„Ich aber beschloß nun, Politiker zu werden.“

Kursorische Notizen zum ethischen Regiment der documenta 14

Andreas Mertin

Wenn sich etwas aufdrängt angesichts dieser documenta 14 des Jahres 2017, dann der Eindruck, dass zunächst grundlegende politische und gesellschaftstheoretische Entscheidungen von den Kuratoren getroffen wurden und dann dazu passende Kunst bzw. dazu passende Künstlerhaltungen ausgesucht wurde. Es ging also um Illustration.

Wolfgang Ullrich ging in einem Text des Perlentauchers so weit, von einem sich deutlich abzeichnenden Schisma in der Kunstwelt zu sprechen:

Werke für Kuratoren, die das Distinktionsbedürfnis der Diskurseliten, und Werke für den Markt, die das der Oligarchen befriedigen, spalten sich soweit ab, dass der gemeinsame Begriff Kunst nicht mehr zutrifft. Sicher wird das Schisma nicht so ablaufen, dass aus dem kalten Krieg ein heißer Krieg wird. Im Gegenteil hat man sich, je weiter man ausein­anderdriftet, umso weniger zu sagen. Schließlich nimmt man sich gegenseitig kaum noch wahr.[1]

Nun ist die Kritik an der Kuratorenkunst und deren Kulturinszenierungen[2] so alt, wie es dieses Phänomen gibt. Aber eigentlich waren auch die Ausstellungen davor schon hochgradig inszeniert, denken wir nur an die ersten drei documenta-Veranstaltungen unter Arnold Bode. Nur waren die Paradigmen damals andere als heute. Weniger politisch waren sie nicht, nur war der politische Anspruch der Präsentation von Westkunst als freier Kunst gegen die Kunst totalitärer Systeme nicht so direkt einzelnen Werken und Künstlerhaltungen zu entnehmen. Es war mehr der Gestus der Gesamtveranstaltung documenta als Präsentationsort der Westkunst als der konkrete Inhalt. Das hat sich geändert und wurde verschärft bei den letzten fünf Documenta-Ausstellungen, vor allem denen unter Catherine David (1997), Okwui Enwezor (2002), Carolyn Christov-Bakargiev (2012) und nun Adam Szymczyk (2017). Nur Roger M. Buergel bildete mit der Migration der Formen eine Ausnahme – ohne wirklich aus der Linie der Thematisierung globalgesellschaftlicher Prozesse auszuscheren.

Trotzdem tritt erstmalig mit der documenta 14 auch bei den professionellen Beobachtern der Kunstszene ein tiefgreifendes Unbehagen zu Tage. Bisher, so ist mein Eindruck, brachte die unbestreitbare Entwicklung zu einer Kuratorenkunst und der Politisierung der Inszenierungen eben auch eine Fülle interessanter Kunstpositionen zum Vorschein, die von den Kuratoren jeweils auch mit den Kunstpositionen der gesellschaftlich goutierten Kunst verknüpft wurden. Man sah also alternative Positionen, aber eben auch vertraute Positionen der aktuellen Kunst, nun aber in ganz anderen Beziehungen.

Damit wurde auf der aktuellen Documenta gebrochen. Nicht, dass auf bekannte Positionen des Betriebssystems Kunst verzichtet wurde. Ganz im Gegenteil. Wer die ausgestellten Kunstpositionen mit der Kunstdatenbank artfacts.net abgleicht, kann feststellen, dass das Kuratorenteam sich durchaus am Markt orientiert hat.[3] [Wie überhaupt die Marktorientierung dieser Documenta[4] außerordentlich war – bis hin zum Devotionalienbier Sufferhead, der schwarzen Souvenir-Seife, den It-Schuhen von Yogoexport und der Begrenzung des Diskurses vor den Bildern exklusiv für die Choristen. Aber bei letzterem zeichneten sich schon die früheren Documenta-Ausstellungen durch ein geradezu päpstliches Verständnis von Vermittlung aus: nulla salus extra institutione.[5]]

Man könnte sogar ganz im Gegenteil sagen, dass die Kuratoren weitgehend auf das Offensichtliche und Bekannte gesetzt haben. Die professionelle Kritik setzt meines Erachtens zu Recht dort an, wo wirkliche Neu-Entdeckungen ausfielen, die die eingefahrenen Denk- und Sehweisen hätten korrigieren können. Nicht weil sie so ungewöhnlich war (oder so politisch oder so frech), stieß diese Documenta auf Kritik, sondern weil sie so banal war. Wenn ich an politisch motivierte Kunst denke, dann denke ich an Hans Haacke, an Maria Eichhorn, an Regina Galindo usw. Und siehe da, alle waren auf dieser Documenta versammelt. Da, wo dann doch einmal Namen vorkamen, die einem nicht schon von diversen anderen Ausstellungen und Biennalen bekannt waren, da war es vor allem Ethno-Folklore (wie bei Beau Dick). Oder es hatte gar nichts mit Kunst zu tun, sondern rekonstruierte irgendwelche Verbrechen vor Ort. Denkt man an die letzte Documenta zurück, so hatte sie – bei aller Kritik die auch damals geäußert wurde[6] – doch auch so bedeutende „Meisterwerke“ wie „The Refusal of time“ von William Kentridge.

Derlei Fragen nach den großen Werken bezeichnet die aktuelle Documenta-Leitung ironisch bzw. polemisch als „Große Lüge“. Sie wollen:

„die abgenutzte, politisch und ästhetisch so kompromittierende wie kompromittierte Begrifflichkeit der Large International Exhibition (LIE) hinterfragen und uns dieses Formats irgendwann vielleicht ganz entledigen. Und anstatt andauernd zu erklären, dass die documenta 14 nicht nur eine weitere Readymade-Biennale, -Triennale, -Quadrenniale oder selbst -Quinquenniale ist (obwohl die documenta tatsächlich seit den 1970er Jahren in einem vorhersehbaren Fünfjahresrhythmus in Kassel stattfindet), richten wir unsere Aufmerksamkeit lieber auf Sprachen – fast ausgestorbene oder vergessene, unterdrückte oder aus dem Nichts erschaffene. Denn diese werden dem, worum es hier geht und was wir einlösen wollen, viel besser gerecht als das hinlänglich bekannte Vokabular der Kunst-Events, Spektakel, LIEs und anderen Warenformen.“[7]

Nun lässt sich der Warencharakter der Kunst nicht durch eine documenta und auch nicht durch hunderte derartiger Ausstellungen zerstören. Man kann den Waren-Charakter der Kunst nicht bestreiten (auch die Documenta ist bei allen gegenteiligen Bemühungen immer eine Währung auf dem Kapitalmarkt der Kunst), man kann ihn ignorieren, aber dann gibt man den sonstigen Protagonisten auf dem Kapitalmarkt der Kunst nur mehr Macht. Sollte Wolfgang Ullrichs Diagnose zutreffen, dass sich ein Schisma in Kuratorenkunst und Oligarchenkunst abzeichnet, würde ich aus historischen Gründen auf die Oligarchenkunst setzen. Kapital ist eben nicht nur etwas Willkürliches, sondern folgt Logiken, die sich am Markt bewähren müssen: „solange Kunst überhaupt nach Brot geht, bedarf sie derjenigen ökonomischen Formen, die den Produktionsverhältnissen einer Epoche angemessen sind“.[8] Alles andere ist unaufgeklärt. Die Kuratoren müssen dem nicht folgen. Sie können Spiele spielen. Wenn diese scheitern – so wie das Spiel der aktuellen Documenta gescheitert ist – werden sie durch andere Spieler ersetzt. Lohnt sich das Spiel nicht mehr (für den Staat, das Land, die Stadt, die Sponsoren, das Publikum, die Kritik) geht man wieder ins Museum mit der Oligarchenkunst und erfreut sich daran. Im besten Fall kann die Kuratorenkunst die Oligarchenkunst durcheinander wirbeln, in Schwingungen versetzen, sozusagen die Karten neu mischen. Kuratorenkunst kann man aber nicht auf Dauer stellen, weil die immer kürzeren Verfallszeiten der kuratorischen Impulse das verhindern. Ganz nach dem Motto: Was kümmert mich mein Ausstellungskonzept von Gestern?

Man kann diese Schmalbrüstigkeit an der aktuellen Documenta gut beobachten. Sie lebt vom aktuellen Polit-Diskurs-Zirkus, also vom Zeitgeist. Als Adam Szymczyk sein Konzept einreichte, war die Griechenland-Krise auf dem Höhepunkt. Also hieß das Motto: Von Athen lernen. Im gleichen Jahr wurde die Gurlitt-Kunstsammlung entdeckt und die Frage der Raubkunst wieder virulent. Also wollte Adam Szymczyk nicht nur von Athen lernen, sondern auch die Gurlitt-Sammlung ausstellen. Das klappte nicht, also kehrte man zu alten Konzept zurück und zeigt nun Griechenlandbilder eines Vorfahren von Gurlitt und zwar, wie die Kuratoren schrieben, zur Denunziation der damaligen deutschen Intellektuellenklasse.

Dann aber kam die Flüchtlingskrise und nun wurde peu à peu Kunst zum Thema Flucht und Flüchtlinge eingeschleust – bis hin zu solch peinlichen Werken wie den Flüchtlingsrohren von Hiwa K vor der documenta-Halle. Die Krisen der Welt gehen aber weiter und nur der Zeitplan der documenta verhinderte vermutlich, dass weitere Krisenherde in den Ausstellungsfokus gerieten. Kuratorenkunst neigt dazu – insofern es nicht nur um die Frage der Szenografie, also der professionellen Inszenierung geht – sich vor allem darum zu kümmern, welche Sau gerade durchs politische „Theorie-Dorf“ getrieben wird (und es ist wahrlich ein Dorf). Diese Art der Kuratorenkunst eignet sich für Themenausstellungen in den Hauptstädten der Welt – aber gerade nicht für eine Documenta. Das wurde aktuell sinnenfällig.

Und man darüber hinaus kann mit Fug und Recht fragen, warum – wenn man sich schon an Krisenherden orientiert – nicht auch eine zentrale kulturelle wie politische Krise der Gegenwart zum Thema wurde: die Vernichtung der Kultur durch den Daesch. Hier herrschte Schweigen auf der Documenta 14. Wahrnehmbar waren nur die Betonabsperrungen, die verhindern sollten, dass islamistische Terroristen in die Menge der Documenta-Besucher fahren. Aber eine substantielle Auseinandersetzung zur Gefährdung unserer Kultur durch islamistische (meinetwegen auch: fundamentalistische) Kultur-Barbaren fand nicht statt. Warum nicht? ist das nicht hip genug? Passt es nicht in die Schemata? Man konnte auf der documenta Kunst finden, die sich über die Zerstörung palästinensischer Dörfer im Jahr 1948 aufregte oder die Absperrung einer zentralen Straße in Hebron, aber keine, die die Vernichtung ganzer Kulturen im Herrschaftsbereich des Daesch dokumentierte. Was aber ist mit Dura Europos – jener Stadt, die nicht nur die erste christliche Hauskirche, sondern auch Synagogen und antike Tempel besitzt? Wir wissen es nicht.[9] Aber dies ist auch nicht Thema dieser in dieser Frage unpolitischen Documenta. Ihr geht es nicht um Kultur. Ihr geht es eher um die alten als die Neuen Nazis. Sie will, dass wir alles verlernen, was wir bisher über Kunst und Kultur wussten. Das tut der Kunst nicht gut.

Regimente

Unter welchen Leitlinien wollen die Macher der documenta uns das Setting der Kunst in Kassel nahebringen? Vertrauen sie noch auf das ästhetische Regime der Kunst, welches die Dinge der Kunst nicht nach den Regeln ihrer Produktion, sondern nach ihrer Zugehörigkeit zu einem besonderen Sensorium und zu einem spezifischen Erfahrungsmodus qualifiziert? Oder setzen sie auf ein poetisches bzw. repräsentierendes Regime der Kunst, welches eine eigene sinnliche Sphäre der mimetischen Aktivitäten bestimmt? Oder bevorzugen sie nicht doch ein ethisches Regiment, indem die Tätigkeiten, die wir die Künste nennen, nicht als autonome verstanden werden? Die Alternativen von ethischem, poetischem oder ästhetischen Regiment der Kunst entnehme ich den Überlegungen von Jacques Rancière zur Widerständigkeit der Kunst, die ich in Heft 75 den Leserinnen und Lesern vorgestellt habe.[10]

Meine Vermutung lautet, dass die Kuratoren der d14 in der Bildenden Kunst

  • entweder bloß so etwas wie bloße Spiegel gesellschaftlicher Verhältnisse sehen (in diese Richtung kann eine gewisse Zahl der von ihnen ausgewählten und vorgestellten Kunstwerke gedeutet werden).
  • Oder aber sie sehen in manchen Kunstwerken nur eine poltisch-ethische Haltung verkörpert, die mit ihrer Weltsicht übereinstimmt, weshalb sie sie zur Illustration auswählen.
  • Oder – und das halte ich für das Wahrscheinlichste – sie sehen in einigen Kunstwerken und bei einigen Künstlerhaltungen eine Stimulanz zur Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse und erhoffen von der gesamten „fortschrittlichen Kunst“ Analoges. Das wäre die Rückkehr der Kunst zur engagierten Kunst.

Es spricht vieles dafür, dass hier tatsächlich eine Kulturalisierung globaler ökonomischer und gesellschaftlicher Konflikte vorgenommen werden soll. Nicht deskriptiv, in dem Sinne, dass die heutige Kunst derartige Prozesse von sich aus untersuchen und zum Thema der Kunst machen würden. Ohne Frage kann Politik, können gesellschaftliche Entwicklungen das außerästhetische Material sein, mit dem Künstlerinnen und Künstler arbeiten. Aber das ist in diesen Konzepten nicht gemeint. Gemeint ist eher ein normativer Akzent, dass man sich nämlich vorrangig jener Kunst zuwenden soll, die die intendierten politischen Prozesse fördere und sich von jenen abwenden, die an ihnen teilhaben. So verstehe ich jedenfalls Äußerungen einiger Theoretiker im South-Magazin. So heißt es in einem Text von Sotirios Bahtsetzis, er wolle   

„erörtern, wie sich der Prozess der Subjektivierung in den vergangenen Jahrzehnten infolge des Neoliberalismus und der Weiterentwicklung der Gesellschaft des Spektakels verändert hat, um der folgenden Frage nachzugehen: Welche künstlerischen Reaktionen wären mögliche Mittel des Widerstands gegen eine solche Politik?“[11]

Die alte marxistische instrumentelle Verdinglichung von Kunst ist hier von vorneherein gesetzt. Der Gedanke, dass Kunst unter einem anderen als dem ethischen Regiment stehen könnte, taucht gar nicht erst auf. Stattdessen wird der Kunst eine direkte Aufgabe in der politischen Auseinandersetzung zugewiesen:

"Die Arbeit von Künstler_innen besteht heutzutage hierin: Dispositive parrhesiastischer Affektivität herzustellen, die in der Lage sind, der Ikonizität und den festen Werten zu widerstehen, das heißt den semiotischen Dispositiven, die an der Macht sind und den kinematischen Avatar und das verschuldete Subjekt produzieren. Die Bestimmung der Kunst sollte es sein, die Art und Weise zu verändern, wie wir die Ökonomie angehen, damit diese unserer Ästhetik entspricht, und nicht, Subjekte so zu verändern, dass sie den Imperativen des Semiokapitalismus entsprechen (die sogenannte Kunst, die gemäß eines logozentrischen Konsenses und den etablierten Regeln von Verhaltensweisen, gesellschaftlichen Konventionen und des Welthandels gemacht und in Umlauf gebracht wird)."[12]

Übersetzt man dieses vor allem auf Einschüchterung[13] zielende Gerede in vernünftige Satzgehalte läuft es letztendlich auf Kants „Sapere aude“ in kapitalismuskritischer Ausrichtung hinaus: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“[14] Aber in vertraut alt-marxistischer Manier werden daraus nun Handlungsanleitungen für die Kunst fabriziert, weil man dem ästhetischen Regiment der Kunst nicht traut bzw. dieses für bürgerlich hält.

Walter Benjamin hat in seinem Aufsatz "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit"[15] versucht, den Gegensatz zwischen der faschistischen "Ästhetisierung der Politik" und der kommunistischen "Politisierung der Kunst" zu beschwören und hat das eine für verboten und das andere für erlaubt und geboten erklärt. Das war schon damals verzweifelt und leuchtet bis heute nicht ein. In Sachen Kunst ist der (Vulgär-) Marxismus ein außerordentlich schlechter Ratgeber. Man muss sich bei derartigen Beschreibungen immer fragen, was passiert, wenn die Kunst dieser Bestimmung nicht folgt. Wenn sie also nicht als williges Instrument bei der intendierten Veränderung der Ökonomie dient. Dann, so steht zu vermuten, ist sie eben Oligarchenkunst, steht auf der anderen, der falschen Seite, muss bekämpft oder zumindest ausgegrenzt werden. Dann dient sie der falschen Intellektuellenklasse. Ich unterstelle der jetzigen documenta-Leitung nicht, dass sie das macht. Ich glaube nur, dass dies die notwendige Konsequenz ihres Ansatzes ist. Das ethische Regiment hat für die Ästhetik immer fatale Konsequenzen. Im besten Fall, lassen sie auch ästhetisch arbeitende und wirkende Kunstwerke zu – das lässt sich bei einigen Arbeiten an dieser documenta beobachten. Im schlimmsten Fall denunziert sie sie als Kapitalkunst, als Warenform, als bürgerliche l’art pour l’art.

Es hat eine große Tradition kommunistisch und sozialistisch engagierter Künstler gegeben. Die Heftigkeit, mit der der Nationalsozialismus auf die Kunst und die Künstler der Moderne reagierte, hat nicht zuletzt auch mit diesem konkreten Einsatz der Künstler für politische Fragen zu tun. Ein guter Teil der Kunst der klassischen Moderne steht in enger Beziehung mit dem Aufbruch der Künstler nach der Novemberrevolution von 1918. Dabei ging der politische Impuls aber von der Kunst aus. Es waren nicht Kunsttheoretiker, die dekretierten, was Kunst zu leisten habe. Gerade die Novembergruppe stand etwa der Abstraktion sehr offen gegenüber. Das war aber eine Entwicklung, die sich aus der Kunst selbst heraus entwickelte. Das ist der Unterschied zur Jetzt-Zeit, bei der man zunehmend das Gefühl hat, das einige Kuratoren und ihre philosophischen Einflüsterer nur noch das zeigen, was ihnen ins politische (und sagen wir es klar: gesinnungsethische) Kalkül passt. Das ist tragisch.

Dennoch, auch das macht ja dieses Heft 108 des Magazins für Theologie und Ästhetik deutlich, gibt es trotz des gescheiterten Theorie-Rahmens einiges zu entdecken in Kassel. Man kann die Kunst den Kuratoren auch aus den Händen nehmen, sie gegen deren Strich lesen und sich unter ästhetischen Gesichtspunkten zu Eigen machen. Hanno Rauterberg hat in diesem Sinne in seiner kritischen Abrechnung mit der Documenta 14 von einigen Kunstwerken mit ästhetischem Eigensinn gesprochen.[16] Ich meine, es seien mehr als nur die zwei Kunstpositionen zu entdecken, die er explizit erwähnt (Roee Rosen und Romuald Karmakar).

Auf dieser Documenta freilich muss man sich mehr Mühe machen und mehr Zeit aufwenden, will man dem Motto der Gebrüder Grimm folgen:

Das Mädchen ging durch die Hintertüre nach dem Garten und rief:

»Ihr zahmen Täubchen, ihr Turteltäubchen, all ihr Vöglein unter dem Himmel, kommt und helft mir lesen, die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen.«

Da kamen zum Küchenfenster zwei weiße Täubchen herein und danach die Turteltäubchen, und endlich schwirrten und schwärmten alle Vöglein unter dem Himmel herein und ließen sich um die Asche nieder. Und die Täubchen nickten mit den Köpfchen und fingen an pick, pick, pick, pick, und da fingen die übrigen auch an pick, pick, pick, pick und lasen alle guten Körnlein in die Schüssel. Kaum war eine Stunde herum, so waren sie schon fertig und flogen alle wieder hinaus.

Diese Documenta benötigt zur Lese mehr als eine Stunde. Wie es um den Ertrag steht, muss der Besucher selbst erkunden.

Anmerkungen

[1]    Ullrich, Wolfgang (2017): Zwischen Deko und Diskurs. Essay. Herausgegeben von Perlentaucher. https://www.perlentaucher.de/essay/wolfgang-ullrich-ueber-kuratoren-und-kunstmarktkunst.html, zuletzt geprüft am 27.07.2017.

[2]    Vgl. Müller-Doohm, Stefan; Neumann-Braun, Klaus (Hg.) (1996): Kulturinszenierungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Edition Suhrkamp, 1937 = N.F., 937).

[3]    Nur einige zufällig nachgeschlagene Namen aus der aktuellen Documenta: Maria Hassabi (2859); Marta Minujin (627); Banu Cennetoğlu (1867); Vlassis Caniaris (2060); Kendell Geers (494); Andreas Angelidakis (3097); Kimsooja (247), Joseph Kosuth (163); Emily Jacir (873); Daniel Knorr (966); Khvay Samnang (2406); Cecilia Vicuña (2419); Antonio Vega Macotela (2278); Maria Eichhorn (625); Gerhard Richter (4); Sergio Zevallos (2835); Rebecca Belmore (2729); Roee Rosen (1988); Ibrahim Mahama (2738); Lois Weinberger (1287); Nairy Baghramian (652); Nevin Aladağ (687); Peter Friedl (462); Regina José Galindo (425); Nikhil Chopra (1700); Irena Haiduk (3917); Artur Żmijewski (175)

[4]    Ein theologischer Kollege, Sebastian Krause, notierte dazu in einem Leserbrief auf Spiegel online: „Ironischerweise ist das, was auf dieser documenta am Besten organisiert zu sein scheint, der Merchandise. An was man da alles gedacht hat: Tennissocken, Hocker, Tassen, Tattoos. Alles da. Schade, dass es da für einen handlichen Reader, den man dann auch tatsächlich lesen mag, nicht mehr gereicht hat.“

[5]    Exemplarisch eine Situation vor dem Palais Bellevue: ich stand mit einer Gruppe von Freunden vor dem Gebäude und erläuterte ihnen, was sie in diesem Haus erwarten würde und was sie auf keinen Fall verpassen sollten. Schon schritt eine Aufsicht auf mich zu und fragte, ob ich denn ein Chorist sei. Auf meine negative Antwort hin beschied er mich, dass Führungen auf der documenta nur von Choristen erlaubt seien. Abgesehen davon, dass ich mich mit meinen Freunden im öffentlichen Raum befand, seine Auskunft also dem deutschen wie dem europäischen Recht widersprach (die Exklusion von Führungen kann sich nach deutschem Recht nur auf die Räume selbst beziehen, nicht auf den öffentlichen Raum davor), zeigt es aber auch, welches exklusive Top-Down-Verständnis die Kulturvermittlung der documenta charakterisiert. Es ist ein totalitäres und protektionistisches Verständnis. Protektionistisch, weil es die Ware der eigenen Kunstvermittlung vor fremden Kulturvermittlern schützt. Totalitär, weil nur solche Kunstvermittlungen zugelassen sind, die im Einklang mit dem Konzept der Documenta 14 stehen. Es ist eine Tendenz im gesamten Museums- und Ausstellungsbetrieb, derartige Reglementierungen vorzunehmen. Das ist Kulturkapitalismus pur.

[6]    Mertin, Andreas (2012): Was die Sphinx erzählt. Notizen zur dOCUMENTA(13). In: tà katoptrizómena - Magazin für Kunst | Kultur | Theologie | Ästhetik, Jg. 14, H. 78. http://www.theomag.de/78/am398.htm.

[7]    So Adam Szymczyk im South-Magazin.

[8]    Theodor W. Adorno: Vorschlag zur Ungüte. Gesammelte Schriften, 10.1, S. 334.

[10]   Mertin, Andreas (2012): Die Politik der Ästhetik. Ein Versuch, von Jacques Rancière zu lernen. In: tà katoptrizómena - Magazin für Kunst | Kultur | Theologie | Ästhetik, Jg. 14, H. 75. https://www.theomag.de/75/am379.htm.

[11]   Bahtsetzis, Sotirios (2017): Von der logokularen Anthropotechnik zu posthumanen Dispositiven. Überlegungen zu einem Manifest des postdiskursiven Zeitalters. In: Latimer, Quinn; Szymczyk, Adam (Hg.): South as a state of mind #4. Das Magazin der documenta 14. 1. Auflage, neue Ausgabe. Köln: König Walther (South as a state of mind 8.2016).

[12]   Ebd.

[13]   „Das Booklet zur Ausstellung dient nicht der Aufklärung, sondern der Einschüchterung.“ Martin Doerry über die documenta 14 im SPIEGEL.

[14]   Kant, Immanuel; Cassirer, Ernst; Brandt, Horst D. (Hg.) (1999): Was ist Aufklärung? Ausgewählte kleine Schriften. Hamburg: Meiner (Philosophische Bibliothek, 512).

[15]   Benjamin, Walter (2003): Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie. 1. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Edition Suhrkamp, 2424).

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/108/am600.htm
© Andreas Mertin, 2017