Palais Bellevue

Von Staubsaugern und Leoparden

Andreas Mertin

Das Palais Bellevue in Kassel wurde 1714 auf Veranlassung des Landgrafen Karl von Hessen-Kassel errichtet. Als Architekt gilt Paul du Ry. Ursprünglich diente es als Observatorium, später wurde es Teil des (heute zerstörten) Schlosses Bellevue. Lange war hier das städtische Brüder Grimm-Museum untergebracht. ... Das Erscheinungsbild des Palais Bellevue hat sich seit den Umbauarbeiten durch Simon Louis du Ry im ausgehenden 18. Jahrhundert kaum verändert. Die fünfachsige Vorderfront entspricht im Wesentlichen der des barocken Ursprungsbaus. Die klassizistische Raumausstattung ist fast vollständig unverändert. Bemerkenswert sind die Rokoko-Stuckierungen in einem Saal des ersten Obergeschosses. Das dreiflüglige Treppenhaus besitzt ein sich kreisförmig emporschraubendes Dockengeländer. Von dem ehemals sich anschließenden dreiflügligen Nebengebäude ist ein Flügel an der Längsseite des historischen Gartens erhalten. In jüngster Zeit wurde die Fassade saniert, wobei die dezente Putzstrukturierung von S. L. du Ry verloren ging.[1]

Versammelt sind im Palais Bellevue auf dieser Documenta achtzehn künstlerische Positionen. Und angekündigt werden sie so:

Erinnerungen an gewaltsame Konflikte und damit verknüpfte Territorialfragen prägen die Konstellation von Arbeiten im Palais Bellevue. Die meisten von ihnen setzen sich mit dem Thema Trauma auseinander, das in verschiedenen Schrecken des Krieges wurzelt. Im Unterschied dazu rücken die namensgebende schöne Aussicht über den ausgedehnten darunter liegenden Auepark sowie die Schlossgespenster zweier Schlüsselfiguren der Romantik das Ensemble der hier ausgestellten Werke in Richtung einer Befragung der Landschaft als politisches Projekt, in Richtung Natur als Kultur.

Beginnen wir mit der vielleicht lustigsten und einer zugleich überaus beeindruckenden Arbeit dieser Documenta, einer Ode an den Dyson Sieben.

Roee Rosen

Der Künstler Roee Rosen ist für seine besondere Art des Humors berühmt. Sei es, dass er eine fiktive Biographie schreibt und diese mit entsprechenden Gesten von Menschen vom Teleprompter vorlesen lässt, die seiner Sprache nicht mächtig sind. Sei es, dass er Situationen schafft, bei denen man nicht weiß, ob man nun lachen oder weinen soll. Im vorliegenden Fall erzählt er eine komplexe Geschichte rund um den Staubsauger Dyson. Natürlich ist der Dyson nur eine Metapher – auch wenn er konkret im Film auftaucht und eine zentrale Rolle  in der Handlung einnimmt. Aber eigentlich geht es um die Reinigung einer Gesellschaft vom Fremden und Unerwünschten. Ihre Gesellschaft säubern – rein halten - wollen viele Regierende auf dieser Welt, ob sie nun in Jerusalem an der Regierung sitzen, in Ungarn oder Polen. Staubsauger (und / oder Maschinenpistolen) sind bei diesem Prozess hilfreich. Und was im Makrokosmos der Gesellschaft gilt, trifft auch für den Mikrokosmos eines Haushalts zu. Davon handelt das Video „Dustchannel“ von Roee Rosen. [Der Aufführungsort ist für das Video einerseits gut gewählt, andererseits wegen der räumlichen Beschränkungen doch problematisch. Es wären dem Video schlicht mehr Betrachter zu wünschen. Hier wäre etwa ein Raum in der documenta-Halle besser gewesen.]

Was aber zeigt nun das Video „The Dust Channel“? Am Anfang sehen wir ein junges Paar im Bett. Nach dem Erwachen fangen sie an zu singen und singen dabei vor allem vom „Sanften Saugen“. Dabei gehjt es um eine Fetisch-Beziehung zum Staubsauger Dyson Seven, um den sich immer groteskere Dinge drehen. Er wird ins Bett gelegt und mit Kleidung ausgestattet. Ein Zimmermädchen kommt herein und nimmt eine extrem sexualisierte Reinigung des Dyson vor. Ein Polizist betritt die Szene und es wird immer burlesker. Dazwischen sehen wir einen Deutschen, der in einer Dyson-Fabrik arbeitet, abends immer Teile einer Dyson herausschmuggelt, um seiner Frau diesen fantastischen Staubsauger zu basteln – aber es wird doch nur immer ein Maschinengewehr daraus. Eingeschoben in das Ganze sind immer wieder Exkurse zur israelischen Flüchtlingspolitik mit passenden Zitaten entsprechender Politiker. Das Ganze ist ein wunderbares Video mit einem gehörigen Schuss jüdischem Humor – man wünschte sich mehr derartiger Artefakte auf dieser documenta.

Regina José Galindo

Als aufklärerische Einsätze mit Zivilcourage schätze ich viele künstlerische Aktionen von Galindo. Sei es ihre Aktion vor dem Verfassungsgericht in Guatemala 2003. Oder ihre Aktion in Venedig, bei der sie 2001 kahlgeschoren durch die Lagunenstadt lief. Vielleicht besteht im Erfolg dieser Aktionen aber auch eine Gefahr bzw. eine Verführung, nämlich die Protestaktionen ständig zu wiederholen. Irgendwann erkennt man aber ein sich ständig wiederholendes Muster – es ist dann nicht mehre existentiell, sondern die Anwendung eines Schemas, das nahezu blind angewendet wird. Politisch engagierter Künstler als Beruf – Klaus Staeck lässt grüßen.

Wo also findet die nächste Ausstellung statt? In Deutschland und wo in Deutschland? In Kassel. Na, dann nehmen wir den Leopard-Panzer und das Sturmgewehr G36 – passt doch. Beides wird so eingesetzt, dass scheinbar eine existenziell bedrohliche Situation entsteht. In einem Fall läuft die Künstlerin vor einem sie unerbittlich verfolgenden Leopard-Panzer davon (im Palais Bellevue), im anderen Fall lässt sie scheinbar mit G36-Sturmgewehren auf sich schießen (im Kasseler Stadtmuseum). Irgendwann wird das billig, oder höflicher gesagt: plakativ. Und irgendwann wird alles gleich-gültig. Mit Kunst hat das immer weniger zu tun. Denn die Grenzen, die Galindo überschreitet, sind keine der Kunst, und aktuell nicht mal solche des politischen und existentiellen Diskurses.

Existentielle Grenzüberschreitungen haben seit Marina Abramovic eine gewisse Tradition, aber es wird immer berechenbarer, immer routinierter und darin den sich überbietenden Grenzüberschreitungen des Trivialfernsehens und der Popkultur immer ähnlicher. Es gibt auch einen existentialistischen Monumentalismus. Die intendierte hehre Symbolik macht es dabei nicht besser. Abgesehen davon, dass jeder weiß, das Galindo bei ihrem Wettrennen mit dem Leopard nicht einmal ansatzweise ihr Leben aufs Spiel setzt, sondern nur so tut als ob.

Die Bilder, die so entstehen, werden denen des Computerspiels Call of Duty immer ähnlicher. Aber die Künstlerin ist ja nun auch seit 20 Jahren im Geschäft der Zuspitzung existentieller Situationen. Was aber möchte eine in Guatemala geborene Aktions- und Body-Art-Künstlerin mir mit ihrer Kunst über den Leopard 2 mitteilen? Dass Panzer etwas Schlechtes sind, weil sie Menschen bedrohen? Dass sie Exportgüter sind – wenn auch nicht nach Guatemala? Das alles wird seit Jahren öffentlich diskutiert und die Texte dazu füllen Bibliotheken. Was ist aber das spezifisch Kunsthafte an ihrer Aktion? Das Sich-dem-Panzer-konkret-Aussetzen? Die Erkenntnis, dass ein Panzer ausdauernder ist als ein Mensch? Wer hätte das jemals bezweifelt? Ich glaube auch nicht, dass man den Schrecken eines Panzers besser versteht, wenn man sich ihm physisch aussetzt. Es sei denn, man habe einen Mangel an Phantasie. Dann hilft es auch nicht, wenn ich auf einem Video eine Frau vor dem Panzer wegrennen sehe.

Rebecca Belmore

Dies ist mehr ein Kommentar zum Kommentar als zum Kunstwerk. Im Documenta-Text zur Künstlerin heißt es

Am 10. März 1990 begann die sogenannte Oka-Krise. Sie zerriss die brüchige Fassade der moderaten kanadischen Gesellschaft und entblößte die dahinter liegende eitrige Wunde des Kolonialismus.[2]

Ehrlich gesagt, bis ich diese Sätze im documenta-Daybook las, hatte ich noch nicht von der so bedeutenden den Kolonialismus entlarvenden Oka-Krise gehört. Und auch die Sätze mit den durcheinandergebrachten Metaphern machten das ganze kaum besser. (Wirklich: Fassaden, hinter denen eitrige Wunden liegen? Und was ist der Kolonialismus in diesem Bild: der Eiter oder die Wunde? Vermutlich doch weder das eine noch das andere, sondern die Infektion, die die Wunde eitern lässt. Oder ist gemeint, dass der Kolonialismus eine eiternde Wunde hat?) Ich will nicht missverstanden werden: Dass man den Unterdrückten bzw. den indigenen Völkern Stimme verleiht bzw. ihre Stimme zu Gehör bringt, finde ich ein Unterfangen, das man unterstützen sollte. Aber dann sollte man die Sprache auch Wert schätzen und nicht so nachlässig mit ihr umgehen. Wie schrieb schon der documenta Leiter Adam Szymczyk:

„Erinnern wir uns an diese Zeilen aus dem Buch Hesekiel. ‚Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, iß, was du vor dir hast! Iß diese Schriftrolle und gehe hin und rede zum Hause Israel! Da tat ich meinen Mund auf, und er gab mir die Rolle zu essen.‘ Im Psalter werden die Worte Gottes ‚süßer als Honig‘ genannt: ‚Sie sind köstlicher als Gold und viel feines Gold. Sie sind süßer als Honig und Honigseim.‘ Also kann Sprache – da man mit ihr geboren wird, oder sie wiederfindet, oder eine neue schafft, eine Art Lexikon – ein Nährmittel sein, Hunger dagegen eine Art von Widerstand.“

Dann sollte Sprache aber auch etwas sein, das auch im Daybook der documenta gepflegt wird.

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Anmerkungen

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/108/am597.htm
© Andreas Mertin, 2017