

AVANTGARDE-Kunst: „Das wagt doch der Mensch in der Kunst: die gegenwärtige Wirklichkeit in ihrem schöpfungsmäßigen Das-Sein, aber auch in ihrem So-Sein als Welt des Sündenfalls und der Versöhnung nicht letztlich ernst zu nehmen, sondern neben sie eine zweite, als Gegenwart nur höchst paradoxer Weise mögliche Wirklichkeit zu schaffen" (Karl Barth).

Clipping. True Believer (2017 / 04:20) [Regie: Carlos Lopez Estrada]

Die dritte Single-Auskopplung mit eigenem Musikvideo stammt aus dem aktuellen Jahr 2017 und setzt das Thema fort, nur das jetzt die metaphysische Ortlosigkeit des einsamen Astronauten zum zentralen Thema wird. Höchst ironisch taucht dieser am Anfang des Clips, der wieder von Carlos Lopez Estrada gemacht wurde, aus einem Kellerlift eines American Deli Market auf. Und dieser Ort einer afro-amerikanischen Auferstehung lässt sich mit Hilfe von Google Maps bzw. Bing Maps (schönes Bild) schnell lokalisieren, der Aufstieg der Menschheit in die Weiten des Alls beginnt an der Kreuzung Franklin Street – Milton Street in Brooklyn.

Und auch an dieser Stelle ist das Produktplacement fantastisch anspielungsreich. Hinter dem aufsteigenden Astronauten klebt ein Werbeplakat von Perrier mit der Inschrift „Thirst for Extraordinary“.

Der Astronaut steigt nun wie die Heißluftballons in der Perrier-werbung in den Himmel und zeigt im Hintergrund das nächtliche, erleuchtete und pulsierende New York. Das weicht ein wenig von der eigentlichen apokalyptischen Story ab, ist sozusagen ein Prequel zum gesamten Geschehen.

Am Ende lässt der Astronaut den Moloch New York hinter sich und steigt endgültig in den Himmel auf.  AVANTGARDE ist das weniger, eher der schon ins All erweiterte universale American Dream, allerdings solipsistisch begrenzt. Keine Mannschaft – only one man.

clipping. Bodys & Blood (2014 / 05:43)

Als Bonus werfen wir abschließend noch einen Blick auf den drei Jahre zuvor erschienen Clip zu „Bodys & Blood“ (fast schon wieder ein Beitrag zum Thema AVANTGARDE), gedreht unter der Regie von Patrick Kennelly. Ein Regisseur, der offenkundig den Blut- und Gewaltexzess liebt. Es ist ein höchst ironischer Clip voller Anspielungen auf cineastische Vorläufer. Am Anfang sehen wir eine Frau mit hochhackigen Schuhen, die einen Koffer trägt, der – wie wir in einem Bruchteil einer Sekunde erkennen können – ein Koffer der Marke Halliburton ist. Dazu eine kurze Notiz aus der Wikipedia: „Eine besondere Karriere wurde dem robusten Aluminium-Koffer in mehr als 200 Hollywoodproduktionen von Mission Impossible über Independence Day bis zu Air Force One zuteil. Zum Beispiel drosch Harrison Ford in dem Film Firewall mit einem Zero Halliburton in der Hand auf seine Verfolger ein.“ Wie ein schöner ZEIT-Artikel aus dem Jahr 2008 erläutert, ist für die Filmproduzenten schon der Mythos der Marke ausreichend: Ein Halliburton erzeuge sofort Assoziationen wie "Regierung, wichtig, geheim, teuer, Hightech, Waffen, Spione". Auch der Koffer, den der amerikanische Präsident immer in der Nähe hat, um die Atombomben zu starten ist natürlich ein Halliburton. Die Welt ist so trivial (und so wenig avantgardistisch).

Kurz darauf sehen wir einen Split Screen, auf dem rechts die hochhackige Frau einen Koffer öffnet, dessen Inhalt sie sofort hell anleuchtet: Déjà-vu! Natürlich eine Übernahme aus Quentin Tarantinos „Pulp Fiction“. Kann man heute überhaupt noch in einem Film einen Koffer öffnen, ohne an diese Szene zu denken? Und der linke Teil erinnert an den Zip von Emma Peels Reißverschluss aus „Mit Schirm Charme und Melone“. Wie sang schon Heinz Rudolf Kunze: „Wir hatten damals ‚Mit Schirm, Charme und Melone‘ und vor allem Emma Peel, und jeder unserer Träume begann mit dem Geräusch des Reißverschlusses von ihrem schwarzen Knautschlack-Kampfanzug“.

Der nächste Szenenwechsel führt uns in ein Fotostudio mit dem Model als Fotografin und dem Sänger als Model vor einer weißen Leinwand. Der Splitscreen lässt uns an herabfließendes Blut denken und bereitet uns darauf vor, einer nicht ganz gewöhnlichen Fotosession beizuwohnen. Und in dieser Erwartung werden wir selbstverständlich nicht enttäuscht ...

Die von der Fotografin genutzte Kodak Brownie Twin 20 Kamera katapultiert uns in den Anfang der 60er-Jahre, denn produziert wurde sie in der Zeit zwischen 1959 und 1964. Die Bilder werden auf semantischer Ebene nun invertiert, plötzlich ist es der Mann, der den Reißverschluss seines Leder-Outfits öffnet und zum Objekt wird, während die Frau das betrachtende und handelnde Subjekt ist. Nun explodiert das Geschehen quasi und wir blicken auf sechs nackte Torsi, drei Männer und drei Frauen. Die werden uns im Folgenden noch intensiv beschäftigen. Nur scheinbar befinden wir uns hier bei der Freikörperkultur, bei dem berühmt-berüchtigte Weg zu Kraft und Schönheit, eher schon bei deren fatalen Folgen, dem angeblichen Triumph des Willens. Das fängt erst harmlos an, mit den unverzichtbaren nackten Frauen- und Männerkörpern, um dann im Crescendo von Gewalt, Voyeurismus, Blut und Sadomasochismus seine Steigerung zu erfahren. Folie dazu sind die Bodybuilder, die - perfekter als Leni Riefenstahl es sich je hätte träumen lassen –, die Phantasien von den schwellenden Muskeln und den trainierten Bizeps umgesetzt haben – nicht zuletzt mit Hilfe diverser Anabolika und medizinisch angesagter Spritzen. Und das alles macht der Clip überaus deutlich, geschieht nur aufgrund und mit Unterstützung des voyeuristischen Blicks des Betrachters, der – auch das wird deutlich – das Objekt der Begierde zu bloßem Fleisch degradiert, um nicht zu sagen: verwurstet und sich einverleibt. Nur dass dem Voyeurismus hier schockhaft der Prozess gemacht wird. Das Spiel der Muskeln wird so lange übersteigert bis es ins Unerträgliche pervertiert ist. Hinter der Leistungssteigerung, hinter der Sehnsucht nach dem perfekten Körper steckt die pure Gewalt, mehr als jeder japanische Bondage-Art-Film es jemals zum Ausdruck bringen könnte. Dabei wendet sich der Clip nicht einmal gegen die Männer als „Arme Schweine mit Bohrmaschine“, er wendet seine Verachtung beiden Geschlechtern der steroiden Selbstoptimierung zu.

Wenn dann am Ende die Fotografin ihre Kodak Brownie Twin 20 Kamera in ihren Halliburton-Koffer packt, den Reißverschluss ihres Emma-Peel-Leder-Anzugs hochzieht und wie in einem mittelmäßigen Humphrey-Bogart-Remake die Szenerie verlässt und eine letzte Träne vergießt, dann kann das den Eindruck des gesamten nicht Clips zerstören. Hier wäre weniger mehr gewesen. Auch der Fleischwolf hätte nicht sein müssen, da gibt es künstlerisch sublimere Darstellungsmittel, aber dennoch ist der Verweis auf den Pas de Deux von Selbstoptimierung und Tod gut gelungen.

Summary

Die Radikalität, mit der clipping. und die von ihnen beauftragten Regisseure ihr Konzept umsetzten, ist schon beeindruckend. Am Radikalsten vielleicht in „Baby don’t sleep‘, in dem sich zumindest die Bilder fast vollständig der Kommunikation verweigern und den Hörer / Betrachter zwingen, sich ganz auf den Rhythmus zu konzentrieren. Natürlich bleibt dem Musikhörer immer auch noch der Text des Musikstückes, der ja auch im Clip wiedergegeben wird und der zur Verständigung beiträgt (wenn er nicht wiederum kryptisch verschlüsselt ist).

AVANTGARDE ist hier vor allem das Experimentelle, das schon die Gruppe clipping. auszeichnet und von den Regisseuren aufgegriffen wird. 

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/107/am582.htm
© Andreas Mertin, 2017