Unter Beteiligung

Kurzvorstellungen

Andreas Mertin

Valtink, Eveline & Mertin, Andreas (Hg.) 2017. Die Bilder sind frei: Luther und die Avantgarde - Religions- und kunstpädagogische Impulse. Norderstedt: Books on Demand. 146 S.; Ringbuch und E-Book.

[aus dem Vorwort]
Das vorliegende Buch ist im weiteren Kontext der Ausstellung „Luther und die Avantgarde“ in Wittenberg, Kassel und Berlin entstanden. Es hat seinen Schwerpunkt auf jenem Teil der Ausstellung, der in Kassel präsentiert wird, möchte aber zugleich den gesamten reformatorischen Hintergrund für das protestantische Verhältnis zu den Bildern und zur Kunst seit der Reformation für den schulischen Unterricht einsichtig machen. Dieses Verhältnis ist bis in die Gegenwart mit zahlreichen Klischees behaftet: der reformatorische Bildersturm, dem zahlreiche kostbare Kunstwerke zum Opfer gefallen sind; die protestantische Sinnenfeindlichkeit, die mit Bildern wenig, mit dem Wort aber umso mehr anfangen kann; das gestörte Verhältnis der Evangelischen Kirche zur zeitgenössischen Kunst. Keines dieser Klischees hält einer genaueren Überprüfung stand. Wenige Jahrzehnte nach dem protestantischen „Bildersturm“ in Zürich gründen die Evangelischen das erste öffentlich zugängliche Museum der Welt in der Wasserkirche in Zürich, die nicht nur eine Bibliothek, sondern auch aus den Kirchen ausgeräumte Kunstwerke enthält. Das so genannte Goldene Zeitalter in den reformierten Niederlanden offenbart uns einen Bilderreichtum in den Privathaushalten, wie er in der Geschichte der Menschheit bis dahin nicht erreicht wurde. Und seit dem Auftreten des Protestantismus und der Entstehung des protestantischen Pfarrhauses hat noch jede Generation auch bedeutende Bildende Künstler hervorgebracht. Die hugenottische Familie Moillon hat über mehrere Generationen Künstler gestellt, die berühmteste unter ihnen die Stilllebenmalerin Louise Moillon. Auch Vincent van Gogh kommt aus einem protestantischen Pfarrhaus und wollte eigentlich Prediger werden. Der Künstler, Fotograf und Filmemacher Anton Corbijn, der durch seine Musikvideos jedem heutigen Jugendlichen bekannt ist, wird nicht müde, auf den Einfluss seines reformierten Pfarr-Eltern­hauses hinzuweisen, ja er bezeichnet selbst seine Kunstfotos als „protestantisch“.

Es ist also durchaus an der Zeit, auch in religions- wie kunstpädagogischen Bildungsprozessen jener Entwicklung nachzugehen, die letztlich in die künstlerischen Entwicklungen der Gegenwart münden: wie die Kunst aus den beengenden Fesseln der Kirche und der Religion befreit wurde; wie sie dadurch zwar Auftraggeber verlor, aber die Bürger als Auftraggeber sich neu erschloss und ihr Themen- und Ausdrucksspektrum erweiterte; wie nicht zuletzt durch die lutherische Theologie der Betrachter vor dem Bild emanzipiert wurde (Werner Hofmann); wie das religiöse Sujet aus der Kunst in den Kopf und die Gefühlswelt des Betrachters wanderte (Caspar David Friedrich); wie aus dieser Entwicklung die moderne Kunst entstand (Robert Rosenblum). Das alles ist Teil der auch heute noch zu leistenden Aufklärungsarbeit im Religions- und Kunstunterricht.

Dazu kann die Ausstellung „Luther und die Avantgarde“ ihren Beitrag leisten und sie kann es in Kassel deshalb besonders gut, weil hier seit über 50 Jahren die documenta im Abstand von fünf Jahren eine Art Bestandsaufnahme der zeitgenössischen Kunstreflexionen abliefert. Keinesfalls soll dabei behauptet werden, es gäbe eine Art verborgene protestantische Programmatik der modernen Kunst (oder gar der documenta). Das würde dem Selbstverständnis der freien Künste seit der Aufklärung widersprechen. Aber Protestantismus und Zeitgenössische Kunst bewegen sich auf durchaus parallelen Wegen – auch in kritischer Hinsicht. Der beredten Klage über die Zeitgeistorientierung des Protestantismus (zu viel Politik und soziales Engagement) entspricht die sorgevolle Frage nach den Ewigkeitswerten der aktuellen Kunst. Und vielleicht liegt gerade darin ihr gemeinsamer Wahrheitswert. Wer die Genese der aktuellen (wie auch schon der letzten) documenta verfolgt, wird auf Fragestellungen stoßen, die im konziliaren (und damit auch religionspädagogisch reflektierten) Prozess zu Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung seit über 30 Jahren diskutiert werden.

Ein besonderer Akzent des Kasseler Teils der Ausstellung „Luther und die Avantgarde“ ist ihre Verortung: sie wird gezeigt in einer historischen Kirche der Glaubensflüchtlinge. In Kassel erklang um 1700 das Refugees Welcome besonders laut: ohne das wäre weder die von Hugenotten erbaute Karlskirche (Architekt: der Hugenotte Paul du Ry) noch das Fridericianum (Architekt: der Hugenotte Simon Louis du Ry) denkbar. Dass nun in der Karlskirche nicht zuletzt die Refugees zum Thema der Kunst werden, zeigt noch einmal die faszinierenden Parallelitäten von Kunst und Religion – historisch und gegenwärtig.

Dieses Arbeitsbuch möchte vor allem eins leisten: der gegenwärtigen und den nachfolgenden Generationen zu verstehen helfen, wie die protestantische Haltung zu den Bildern und zur Kunst sich entwickelt hat und welche Bedeutung das für die Kunsterfahrung in der Gegenwart hat. Dabei wird ein weiter Bogen gespannt: vom Vorabend der Reformation bis in die konkrete Ausstellung von Zeitgenössischer Kunst in einer Kasseler Kirche der Glaubensflüchtlinge. Aber die Gegenwart – das ist die implizite These – ist nicht unbeeinflusst von historischen Entwicklungen, die, wenn sie schon nicht ihre Ursache in der Reformation haben, so doch von ihr dramatisch beschleunigt und vor allem reflektiert wurden.


Dreßler, Sabine & Mertin, Andreas (Hg.) 2017. Einsichten: Zur Szenografie des reformierten Protestantismus. Solingen: foedus. 176 S.; gebunden.

[Aus dem Vorwort]
In diesem Buch geht es um Einsehen, um Begreifen, aber auch um Gesten und um aktives sinnliches Handeln, um die Gestaltwerdung von Glauben. Es geht um Bilder, um historische und moderne Kunstwerke, um reale und imaginäre Bilder auf der Leinwand, auf dem Papier oder im Kopf. Und es geht um Räume, um einmal geschaffene und wieder veränderte, neu entstandene und entstehende Räume, um steinerne Gebäude und um Gedankengebäude.
Die hier vorgestellten Kunstwerke wie Räume verdanken ihre Eigenart einer besonderen evangelisch-reformierten „Einsicht". Sie spiegeln wider, was das das 2. Gebot so formuliert: „Du sollst Dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist: Bete sie nicht an und diene ihnen nicht." (2. Mose 20, 3f.) Das, was gemeinhin das „Bilderverbot" genannt wird, meint allerdings weder die vollständige Abwesenheit oder gar die generelle Ablehnung von Bildern, noch kommt das konsequente Befolgen dieses Gebotes im Versammlungsraum der Kirche einem Nicht-Verhältnis zur Kunst und damit auch zur Ästhetik gleich. Ganz im Gegenteil. Und deshalb geht es auch um die Frage, wie wir mit den Bildern und Räumen umgehen und dabei vor allem darum, was das was das für den Protestantismus evangelisch-reformierter Provenienz bedeutet.

Dieses Buch zeigt auf. wie evangelisch-reformiertes Denken einen ganz eigenen produktiven Umgang mit Bild und Raum ausgebildet und geprägt hat und wie es umgekehrt von diesem besonderen Raum- und Bildverständnis bis heute bestimmt wird. Wie sich solch ein reformiertes Verständnis und der Blick auf Gott und den Menschen, auf den Glauben und die welt "in Szene setzt", das hat weitreichende Konsequenzen für unser Begreifen von Kunst und des Kirchbaus.

Dieses Buch bietet erstmalig umfassend „Einsichten" in das, was sich hinter nur vermeintlich nüchterner Strenge, Kargheit oder gar Leere verbirgt, es zeigt mit anderen Worten, was die Schlichtheit und Konzentriertheit reformierter Räume notwendig und erkenntnis-produktiv macht. So lässt sich entdecken, worin die Ästhetik eines Kunstwerks oder einer Kirche begründet ist: welche „Frei-Räume" im Befolgen des Bilderverbotes als eines Kult-Bild-Verbotes entstehen können und welcher „Frei-Geist" einem aus solcher Perspektive und Prägung entstandenen Kunstwerk innewohnt.

ln allem Bedenken der Beziehung von Raum und Bild geht es letztlich um den Raum, den Gott für die Menschen schafft. Und es geht darum, wie Menschen diesen Raum wahrnehmen und in der Folge eigene Räume gestalten. Im Hinblick auf den Kirchenraum heißt das: „Der Raum der Kirche ist der Raum, wo Gottes Wort laut werden und damit der Raum der von ihm gewährten Freiheit entstehen kann " (Matthais Zeindler)

Die folgenden Gedanken zur Kunst und Kunstgeschichte, zu Bild und Raum und Kirchraum sowie die Darstellungen reformierter Kirchen in Deutschland lenken den Blick auf das, was nicht auf den ersten Blick „augenfällig" und offenkundig ist und was doch zur bewussten Gestik reformierten Glaubens gehört. Der „leere Raum", der kein sakraler Ort ist, hat nicht nur viel zu erzählen, sondern er ermöglicht Begegnung auf vielerlei Weise und eröffnet dadurch völlig neuartige Erfahrungsräume. Nicht umsonst haben nahezu alle Kulturorte der Welt die Inszenierung der weißen Räume der Reformierten für ihre eigenen Räume übernommen.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/108/am575.htm
© Andreas Mertin, 2017