Bibi H. als religionspädagogisches Paradigma?

Eine In-Fragestellung

Andreas Mertin

Vor einigen Wochen war ich auf einer Tagung zu den religionspädagogischen Möglichkeiten des Umgangs mit Popmusik und Popvideos im schulischen Unterricht. Allen Anwesenden war die kulturelle Gewohnheit der Schülerinnen und Schüler vertraut, nahezu jeden Tag über Youtube oder andere Kanäle Musik zu hören bzw. deren visuelle Umsetzung zu schauen.

Weniger Einigkeit ergab sich darüber, inwiefern aus dieser lebensweltlichen Praxis der Schülerinnen und Schüler sich auch die Notwendigkeit für Unterrichtende ergibt, sich intensiv auf diese Medienwelten einzulassen bzw. was das im Blick auf das Thema Religion bedeutet. Und natürlich: was in diesem Kontext so etwas Diffuses wie ‚Religion‘ überhaupt sein könnte.

Kommen wir zum ersteren: Sofern man auch nur ansatzweise fordern würde, Unterrichtende müssten die popkulturellen Interessen der Schülerinnen und Schüler sorgfältig studieren, ergeben sich sofort unendliche Schwierigkeiten. Ich bleibe einmal auf dem mir vertrauten Feld  der Musikvideos, die ja nur einen bestimmten Teil der populärkulturellen Aktivitäten der Schülerinnen und Schüler darstellen.

Allein im Jahr 2014 sind laut der Datenbank www.imvd.com 10.000 neue Videoclips erschienen, im noch jungen Jahr 2017 immerhin schon knapp 3.000. Wenn ein Theologe ernsthaft die Forderung aufstellen würde, Unterrichtende sollten sich intensiver auf diese Lebenswelt ihrer Schülerinnen und Schüler einlassen, wo sollten sie dann anfangen? Ihre Schülerinnen und Schüler fragen? Da kämen so viele Antworten, wie man Schülerinnen und Schüler im Unterricht hat. Auf Verdacht mal irgendwo in Youtube beginnen? Aber wo findet man die entsprechenden aussagekräftigsten Clips dort? Die erfolgreichsten Clips aufrufen? Aber Erfolg ist kein Kriterium für Sinn – Gott sei’s geklagt.

Und bedenkt man schließlich, dass dieselbe Forderung nach popkultureller Aufmerksamkeit mit einigem Recht ja auch für die Kino­kultur der Jugendlichen aufgestellt werden könnte, für die Computerspiele, ja vor allem auch für die bei weiblichen Jugendlichen so beliebten Youtube-Channels mit Schminktipps – wo sollte man anfangen und wo dürfte man aufhören? Muss sich ein Unterrichtender tatsächlich durch den popkulturellen ‚Müll‘ der Gegenwart quälen, vielleicht sogar mandelgetränkte Duschcremes irgendwelcher Youtube-Ikonen ausprobieren, um an der Lebenswelt der Jugendlichen, wenn nicht teilzunehmen, so doch mitreden zu können? Ich glaube nicht. Unsere kurze Lebenszeit auf der Erde ist zu kostbar, um sich das anzutun.

Und einmal angenommen, man würde sich dennoch auf dieses Zeit vergeudende Unternehmen einlassen, was wären die Kriterien einer erfolgreichen Spurensuche nach Religion in der Popkul­tur? Ist schon die Begeisterung, mit der 13-jährige Pubertierende irgendwelchen 24-jähri­gen Werbefachfrauen hinterherlaufen, ein Indiz für Religion? Gäbe man so nicht Feuerbach und seinen vulgärmaterialistischen Adepten Recht, dass Religion auf nichts anderem beruht als auf dem kalkulierten Betrug durch bösartige Priester bzw. in diesem Falle Priesterinnen? Das erinnert mich daran, dass wir vor einiger Zeit auf einer theologischen Schlagertagung einem Schlager-Manager gegenübersaßen und er auf die Frage, ob er erfolgreich wäre, wortwörtlich antwortete: Wenn ich erfolgreich wäre, säße ich nicht hier vor ihnen. Mit Religion beschäftigen sich diese Leute nur, wenn gerade keine Nachfrage nach Bedeutsamen herrscht und das Setzen auf Religion einen Hit verspricht. Liebe hoch drei. Es ist nur Kalkül.

Auf der eingangs gewählten Tagung ging es in einem zweiten Schritt darum, wie in den letzten 80 Jahren die evangelische Religionspädagogik auf den kulturellen Wandel Deutschlands reagiert hat. Wie es an der Wende zum 20. Jahrhundert einen kulturprotestantischen Ansatz gab, der in der bloßen Erregung von Gefühlen schon das Ziel des Religionsunterrichtes verwirklicht sah, gleichgültig, ob dieser Schauer nun von Moses, Jesus Christus oder Karl May ausgelöst wurde. Und natürlich auch, wohin so etwas führt, wenn eine „Bewegung“ beginnt, die Gefühle der Massen in Regie zu nehmen und den Schauer erfolgreich als Strategie einsetzt. Die Antwort darauf war, wir wissen es alle, die Barth‘sche Verwerfung, die strikte Trennung von Theologie und Religion, als Selbstüberhebung des Menschen. Der erste Leitsatz der Barmer Theologischen Erklärung sollte zur Richtschnur theologischen Denkens werden:

„Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben. Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Worte Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen.“

Das sollte eine Korrektur bieten, einen Maßstab für die Arbeit auch im religionspädagogischen Kontext. Und dieser Maßstab war das Wort Gottes wie es sich in der Heiligen Schrift bekundet. Man mag heute über diese Radikalität befremdet sein, aber keines der nachfolgenden Modelle war weniger rigoros und normativ. Da die Bibel ein deutungsbedürftiges und deutungsoffenes Werk ist, über dessen Auslegung wirklich Buchstabe für Buchstabe gerungen werden muss (nicht nur zwischen den Religionen und Konfessionen), ist es tatsächlich ein Maßstab, um auch intensiv mit der Kultur der Gegenwart ins Gespräch zu kommen.

Persönlich kenne ich die Umsetzung der von der Theologie Karl Barths bestimmten Religionspä­dagogik nicht, keiner meiner Lehrerinnen und Lehrer des Faches Religion in den 70er-Jahren gehörte dieser Richtung an – wirklich keiner. Für mich ist und bleibt die Rede davon mythisches Raunen. Hat es das wirklich gegeben? Oder waren es nur die Universitätsdozenten barthianischer Provenienz, die so einflussreich waren? Ich weiß es nicht. Man sollte nicht immer von Theorien auf die Praxis schließen. Und bei den noch jüngeren Kolleginnen und Kollegen, die die religionspädagogischen Abgründe der Evangelischen Unterweisung beschwören, ist noch mehr davon auszugehen, dass sie nur aus den religionspädagogischen Theorietexten und nicht aus empirischer Praxis wissen, was diese Art der Religionspädagogik bewirkt hat. Ich bin sehr skeptisch, was die Urteile über jene Zeit angeht. Dominant waren die von Paul Tillich beeinflussten Religionspädagoginnen und Religionspädagogen, die nach dem Modell der Korrelati­on vorgingen. Wir lasen im Religionsunterricht der Oberstufe Schule Bücher von Heinz Zahrnt,[1] also eher vermittelnde Sekundärquellen. Vor allem aber stand die Diskussion um die historisch-kritische Metho­de im Blickpunkt. Wenn aber etwas dominant war, dann war es diese verzweifelte Suche nach Korrelationen, genauer: rekonstruktiver Korrelation.

„Die rekonstruktive Korrelation geht auf die Suche nach Zeichen, Erfahrungen, Orten, Handlungen, Bedeutungen u.a. im Leben von Menschen, die christliche Zeichen, Erfahrungen, Orte, Handlungen und Bedeutungen bewusst oder unbewusst verwenden. Lebenswelt und Glaube sind keine zwei voneinander getrennten Bereiche, sondern der Glaube ist in der Lebenswelt als Tiefendimension vorhanden, die aufgedeckt werden muss. Diese Dimension entspricht der Intention Tillichs.[2]

Später waren es dann weniger die Theologen, sondern die Pädagogen der so genannten kritischen Theorie, die den nächsten Schritt in der religionspädagogischen Reflexion im Blick auf die populäre Kultur in Gang setzten: Ideologiekritik und Kritik der Kulturindustrie als Aufgabe der Schule. In den 70er-Jah­ren setzte mit der grundsätzlichen Neukonzeption der hessischen Lehrpläne eine bildungspolitische Diskussion um die Alltagskultur ein.

Nun trat tatsächlich die populäre Kultur in den Fokus der Betrachtung und da der Kultusminister Ludwig von Friedeburg aus dem Frankfurter Institut für Sozialforschung kam, insbesondere als Kritik. Es ging aber nicht – wie heute von manchen Kollegen kolportiert wird – um die Kritik der Volkskultur als Kultur des Volkes, sondern um die Kritik der ihr entgegengesetzten ‚synthetischen Drogen‘, die nicht aus dem Volk stammten, sondern diesem eingeflößt wurden.[3] Kultur wurde zunehmend – ihrem eigenen Begriff entgegen, der ja so etwas wie Wachsen und Hege und Pflege beinhaltet – zur industriellen Ware. Was Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in der „Dialektik der Aufklärung“ beschrieben, wurde in der Bundesrepublik erst mit Jahrzehnten Verspätung zur Realität – vielleicht in all seiner kommerziellen Brutalität erst heute.[4] Ihre Erfahrung, das wird im Abschnitt über die Kulturindustrie deutlich, beziehen sie insbesondere aus den amerikanischen Verhältnissen.

Wenn die Volkslieder zu Recht oder Unrecht herabgesunkenes Kulturgut der Oberschicht genannt wurden, so haben ihre Elemente jedenfalls erst in einem langen, vielfach vermittelten Prozeß der Erfahrung ihre populäre Gestalt angenommen. Die Verbreitung von popular songs dagegen geschieht schlagartig. Der amerikanische Ausdruck »fad«[5] für epidemisch auftretende – nämlich durch hochkonzentrierte ökonomische Mächte entzündete – Moden bezeichnete das Phänomen, längst ehe totalitäre Reklamechefs die jeweiligen Generallinien der Kultur durchsetzten.[6]

Es macht also wenig Sinn, zu behaupten, die kritische Theorie wende sich gegen die Kultur der Massen. Sie wendet sich, wie das entsprechende Kapitel der „Dialektik der Aufklärung“ zeigt, gegen Massenbetrug. Die Kritische Theorie hat dann Jahre später in den cultural studies[7] eine Fortsetzung gefunden. Es gehört zu den Schwächen der Popkultur-Theologie, dass sie bis heute kein den Cultural Studies vergleichbares kritisch-analytisches Instrumentarium hervorgebracht hat. Substantielle Analysen, die kulturhermeneutisch in einem anspruchsvollen Sinne arbeiten würden, fehlen nahezu vollständig. Auch eine Popkultur-Analyse, die etwa den Studien von Erwin Panofsky in der Kunst vergleichbar wäre, existiert kaum.

Zurück noch einmal zur neueren Religionspädagogik. Unbestreitbar besteht ihr Gewinn darin, viel von dem erkundet und berücksichtigt zu haben, was Schülerinnen und Schüler lebensweltlich denken und was sie mit Religion verbindet – oder eben auch nicht. Insoweit sie sich aber auf Popkultur bezieht, ist ihre Wahrnehmung doch sehr durch eine rosarote Brille bzw. durch eine auf eine spezifische Pop-Kultur fokussierte Brille charakterisiert. Entweder wird nämlich vor allem das berücksichtigt, was zu den subjektiven Vorlieben des Untersuchenden gehört (Madonna, Bowie, Dy­lan und Cave – das ist fast analog zu den Vorlieben der protestantischen Prediger in den 80ern mit Brecht, Frisch und Marti). Oder es wird geschaut, was gerade in den Hitlisten als interessantes Material angegeben wird.

Populärkultur, geschweige denn Volkskultur wird so nicht erreicht und schon gar nicht begriffen. Nicht einmal ansatzweise. Es ist eine Art Feuilleton-Religionspä­da­go­gik, die das thematisiert, was gerade als „angesagt“ durch die Medien gejagt wird. Subkultur, subkulturelle Entwicklungen, Metamorphosen des Medienbereichs werden so nicht wahrgenommen und erschlossen. Die Popkulturtheologie ist gar keine, sie ist und bleibt Feuilleton-Theologie.

Das führt uns nun zu Bibi H. und ihrem der neueren Feuilleton-Theologie kongenialen Liedchen "How it is (wap bap ...)". Die Youtuberin und ihr Gesang haben eine zentrale Botschaft: „But that's just how it is“. Wir spiegeln nur die Wirklichkeit. Dann mal los ...

I sing:                 Wap bap wah da de da dah 
                          Dap bap bah da de da dah 
                          Dap bap bah da de da dah dah!

Everybody sing:   Wap bap wah da de da dah
                        Dap bap wah da de da dah 
                        Dap bap Bah da de da dah dah


Das ist nun wirklich Pop-Religion pur. Alexander Pope hat mit seinem „Whatever is, is right“ endgültig den honigsüßen Bodensatz der Teenagerkultur erreicht. Und den liberalen Theologen sei’s getrommelt: Wo alles Religion ist, ist eben auch so etwas Religion. Bibi H. hat mit 4,2 Millionen Followern vermutlich mehr Jüngerinnen und Jünger als Jesus Christus in den ersten Jahrhunderten seiner Wirkungsgeschichte. Aber selbst damit ist sie natürlich nur eine kleine Nummer im Vergleich zu amerikanischen ‚Religionsgrößen‘ wie Taylor Swift und Lady Gaga. Für die deutschen 8-15 Jährigen ist Bibi H. aber eine „echte“ Größe, der sie es mit eifrigen Klicks auf die von ihr lancierten Produktlinks danken, was Bibi H. laut Manager-Magazin ein Monatseinkommen von über 110.000 Euro einträgt. Und im neo-liberalen Zeitalter ist Kapital schließlich die einflussreichste Religion weltweit. Das ist doch eine wirkliche Herausforderung für neo-liberale Theologen. Whatever is, ist right – Hier setzt endlich jemand gegen alle brutalen Realitäten der Welt auf eine optimistische Sicht der Dinge. Die EKD sollte sie als Markenbotschafterin für die neue Lutherbibel einsetzen, damit auch die 8- bis 15-Jährigen zur Bibel greifen. Die muss dann natürlich hübsch verpackt sein und nach Dusch-Creme riechen. Es werde immer noch nicht zu viel, sondern zu wenig Schleichwerbung betrieben – befand Bibi H. kürzlich im Interview. Und wie ein lateinamerikanischer Sektenführer meint sie, wenn es ihr gut gehe, dann gehe es auch ihren Followern gut. Sie empfehle ihren Jüngerinnen schließlich nur, was gut für sie sei. Und meint vermutlich sogar, sie halte sich schließlich an eine nur leicht variierte Version von Matthäus 25, Vers 28f.: „Darum nehmt ihnen die Zehner ab und gebt sie der, die  zehn Zehner hat. Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, und sie wird die Fülle haben; wer aber nicht hat, dem wird auch, was sie hat, genommen werden.“ So ähnlich steht‘s doch in der Bibel und die neoliberale Bibi H. folgt ihr fast aufs Wort.

Wenn man das ernst nimmt, wenn sich hier also in der materialistischen Weltsicht der Bibi H. die Religion der Gegenwart (des Kapitals) inkarniert, müssten nicht auch die Unterrichtenden des Faches Religion dieser ‚Avantgardistin‘ der Kulturindustrie folgen? Also nicht - wie in der rekonstruktiven Korrelation – danach zu fragen, wo es Entsprechungen zur biblischen Botschaft gibt (derlei Überschneidungen wäre im vorliegenden Fall vermutlich gering), sondern die vorfindliche Wirklichkeit (der Bibi H.) als Ausdruck der subjektiven Bereicherungsreligion der heutigen Menschen ernst- und anzunehmen. „Woran du nun, sage ich, dein Herz hängst und [worauf du dich] verlässest, das ist eigentlich dein Gott.“ Und weil das Luther-Wort so treffend ist, hier noch ein längeres Zitat:

"Das muss ich ein wenig grob herausstreichen, damit man es versteht und merkt an einfachen Beispielen des Gegenteils. Es ist mancher, der meint, er habe Gott und alles genug, wenn er Geld und Gut hat. Er verlässt sich darauf und brüstet sich, damit so steif und sicher, dass er sonst auf niemanden etwas gibt. Siehe, dieser hat auch einen Gott der heißt Mammon, das ist Geld und Gut, woran er sein ganzes Herz hängt; und das ist der am weitesten verbreitete Abgott auf Erden. Wer Geld und Gut hat der wähnt sich sicher, ist fröhlich und unerschrocken, als sitze er mitten im Paradies; und wiederum, wer keins hat, der zweifelt und verzagt, als wisse er von keinem Gott. Denn man wird gar wenige finden, die guten Muts sind, nicht trauern noch klagen, wenn sie den Mammon nicht haben; es klebt und hängt der Natur an bis ins Grab. Mt.19 Also auch, wer trotzig darauf vertraut, dass er große Kunst, Klugheit, Gewalt, Gunst, Freundschaft und Ehre hat, der hat auch einen Gott, aber nicht diesen rechten einzigen Gott. Darum sage ich noch einmal, dass die rechte Auslegung dieses Gebotes sei, dass einen Gott haben heißt: etwas haben, worauf das Herz gänzlich vertraut."

Moment mal. Nach Luther ist der Gegenstand evangelischen Religionsunterrichts doch etwas ganz anderes?

Müssten Unterrichtende dann nicht doch lieber Amos folgen und sagen:

Hört dieses Wort, ihr Kühe von Baschan, die ihr auf dem Berg Samaria wohnt, die ihr die Hilflosen unterdrückt, die ihr die Bedürftigen misshandelt, die ihr zu euren Männern sagt: Schafft her, dass wir ein Trinkgelage machen! Gott, die Macht, hat bei ihrer Heiligkeit geschworen: »Passt auf! Es werden Tage über euch kommen, da trägt man euch an Fleischerhaken weg und die, die von euch übrig geblieben sind, an Angelhaken. Durch Mauerbreschen müsst ihr hinaus, eine nach der anderen, und ihr werdet zum Berg Hermon geworfen.« Ausspruch Gottes

Ja, genau das müssten sie wohl sagen. Sie müssten die Schülerinnen und Schüler in Kenntnis setzen, was die Heilige Schrift zur schamlosen Ausbeutung von Menschen im eigenen Profitinteresse aussagt. Sie müssten zum Ausdruck bringen, inwiefern die Bibel in dieser Frage keinesfalls nur neutral beobachtend ist und die Religion der Kapitalanreicherung nur zur Kenntnis nimmt. Sie müssten m.a.W. durchaus normativ wirksam werden, denn die Bibel ist eine scharfe Kritikerin jeglicher Religion des Kapitals. Denn diese ist eine Gegenreligion zum Christentum.

Deshalb an dieser Stelle in kleiner Exkurs: 1887 schreibt Paul Lafargue ironisch in seinem Buch „La Religion du Capital“[8]:

„Die einzige Religion, die die Bedürfnisse unserer Zeit befriedigen kann, ist die Religion des Kapitals.“

Am Anfang seiner Schrift steht eine imaginäre Versammlung unter Führung des katholischen Nuntius, die zusammentritt, weil die Kirche ihren Einfluss auf die Menschen verliert. So treffen sich führende Kirchenmänner, Politiker, Bankiers, Unternehmer und wissenschaftliche Experten, um eine neue Religion zu schaffen. Sie beschließen, das Kapital zum Gott zu ernennen, da es alle die Eigenschaften in der Realität besitzt, welche die Theologen ihrem "Gott" zuschreiben, nämlich Allmacht, Allgegenwart und Einheit. Das Kapital ist der wahre Gott und Bargeld Ausdruck seiner göttlichen Gnade. Die Wirtschaftsführer sind die Auserwählten und die Bankiers die Prie­ster und Bischöfe seiner Kirche. Soweit Lafargue.

Ohne Zweifel hat sich etwas von diesem kritisch-fiktiven Szenario, das doch nur als solches gedacht war, in die Wirklichkeit umgesetzt. Weniger in dem Sinne, dass die katholische Kirche oder die Kirchen generell nun die Religion des Kapitals propagieren würden, sondern in dem Sinne, dass das Kapital und der Erfolg zum nahezu ausschließlichen Kriterium des Handelns und damit zur Religion wurden. Bei Lafargue gehören die antikirchlichen Töne noch zur traditionell marxistischen Tonart. Die Ausweitung des Religionsbegriffs auf alles, was den Menschen wichtig ist (und damit auch auf das Kapital) geht aber meines Erachtens durchaus in eine ähnliche Richtung, insoweit sie keinen Maßstab angeben kann, von dem aus diese Form der Religion kritisch begrenzt werden kann. „Whatever is, is right” - „But that's just how it is“

Wenn aber Bibi H. eine mögliche und zudem konsequente Ausprägung (und gar nicht so subtile Vermittlung) der Religion des Kapitals im Blick auf die jüngste Generation ist, dann heißt religionspädagogisches „Studium der Popkultur“ eben auch, dazu eine Position zu entwickeln. Also nicht mehr die affirmative Verklärung der Jugendkultur (nur weil es eine solche ist), weil andere eben keine Hemmungen haben, Jugendliche auszubeuten und hinters Licht zu führen. Beschäftigung mit Popkultur heißt - wie zu Zeiten der kritischen Theorie – Kritik der Popkultur. Dann kommt man nicht ohne konkrete Bezüge auf die sozialethischen Implikationen der biblischen Texte aus und kann sich nicht darauf zurückziehen, dass sich Religion popkulturell heute eben anders darstelle.

Anmerkungen

[1]    Zahrnt, Heinz (1966): Die Sache mit Gott. Die protestantische Theologie im 20. Jahrhundert. München: R. Piper & Co. Zahrnt, Heinz (1970): Gott kann nicht sterben. Wider d. falschen Alternativen in Theologie u. Gesellschaft. München: Piper.

[3]    „In unseren Entwürfen war von Massenkultur die Rede. Wir ersetzten den Ausdruck durch »Kulturindustrie«, um von vornherein die Deutung auszuschalten, die den Anwälten der Sache genehm ist: daß es sich um etwas wie spontan aus den Massen selbst aufsteigende Kultur handele, um die gegenwärtige Gestalt von Volkskunst. Von einer solchen unterscheidet Kulturindustrie sich aufs äußerste. Sie fügt Altgewohntes zu einer neuen Qualität zusammen. In all ihren Sparten werden Produkte mehr oder minder planvoll hergestellt, die auf den Konsum durch Massen zugeschnitten sind und in weitem Maß diesen Konsum von sich aus bestimmen.“ Kulturkritik und Gesellschaft I/II: Résumé über Kulturindustrie. Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, 10.1, S. 337. Frankfurt.

[4]    Dialektik der Aufklärung: Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug. Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften 3, S. 141), Frankfurt.

[5]    Mit „Mode“ ist der Begriff unzureichend übersetzt. Gemeint ist: „an intense and widely shared enthusiasm for something, especially one that is short-lived and without basis in the object's qualities“. [Oxford Dictionary]

[6]    Dialektik der Aufklärung, a.a.O., S. 189.

[7]    Vgl. Fiske, John (2003): Lesarten des Populären. Unter Mitarbeit von Christina Lutter, Markus Reisenleitner und Stefan Erdei. Wien: Löcker (Cultural studies, 1).

[8]    Lafargue, Paul; Baudet, Jean-Pierre; Rötzer, Andreas (Hg.) (2014): Die Religion des Kapitals. 2., verb. Aufl. Berlin: Matthes & Seitz.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/107/am584.htm
© Andreas Mertin, 2017