Luther und die Avantgarde

II - Verortungen

Andreas Mertin

Wittenberg 1536/37

In ihrem Klassiker „Italienische Kunst – Eine neue Sicht auf ihre Geschichte“, 1979 zuerst in Italien bei Einaudi, 1987 in Deutschland bei Wagenbach erschienen, schreiben Enrico Castelnuovo und Carlo Ginzburg einleitend über „Zentrum und Peripherie“. Und dort führen sie aus:

Wenn das Zentrum als Ort der künstlerischen Schöpfung definiert wird, und Peripherie einfach den Abstand vom Zentrum meint, dann bleibt schlechterdings nichts anderes mehr übrig, als die Peripherie als Synonym für künstlerische Rückständigkeit anzusehen. Genau genommen handelt es sich dabei um ein subtil tautologisches Schema, das die Schwierigkeiten eher beiseite räumt, als zu lösen versucht. Wir wollen statt dessen versuchen, die Begriffe ‚Zentrum‘ und ‚Peripherie‘ (und die dazugehörigen Beziehungen) in ihrer geographischen, politischen ökonomischen, religiösen und auch künstlerischen Komplexität wahrzunehmen. Dies bedeutet freilich auch, künstlerische und außerkünstlerische Phänomene zueinander in Beziehung zu setzen, um das falsche Dilemma zwischen Kreativität im idealistischen Sinn (der Geist weht, wo er will) und summarischem Soziologismus zu meiden.[1]

Wollte man eine derartige Untersuchung für die Bildende Kunst im Heiligen Römischen Reich der Jahre zwischen 1500 und 1525 vornehmen, dann wären nach der traditionellen Logik sicher Regensburg, Nürnberg, Passau, Würzburg oder Augsburg als Kunstzentren zu lokalisieren, in denen sich die bedeutenden deutschen Kunstentwicklungen abspielten. Hier war neben dem Für­stentum auch das Bürgertum, das Kapital und die Macht versammelt, die genügend Nachfrage erzeugten, um einen regen Kunstmarkt zu ermöglichen. Und hier verorten sich Künstler wie Albrecht Altdorfer, Albrecht Dürer, Wolf Huber, Hans Holbein d.Ä., Hans Burgkmair der Ältere, Tilman Riemenschneider Veit Stoß und viele andere. Künstler wie die genannten gehörten in dieser Zeit zu den einflussreichen Bürgern einer Stadt.

Freilich stellt sich die Frage von Zentrum und Peripherie im Blick auf die heute sogenannte „Lutherstadt Wittenberg“ noch einmal verschärft. Unbestreitbar war Wittenberg in der Mitte des 16. Jahrhunderts ein Zentrum der Welt wenn man die spätere Wirkungsgeschichte in den Vordergrund stellt. Aber entsprach das auch dem Selbstverständnis der Menschen im Heiligen Rö­mi­schen Reich? Zumindest am Anfang des 16. Jahrhunderts war Wittenberg nur „eine bescheidene Mittelstadt mit etwa 2000 Einwohnern“[2]. Es ist Friedrich der Weise, der mit der Gründung der Universität hier ein kulturelles Zentrum schaffen will und damit auch Bürger und Künstler anzieht. Und mit der Reformation rückt Wittenberg in den Fokus des Interesses.

Heute jedoch ist Wittenberg ebenso unbestreitbar ein Beispiel für Peripherie (um nicht zu sagen schlichter Provinzialität). Die Stadt ist nicht nur weitab von den (Kunst-) Zentren der Welt gelegen, sondern auch provinziell in ihrer Darstellung als Einkapselung einer 500 Jahre alten Vergangenheit. Es ist ein bloßer Mythos, der hier zelebriert wird, was nicht zuletzt am Kontrast von gerade mal 8% verbliebenen Kirchenmitgliedern und dem Feieranlass deutlich wird. Aber vieles an Martin Luther ist mehr Mythos als Realität, was man im Kopf hat, sind die Luthermythen des 19. Jahrhunderts und nicht die Lehren Martin Luthers und seiner Kollegen.

Eine „Weltausstellung“ als Rahmen

Da hilft es auch nicht, wenn man im Rahmen des Lutherjubiläums beschließt, Wittenberg zum Austragungsort einer

W e l t a u s s t e l l u n g

zu machen. Man muss nur einmal der Bedeutung von „Weltausstellung“[3] nachgehen, um zu er­ken­nen, wie anmaßend die Verwendung des Begriffes für das ist, was in Wittenberg passiert. Darf man an eine wirkliche „Weltausstellung“ erinnern, vielleicht nur mit einem aussagekräftigen Bild? Dieses hier zeigt die Pariser Weltausstellung aus dem Jahr 1900:

Die Weltausstellung in Wittenberg ist dagegen eine Provinzposse, Hybris pur, geboren aus einer gekränkten lutherischen Seele mit einer gehörigen Portion Minderwertigkeitsgefühl: man möchte trotz aller offensichtlichen Marginalität auch mal wer sein in der Welt der Global Player, quasi einmal mit Barack Hussein Obama auf dem Podium sitzen.[4]

„Das erfahren wir täglich, wie jedermann nur über sich, zur Ehre, zur Gewalt, zum Reichtum, zur Kunst, zu gutem Leben und allem, was groß und hoch ist, sich bemüht. Und wo solche Leute sind, denen hängt jedermann an, da läuft man hinzu, da dient man gern, da will jedermann sein und der Höhe teilhaftig werden ...“[5]

schrieb schon Martin Luther und ahnte nicht, dass sich seine Nachfolger sich dieses Verhalten zu ihrer Ehre anrechnen würden. Wie in den guten alten Tagen von Thron und Altar war am Eröffnungstag der Weltausstellung der Evangelischen Kirche die ‚Thronprominenz‘ Deutschlands vertreten: der Bundespräsident, der Bundesinnenminister, der Ministerpräsident etc. Und sie wurden wie in schlechten alten Zeiten mit viel Staatsgewalt vor dem Volk (oder eben imaginär drohenden Terroristen, die es nach Wittenberg verschlagen haben könnte) geschützt. Und die Schutzmacht sieht heute aus wie die finsteren Gestalten aus der Matrix:

Zumindest ist es, wie die Mitteldeutsche Zeitung schrieb,

Brisant: Bei der Ausstellungseröffnung galten hohe Sicherheitsstandards. Unter anderem waren Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Bundesinnenminister Thomas de Maizière und Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (beide CDU) vor Ort. Scharfschützen der Polizei hatten den Marktplatz gesichert.

Die Freiheit eines Christenmenschen, gesichert durch Scharfschützen der Polizei, darauf muss man erst mal kommen. Und die so Gesicherten besuchten dann auch die Ausstellung „Luther und die Avantgarde“ im alten Gefängnis von Wittenberg, die dafür 3 ½ Stunden geschlossen und von der Polizei vor dem Volk geschützt wurde. Und in der Ausstellung trafen die Vertreter des deutschen Staates dann auf ein Werk von Jonathan Meese, der darin jedes Sicherheitsstreben mit überaus pathetischen Worten verteufelte und sich dennoch mit Sicherheit geehrt fühlen dürfte, von den Großen der Gesellschaft mit Aufmerksamkeit bedacht zu werden. Merkwürdige Welt. Man kann sie zur Kenntnis nehmen, aber man muss sie nicht verstehen.

Auch vor dem Autor dieser Zeilen wurde die Ausstellung im Interesse der Politiker geschützt und er konnte stundenlang statt über Kunstwerke über die Präsenz der Repräsentanten der Staatsmacht in der Wittenberger Peripherie, genannt Weltausstellung, nachdenken. Wie ironisch dieser Moment war, wurde mir erst deutlich, als ich dann in der Ausstellung war, mit ihrem pathetischen Anspruch auf Wahrheit, Gesellschaftsveränderung und ihrem gesinnungsethischen Impetus. Ja, die großen Künstler dieser Welt mit ihrer pseudorevolutionären Attitüde können sich des Interesses der Mächtigen sicher sein. Denn fürchten muss sich keiner – weder die Mächtigen vor den Künstlern, noch die Künstler vor den Mächtigen. Merkwürdige Welt.

Die Ausstellung im alten Wittenberger Gefängnis ist trotz allem, was man im Detail dazu sagen kann und muss, auf jeden Fall eine Reise wert. Sie überzeugt in der Wahl des Ausstellungsortes, in der Eindrücklichkeit einer Vielzahl der ausgestellten Kunstwerke und der Souveränität, mit der einzelne Künstler mit dem Rahmen der Ausstellung umgehen.

Luther und die Avantgarde - Anlass

Bevor ich auf einzelne Werke und den Ausstellungsort eingehe, noch ein paar grundsätzliche Anmerkungen zum Ausstellungskonzept und den Interventionen der Kuratoren. Ich habe selten eine Ausstellung gesehen, deren Kuratoren in einem so gebrochenen Verhältnis zum Ausstellungsanlass stehen, wie diese. Die Verantwortlichen, die doch eine Kunst-Aus­stel­lung zum 500jährigen Jubiläum des Thesenanschlags Martin Luthers zusammenstellen sollten und wollten, sind schlichtweg – man muss es so klar sagen - religiöse Analphabeten. Der geläufigere Ausdruck des „religiös Unmusikalischen“ wäre an dieser Stelle eine maßlose Untertreibung. Sie wissen nichts über den Protestantismus, nichts über das Luthertum und seinen Glauben, nichts von der protestantischen Kultur, nichts vom empirisch beschreibbaren Verhältnis der Protestanten zur Kunst.[6] Tabula rasa. Da wird immer von der protestantischen Orientierung am Bilderverbot gesprochen und geschrieben und es wirkt so, als ob die Kuratoren gar nicht wüssten, dass die Lutherische Kirche – im Unterschied zur Reformierten – gar kein Bilderverbot kennt. Da befindet man sich in der Stadt, in der Martin Luther mit jenem Künstler, den man mit Fug und Recht den Andy Warhol des 16. Jahrhunderts nennen kann[7], Kunstideen entwickelte, und die Kuratoren meinen, in gefühlt jedem zweiten Ausstellungsschildchen auf die protestantische Bilderfeindschaft hinweisen zu müssen. Ist das Dummheit? Ignoranz? Ist den Kuratoren nicht klar, dass Protestanten über Jahrhunderte mehr Kunstwerke in ihrem Besitz hatten als Katholiken? Dass die reformierten Niederlande im Goldenen Zeitalter über mehr Kunstwerke in Privathaushalten verfügten, als die Menschheit es jemals wieder erreichen wird?[8] Nein, sie wissen es nicht. Und es ist ihnen offenkundig egal. Sie sind auf der Suche nach dem Wow-Effekt, nach der großen Geste, den großen Namen und den bekannten Klischees.

Dass es Dynastien von hugenottischen Malern gegeben hat, dass ganz Kassel seine kulturelle Identität jenen verdankt, die die Kuratoren als Bilderfeinde beschimpfen, obwohl sie doch nur Kultbildkritiker waren und sogar das Ambiente für die documenta geschaffen haben – das alles wissen sie nicht. Dass Vincent van Gogh und Piet Mondrian reformierter Provenienz sind, dass Antoijn Corbain stolz darauf ist, gerade wegen seiner reformierten Herkunft sich protestantischer Künstler zu nennen – das wissen sie nicht. Dass die protestantische Kultbildkritik auf der einen Seite gesteigerte private Zuwendung zu Bildern auf der anderen Seite bedeuten kann – auch das wissen sie nicht. Sie pflegen lieber ihre Vorurteile, weil in einer geordneten Welt es sich einfach besser lebt – Wahrheit hin oder her. Ich nehme explizit Bazon Brock – der nicht zu den Kuratoren der Ausstellung im engeren Sinne gehört – von dieser Kritik aus. Er ist viel zu kenntnisreich und intelligent, um so etwas zu vertreten und hat gerade in seinen Besucherschulungen zur documenta seit 1972 seine diagnostische Qualität in diesen Fragen bewiesen.[9]

Luther und die Avantgarde - Bekundungen

Aber der Vorwurf der religiösen Un-Musikalität betrifft nicht nur die Kuratoren, einige der beteiligten Künstler sind, folgt man ihren Äußerungen, auch nicht besser. Die, die sich in ihren künstlerischen Äußerungen als scharfsinnige Diagnostiker und Therapeuten des Weltzustandes gerieren, sind doch nur platte Phrasendrescher, wenn man ihren Argumenten einmal nachgeht. In der Kulturzeitschrift Monopol sagen die Künstler Gilbert und George, die in der Berliner Außenstelle der Wittenberger Ausstellung präsent sind, unter der dämlichen Überschrift „Verbannt die Religionen“ folgendes:

Luther soll einen sehr derben Humor gehabt haben. Das verbindet Sie vielleicht.
Gilbert: Ich glaube, er hat viel gefurzt.
George: Und er hat den Antisemitismus erfunden.

Der Interviewer lässt das so stehen und zeigt damit, über welche kulturgeschichtliche Kompetenz er verfügt: über keine. Man mag die Antwort von Gilbert für Ironie halten, sie ist letztlich nur pubertär. Und die Antwort von George macht einen fassungslos. Wie soll ich Künstler ernst nehmen, die einen derartigen Unsinn von sich geben und die zugleich ernsthaft propagieren, Religionen müssten verbannt werden? Luther als Erfinder (sic!) des Antisemitismus? Keine Judenfeindschaft in den 2000 Jahren davor?[10] Hat George noch nie etwas gehört von der antiken Judenfeindschaft[11] und von dem mit dem Christentum einsetzenden Antijudaismus?[12]

Hat er noch nie von den Kreuzzügen gehört, noch nie von den Pogromen von 1096, 1146, 1189, 1285, von den späteren Pestpogromen usw. usf.? Das nebenstehende Bild stammt aus der Welt­chronik von Hartmann Schedel und auch diese stammt aus der Zeit vor der Reformation. Und sollte man einen Künstler nicht auch danach fragen, ob er den Unterschied von religiösem Antijudaismus und rassistischem Antisemitismus kennt? Wenn er all das nicht weiß und kennt, wie soll ich die Haltung, die er in Sachen Religion vertritt, ernstnehmen? Soll ich mich von religiösen Analphabeten über Religion belehren lassen? Ach Gott. Sind die besten Ärzte neuerdings die, die von Medizin nichts verstehen? Ich verstehe die Verbitterung jener Gruppen, die von den moralisierenden Ausgrenzungen der Kirchen über Jahrhunderte empfindlich getroffen wurden. Aber das legitimiert niemand dazu, nun im Umkehrschluss dieselben Ausgrenzungen vorzunehmen. Mein Respekt vor Künstlern ist durch diese Ausstellung jedenfalls nicht gestiegen. Darf man daran erinnern, dass es auch Judenfeindschaft, Antijudaismus und Antisemitismus im Bild gibt und die Künstler ebenfalls ihren Anteil an der Ausgrenzung und Verfolgung von Juden haben? Ja, man sollte Luthers Antijudaismus deutlich beim Namen nennen und muss alle Konsequenzen daraus ziehen.[13] Aber man sollte bei den Tatsachen bleiben und nicht so tun, als wäre man selbst bloß die verfolgte Unschuld. Und die ostentative Polemik gegen den Katholizismus ist nur billig.

Luther und die Avantgarde – Der Ort

Zumindest der Ausstellungsort in Wittenberg scheint mir gut gewählt. Versteht man ihn nicht nur als zufällige Neu-Nutzung eines Ortes, der bisher nicht genutzt wurde, sondern als Metapher, lässt er sich, worauf Bazon Brock zu Recht hinweist,[14] umstandslos mit der Theologie Martin Luthers und dessen Anliegen verbinden: der Sehnsucht nach der Befreiung des Menschen von den Fesseln, die ihn knechten, sozusagen aus der babylonischen Gefangenschaft nicht nur der Kirche.

Natürlich hat dieser Vergleich auch Grenzen. Er funktioniert nur als Metapher einer Metapher. Wir, die wir uns manchmal wie in einem Gefängnis eingekerkert und in unseren Lebensmöglichkeiten begrenzt fühlen, sehnen uns nach Freiheit, alle Kreatur schreit nach Erlösung. Sobald wir aber reale Gefängnisse in den Vergleich mit einbeziehen, wird dieser Vergleich merkwürdig schief. Auch deren Insassen hoffen auf Freiheit, aber im Regelfall wurde ihnen diese genommen, weil sie die Freiheiten und Rechte anderer nicht respektierten. Gefängnisse sind nichts Böses an sich.[15] Ich weiß nicht, wer im alten Gefängnis von Wittenberg eingesessen hat, Stasi-Opfer waren es nicht. Die Beklemmung, die einen beschleicht, wenn man durch die Zellenflure von Wittenberg geht, ist zunächst einmal gesellschaftlich als Abschreckung gegen die Verletzung elementarer und justiziabler gesellschaftlicher Regeln erwünscht. Nur Anarchisten halten Gefängnisse an sich für falsch.

Dennoch ist das Gefängnis auch jenseits der Nutzung als Metapher für die grundsätzliche Gefangenschaft sinnvoll.

Es erinnert uns vielleicht an den Dichter, Organisten, Komponisten und Journalisten Christian Friedrich Daniel Schubart (1739-1791), der willkürlich 10 Jahre in Festungshaft gesessen hat, weil er den Verkauf von württembergischen Landeskindern für Englands Kolonialkriege anprangert hatte.[16] Er durfte in seinem Turmverlies keinen Besuch empfangen, das Lesen und Schreiben war ihm in den ersten Jahren verboten.

Und er ist nun ganz sicher nicht der einzige Künstler, der für seine Haltung von den Mächtigen der Welt verfolgt wurde.

Luther und die Avantgarde – Konzept der Haltungen

Im Vorfeld haben die Kuratoren zu ihrem Konzept geschrieben:

„... In der Ausstellung begegnen sich der Reformator als Vordenker und Avantgardist seiner Zeit und heutige Künstler, die Position beziehen zu gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Tage. Es geht nicht um die bildliche Darstellung des Wirkens Martin Luthers oder um eine historische Auseinandersetzung, sondern um die Reflexion von Haltungen. Martin Luther hat religiöse, soziale und gesellschaftliche Reformprozesse in Gang gesetzt, die über die kirchlichen Erneuerungen hinaus die Gesellschaft radikal verändert haben. Hier knüpft die Ausstellung an und zeigt künstlerische Strategien, die nach Veränderung streben, Missstände aufzeigen und die von Unabhängigkeit im Denken und Handeln geprägt sind. ... Die Haltung der Künstler zu Themen wie Freiheit, Individualität oder Widerstand nimmt dabei eine zentrale Rolle ein. ... Die Bilder gehören nach Martin Luther nicht mehr in den Bereich des Heiligen, sondern ins Diesseits. Sie sind keine Kultbilder mehr, sondern autonom. Die darin begründete Freistellung der bildenden Künste von religiösen Diktaten und die Stärkung der Rolle des Betrachters haben der künstlerischen Moderne den Weg geebnet. Zugleich fordert dieser Freibrief die Künstler auf, immer wieder neu über die Aufgaben und Inhalte von Kunst nachzudenken, im Gegenzug haben die Kirchen – insbesondere die der Reformation - die Aufgabe, ihr Verhältnis zur Kunst unserer Tage theologisch zu reflektieren und sich durch sie immer wieder neu herausfordern zu lassen.“

Zunächst einmal: der letzte Satz ist unsinnig. Wenn der Freibrief für die Künste die Künstler zur Selbstreflexion aufruft, inwiefern folgt daraus, dass die Kirche genötigt ist, ihr Verhältnis zur Kunst zu reflektieren? Man könnte aus der Autonomiewerdung von Kunst und Religion ja auch folgern, dass beide Bereiche zur Selbstreflexion aufgefordert sind. Offenkundig werden hier die Gewichte von Kunst und Religion interessegeleitet verschoben. Aufklärung oder wenigstens erklärungsbedürftig ist auch, warum denn nun ausgerechnet die Kirchen der Reformation ihr Verhältnis zur Kunst theologisch reflektieren müssten, die Katholiken und Orthodoxen dagegen nicht. Das scheint mir wenig plausibel und bloßes Gefasel zu sein, wenn es nicht das Vorurteil prolongiert, die Kirchen der Reformation hätten ein gestörtes Verhältnis zur Kunst.

Interessant ist zum anderen, dass die Kuratoren ein Ausstellungs-Konzept der Künstler-Haltun­gen entwickelt haben. Das ist außerordentlich zeitgemäß und zugleich außerordentlich fragwürdig. Zeitgemäß ist es, weil unzählige Großausstellungen inzwischen auf die Präsentation von Künstlerhaltungen setzen. Fragwürdig ist es, weil so auf verquere Weise etwas von der Kant’schen Genie-Ästhetik[17] zurückkehrt – nun aber in einer politisierten Form im Sinne des Künstlers als eines Seismographen gesellschaftlicher Entwicklungen. Was lässt einen aber daran glauben, dass Künstler sich besser in Fragen der Globalisierung, der gesellschaftlichen Entwicklung, der Wirtschaft, der Naturwissenschaft, der Soziologie und eben auch der Religion auskennen als der Rest der Gesellschaft? So hätten es manche Künstler gerne wie man an den verquasten Äußerungen von Jonathan Meese ablesen kann, aber evident ist das keinesfalls. Letztlich ist es nur ein längst überholter bürgerlicher Mythos, der hier reaktiviert wird.

Catrin Lorch hat in einem lesenswerten Artikel in der Süddeutschen Zeitung über die Tendenz zur Präsentation von Künstler-Haltungen in Kunstausstellungen und insbesondere auf der Biennale in Venedig geschrieben. Sie meint, die Biennale zeige, dass die zeitgenössische Kunst

„ihren universalen Anspruch aufgegeben hat zugunsten einer Vielstimmigkeit, die jedem seinen Ort zuweist. Voraussetzung dafür ist, dass die Figur des Künstlers an die Rampe geschoben wird, nicht sein Werk. Eine Entwicklung, die sich angebahnt hat, seit der Markt aus der Kunst eine Ware macht und aus dem Künstler eine Marke. Man spricht nicht länger über Motiv, Komposition oder Technik - sondern über Positionen, Haltungen, Biografien. Nicht die Kunst ist wichtig, sondern die Künstler, vor allem in diesen Monaten, in denen die Welt in Unordnung ist und man auf Antworten aus der Sphäre des Wahren, Schönen und Guten hofft.[18]

Was, so muss man aber fragen, lässt es als plausibel erscheinen, dass man hier von den Künstlerinnen und Künstlern Antworten bekommt, die weitreichender sind als die von den mit den betreffenden Lebensfragen befassten Spezialisten? Ist es wirklich so, dass Künstler plötzlich besser wissen als Soziologen, wie es um die Welt bestellt ist? Und warum sind diese Antworten dann so unendlich trivial und vor allem gesinnungsethisch?

„... was ist das für eine Kunst, die vorhersagbare Antworten gibt und jeden nur für sich sprechen lässt? So hört sich das an, wenn eine Gegenwart, in der Markt und Medien höchste Autorität beanspruchen, sich die Kunst zurichtet.“[19]

Catrin Lorch macht eindrücklich deutlich, dass gerade diese Fokussierung auf künstlerische Haltungen im Gegenzug zur Legitimation totalitärer Strukturen und Systeme umschlagen können. Wer auf Haltungen setzt, auf künstlerische Marken wie Ai Wei Wie oder Jonathan Meese, macht dies jenseits irgendeiner Inhaltlichkeit oder künstlerischen Kompetenz. Darin, das muss man der Ausstellung „Luther und die Avantgarde“ zugutehalten, trifft sie sich mit ihrem historischen Vorgänger am gleichen Orte, der Marke Lukas Cranach, Hofkünstler, Serienproduzent und religiöser Propagandist in einem.

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Anmerkungen

[1]    Castelnuovo, Enrico; Ginzburg, Carlo (1987): Zentrum und Peripherie. In: Giovanni Previtali und Federico Zeri (Hg.): Italienische Kunst, 2 Bde. Eine neue Sicht auf ihre Geschichte. Vorw. v. Willibald Sauerländer, Bd. 1. Unter Mitarbeit von Luciano Bellosi, Enrico Castelnuovo, Alessandro Conti, Massimo Ferretti, Ginzburg Carlo, Giovanni Romano und Salvatore Toscano Bruno Settis. 1. Aufl. 2 Bände. Berlin: Wagenbach, S. 21–92.

[3]    Vgl. Art. Weltausstellung https://de.wikipedia.org/wiki/Weltausstellung

[4]    Weniges dokumentiert die Bedeutungslosigkeit des Ganzen so sehr, wie der gescheiterte Versuch, den früheren US-Präsidenten zum Abschlussgottesdienst des Kirchentages nach Wittenberg zu locken. Politioker, denen es um Macht und Symbolpolitik geht, bevorzugen dann doch das Brandenburger Tor als Kulisse.

[5]    Luther, Martin (1521): Das Magnificat, verdeutscht und ausgelegt. In: Martin Luther: D. Martin Luthers Werke. Weimarer Ausgabe, Bd. 7. Weimar, S. 546–601.

[6]    Mertin, Andreas (1991): Ars ante portas? Skeptische Erwägungen zur Kunstvermittlung in der Kirche. In: Kunst und Kirche (3), S. 190–194.

[7]    Cranach, Lucas (2017): Lucas Cranach der Ältere. Meister - Marke - Moderne. Hg. v. Gunnar Heydenreich, Daniel Görres und Beat Wismer. München: Hirmer.

[8]    North, Michael (1992): Kunst und Kommerz im Goldenen Zeitalter. Zur Sozialgeschichte der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts. Köln: Böhlau. Jedenfalls besaß, statistisch gesehen, in dieser Zeit jeder Einwohner 2,5 Bilder. Vgl. Helmut Kaechele: Das goldene Zeitalter der Niederlande und sein Reflex in der Malerei.

[9]    Vgl. dazu Brock, Bazon; Fohrbeck, Karla (Hg.) (1977): Ästhetik als Vermittlung. Arbeitsbiographie eines Generalisten. Köln: DuMont; Brock, Bazon (1986): Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit. Die Gottsucherbande. Schriften 1978-1986. Unter Mitarbeit von Nicola von Velsen. Köln: DuMont.

[13]   Mertin, Andreas (2016): Der ganz normale Antijudaismus? Teil II. Wittenberg lernt nicht dazu. In: tà katoptrizómena - Magazin für Kunst | Kultur | Theologie | Ästhetik, Jg. 18, H. 103. Online verfügbar unter http://www.theomag.de/103/am558.htm.

[16]   Warneken, Bernd J. (2009): Schubart. Der unbürgerliche Bürger. Frankfurt a.M.: Eichborn (Die Andere Bibliothek, 294).

[19]   Ebd.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/107/am586.htm
© Andreas Mertin, 2017