Veni creator spiritus

Ein paar (un)sachliche Bemerkungen
zur Aufführung von Mahlers Achter in der Elbphilharmonie

Hans-Jürgen Benedict

Gustav Mahlers Achte im Großen Saal der Elbphilharmonie, das großschreierisch Symphonie der Tausend (nicht von Mahler so) genannte offizielle Hauptwerk Mahlers, 1910 in München uraufgeführt, also jetzt im mit Superlativen überhäuften neuen Konzertsaal der Hansestadt, (ich bin zum ersten Mal hier) der stets ausverkauft und vielgerühmt, aber inzwischen auch wegen seiner überscharfen Akustik kritisiert wird. Also die „Symphonie Nr. 8 Es-Dur in zwei Sätzen für großes Orchester, Sopran, Alt, Tenor, Bariton und Basssolisten, zwei große gemischte Chöre und Knabenchor.“ Wegen des Aufwands von ca. 400 Musikern und Sängern selten gespielt, zuletzt in Hamburg in der Barclay, damals noch O2 Arena unter Eschenbach, wo sonst Hallenhandball, Eishockey und Popkonzerte stattfinden: Jetzt also als quasi nachgereichte festliche Eröffnung mit Mahlers Symphonie auf zwei Großtexte erhabener Literatur, dazu noch mit einer Licht-Installation der Künstlerin Rosalie garniert, sieben kirchenfensterartigen Lichtsäulen, die die Weihe des Hauses noch einmal lichtkräftig bunt illuminieren sollen.

Den Pfingsthymnus des Hrabanus Maurus Veni Creator Spiritus im 1. Satz und im 2. Satz auf die Schlussszene aus Faust II von Goethe, die dieser zu Lebzeiten unter Verschluss hielt, weil er das anspielungsreiche großartige nach oben strebende aufsteigende christliche Personal dieser Schlussszene dem deutschen Publikum nicht zumuten zu können meinte, Patres, Engel, selige Knaben, erleuchtete Doktoren, Büßerinnen, die drei Marien und schließlich die Mater gloriosa herself, ein großartiges, beziehungsreiches, fast unspielbares Finale.

Adorno sagt, es sei in der Schlussszene von Faust II „eine eigentümliche Qualität von Großheit, die nicht mit Monumentalität zu verwechseln ist (…) Am ähnlichsten ist sie vielleicht dem Gefühl des Aufatmens im Freien (...) Großheit selber wird erfahrbar an dem, was von ihr überflügelt wird.“ Etwa in den Worten des Pater profundus, wenn er den Wassersturz beschreibt: „Wie tausend Bäche strahlend fließen / zum grausen Sturz des Schaums der Flut / Wie strack mit eignem kräftgen Triebe / Der Stamm sich in die Lüfte trägt / So ist es die allmächtge Liebe / Die alles bildet, alles hegt.“ Das tönende Werden der Landschaft gleicht der Liebe, die Fausts Unsterbliches verwandelt. Ähnliches mag 1800 Jahr zuvor Paulus gemeint haben, als er vom Seufzen der ganzen Schöpfung (Kreatur) und ihren Wehen sprach.

Was bewegte Mahler, diese großen Texte zu vertonen? Adorno hat in seinem Mahler-Buch es versucht auf den Begriff zu bringen. „Das Hauptwerk ist die mißglückte, objektiv unmögliche Wiederbelebung des kultischen ... Der dogmatische Inhalt, von dem es die Autorität borgt, ist ihm zum Bildungsgut neutralisiert. In Wahrheit betet es sich selbst an. Der Geist, den der Hymnus der Achten mit Namen nennt, ist zur bloßen Verdopplung seiner selbst degeneriert ... Was Durkheim, etwa als die Weihefestspiele vom Parsifal bis zur Achten Sinfonie entstanden, den Religionen nachsagte: sie seien Selbstdarstellungen des kollektiven Geistes, das gilt prägnant jedenfalls für die ritualen Kunstwerke im Spätkapitalismus. Ihr Allerheiligstes ist leer. Der Witz Hans Pfitzners über den ersten Satz, Veni creator spiritus: ‘Wenn er nun aber nicht kommt‘, rührt mit der Hellsicht der Rancune an ein Richtiges (…) Aber der Anruf bezieht sich dem objektiven Formsinn nach auf die Musik selbst. Daß der Geist kommen solle, erbittet, die Komposition solle inspiriert sein. Indem sie das Venerabile des Geistes mit sich selbst verwechselt, verwirrt sie Kunst und Religion (…) Die Versuchung, die daraus aufstieg: das Kollektiv, das er durch sich hindurch tönen fühlte, unmittelbar zum Absoluten zu erhöhen und zu glorifizieren, war fast übermächtig.“ Das zu erklären greift Adorno zu einer psychoanalytischen Kategorie – Identifikation mit dem Angreifer. „Sie flüchtet zur Macht und Herrlichkeit dessen, wovor sie sich fürchtet“. Mahler, der sonst in seiner Musik der Stimme der Leidenden Gehör gibt, flüchtet sich ins absolut Große. „Denken Sie, dass das ganze Weltall zu klingen und zu tönen beginnt“ hat Mahler zu seiner Achten gesagt.

„Die Achte ist angesteckt von dem Wahn, erhabene Gegenstände“, so Adorno weiter, „bürgten für die Erhabenheit des Gehalts.“ Das korrespondiert mit dem Anspruch, mit der Elbphilharmonie habe sich Hamburg ein Wahrzeichen gebaut, der Konzertsaal sei ein Superlativ (was er von den Baukosten her auch ist), habe Weltgeltung, sei einmalig, und für große Aufführungen wie die Achte Mahlers besonders geeignet. Ja, die durch die Lichtinstallation noch überhöhte Sakra­lität des Kunstwerks komme in einem solchen Saal vielleicht besonders zur Geltung.

Ich gehe zu der Einführung, doch der Dramaturg der Staatsoper trägt nichts als biographisch Bekanntes vor und scheintheoretische Plattitüden, nicht ein Satz, der sich analytisch auf das gleich erklingende Werk bezieht. Kein Versuch, die Struktur der Symphonie, ihre Ansprüche und ihr Scheitern zu erklären, wie es dann in den Beiträgen von Wolfgang Hofer und Clytus Gottwald im Programmheft in Auseinandersetzung besonders mit Adornos Kritik an der Achten, der „symbolischen Riesenschwarte“, geschieht. Diese Hochachtung vor dem Anspruch des Hauptwerks bestimmt auch die Aufführung in der Elbphilharmonie. Kent Nagano, dessen Idee es wohl war, war erkrankt und konnte nicht dirigieren.

Für ihn sprang der 81jährige Eliahu Inbal ein, früher Leiter des Hessischen Rundfunkorchesters und ausgewiesener Mahler-Spezialist. Er handhabte die Musiker-Massen souverän. Die Sinfonie springt sogleich mit dem Choreinsatz fortissimo mitten ins Geschehen der Hymne, erlaubt keine Annäherung, auf meinem Platz 80 Meter entfernt von der Chorempore dröhnt es gewaltig an mein Ohr, ein Nebengeräusch, das entsteht, wenn 200 Sänger fortissimo singen, schmerzt und stört. Der Text ist nicht gut zu verstehen, ich versuche mit der Taschenlampe meines Smartphones mitzulesen, um die Stelle Accende lumen sensibus so nicht zu verpassen, die bei der Aufführung unter Anton von Webern soviel Furore machte. Das Ganze endet mit der Anrufung Gottes des Vaters: Gloria Patri, eine Umstellung Mahlers, eben kein Durchblick auf das kommende Reich des Geistes, worauf Gottwald im Programmheft hinweist, sondern Anbetung der väterlichen Autorität. Aber solche Feinheiten entgehen dem normalen Zuhörer. Dem imponiert der Aufwand, dazu mit Lichtkunst, Hamburg leuchtet und feiert sich so selbst.

Die leise Einleitung zu Faust-Musik gelang sehr schön, die Abstimmung zwischen Solisten und Riesenchor ist nicht immer korrekt, die Harfen erklingen, dann die Orgel, das „Komm hebe dich zu höh‘ren Sphären“ der Mater Gloriosa von der Höhe herab gesungen, auch das zunächst pianissimo gesungene „Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis / Das Unzulängliche hier wird’s Ereignis“. Dann die immer mehr sich steigende Klangpracht, das Ewigweibliche, das uns hinanziehen soll, ich stelle es mir sanft vor, wird eher gebrüllt als gesungen. Schlussakkorde fulminant hingehauen. Keine Stille, kein Besinnen. Sogleich tosender Beifall, eine Viertelstunde lang. Man war dabei und sah sich gefeiert, verstehen braucht man es ja nicht. Hamburg leuchtet, die Elbphilharmonie hat ihre eigentliche Bewährungsprobe mit Mahlers Monumentalwerk bestanden (so das Hamburger Abendblatt).

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/107/hjb57.htm
© Hans-Jürgen Benedict, 2017