Was ich noch zu sagen hätte XXIII

Ein Blogsurrogatextrakt

Andreas Mertin


Hinweis: Dies ist die Zusammenfassung meiner Blognotizen der letzten Monate. Wer die Notizen tagesaktuell verfolgen will, kann dies in meinem Blog http://blogsurrogatextrakt.blogspot.de/ tun. Nach zwei Monaten werden diese dann gebündelt im Magazin publiziert.



02.06.2017 - Wo liegt eigentlich Nürnberg, Herr Kelle?

Der Kommentator aus dem tiefen Tal der Ahnungslosen, Herausgeber der Online-Postille The Germanz stellt sich heute ganz dumm und möchte einige Anfragen bei Angela Merkel loswerden. Anlass sind die Auseinandersetzungen um die geplante Abschiebung eines afghanischen Asylbewerbers aus dem Berufsschulunterricht in Nürnberg heraus. Eine derartige Maßnahme, einen Schüler im Unterricht festzunehmen, hält Kelle für "eine Routinemaßnahme". Der Schüler geht auch freiwillig mit (was Kelle unterschlägt), nur seine Mitschüler blockieren den Streifenwagen. Daraufhin wird, wie Kelle so schön schreibt, mit "Pfefferspray und Schlagstöcken ... dem Recht zum Durchbruch verholfen". Keinesfalls - wie sich noch erweisen wird, denn das bisher nicht eingeschaltete Amtsgericht wird die Abschiebehaft nicht genehmigen, weil es dafür keinen Anlass sieht! Soweit der Durchbruch zum Recht.

Kelle aber ist empört, erkennt sofort eine mögliche Gefährdung der BRD und schreibt:

Aber mal ernsthaft, Frau Bundeskanzlerin Merkel: Was macht man mit so einem Mann, der rechtlich nicht hier in Deutschland bleiben kann? Den wir aber auch nicht abschieben können, weil a) Afghanistan gefährlich ist und b) die zuständigen Landesregierungen mit grüner Beteiligung eh nicht abschieben.

Nun, daran ist einiges bemerkenswert. Wenn ich The Germanz richtig verstehe, liegt Nürnberg entweder in Baden-Württemberg oder Bayern wird von den Grünen (mit-)regiert. Oder Kelle schreibt Unsinn. Raten Sie mal.

Die herausgestellte Adressierung an die Bundeskanzlerin macht zudem nur Sinn, wenn diese spezifisch etwas mit dem Fall zu tun  gehabt hätte, wenn also der Flüchtling 2015 im Rahmen der damaligen Entscheidung Merkels nach Bayern gekommen wäre. Ist er aber nicht. Er ist vor vier Jahren(!), also 2013 als 16-Jähriger unbegleitet aus Afghanistan nach Bayern gekommen. Alle Verantwortlichkeit fällt damit der bayerischen Staatsregierung unter Horst Seehofer zu.

Und da stellt sich mir die Frage, warum der Neurechte Klaus Kelle unbedingt die Bundeskanzlerin für etwas verantwortlich machen will, was doch allenfalls dem Konservativen Horst Seehofer anzulasten wäre.

Über Kelles Rechts- und Staatsverständnis, das ernsthaft meint, zur Durchsetzung des Rechts müsse man Berufsschüler mit Pfefferspray und Schlagstöcken aus der Schule holen, will ich gar nicht erst reden.


03.06.2017 –  Abrechnung zu Pfingsten

Der glaubende Kolumnist auf The Germanz, Peter Winnemöller, beklagt sich über die Unkenntnis der Deutschen bezüglich des anstehenden Pfingstfestes, genauer: des Pfingstmontags. Dessen Begründung nennt er nun auch nicht, aber er weiß dann doch ein kleines Pfingstwunder zu berichten:

Pfingsten ist alljährlich wieder die Gelegenheit schlechthin, der Welt zu zeigen, wie wenig christlich unser Land noch ist. Auf die Frage „Was feiern wir an Pfingsten?“ wissen in unserem Land laut einer Emnid Umfrage aus dem Jahr 2016 gerade noch 4 Prozent die richtige Antwort. Das ist knapp die Hälfte der Bürger unseres Landes.

Genau, 4 Prozent ist knapp die Hälfte der Bevölkerung, so rechnet die AfD auch immer. Ich weiß, dem guten Mann ist nur eine 7 aus den Tasten gerutscht. 47% der Bevölkerung wissen, warum Pfingsten gefeiert wird, 75% immerhin, dass es ein christliches Fest ist und nur 23% wissen es nicht. Eigentlich kein Grund zur Klage. Aber Winnemöller möchte gerne klagen. Und er möchte auf die  biblische Überlieferung verweisen:

Das Zeugnis der Bibel allein ist relevant.

Nur ist das biblische Zeugnis nicht immer so eindeutig, wie es Leute wie Winnemöller es uns vormachen wollen. Wo genau Pfingsten sich ereignete, weiß Lukas, der Jahrzehnte nach den Ereignissen davon berichtet, nämlich nicht. Anders aber Winnemöller:

Danach ziehen sich die Apostel wieder in den Abendmahlsaal zurück und verschließen die Türen. Sie schotten sich vor der Welt ab. Angst aber auch Erwartung prägen die Tage vor Pfingsten. Man weiß nicht so recht, was da kommen wird. Dann aber rauscht es. Aber so richtig. Ein Sturm, Feuerzungen und Aufregung auf der Straße. Es passiert das Wunder, dass plötzlich jeder jeden versteht.

Das ist die Überlieferung der christlichen Tradition, aber nicht das Zeugnis der Heiligen Schrift. Die kennt nur ein Haus, in dem sich die Jünger versammelt haben. Alles andere ist Legende.

Und der Pfingstmontag? Nun in Italien ist er weitgehend ein ganz normaler Arbeitstag, ebenso in Spanien. Eigentlich ist er der verbliebene Rest des Pfingstoktav, das Papst Paul VI 1970 abschaffte.


07.06.2017 – Hauptsache gott-los?

In der hebräischen Bibel wird an exponierter Stelle ein Regelwerk für die Menschen vorgestellt, das bis heute fast universal das Zusammenleben der Menschen regelt. Es sind die Zehn Gebote, die in der einen oder anderen Variation in fast jede Gesetzgebung dieser Welt eingeflossen sind. Über die konkrete Zählung der einzelnen Gebote können sich die Religionen bzw. Konfessionen nicht ganz einigen, der Sachgehalt ist aber derselbe. Und dort, in Exodus 20 heißt es dann beim dritten Gebot katholischer / lutherischer Zählung bzw. beim vierten Gebot aller anderen Zählungen:

Gedenke des Sabbats: Halte ihn heilig! Sechs Tage darfst du schaffen und jede Arbeit tun.Der siebte Tag ist ein Ruhetag, dem Herrn, deinem Gott, geweiht. An ihm darfst du keine Arbeit tun: du, dein Sohn und deine Tochter, dein Sklave und deine Sklavin, dein Vieh und der Fremde, der in deinen Stadtbereichen Wohnrecht hat. Denn in sechs Tagen hat der Herr Himmel, Erde und Meer gemacht und alles, was dazugehört; am siebten Tag ruhte er. Darum hat der Herr den Sabbattag gesegnet und ihn für heilig erklärt. 

Es gibt wohl kaum ein Gebot, das dem Verlauf der kapitalistischen Welt in der Gegenwart mehr zuwider läuft, als dieses. Der unermüdliche Fluss des Kapitals und der Waren duldet keinen Aufschub und die Arbeitssklaven sollen möglichst rund um die Uhr schuften. Dem setzt die Bibel mit dem Verweis auf die Schöpfungsordnung entgegen, dass auch der Mensch ein Recht auf die Ruhe am siebten Tag habe.

So weit, so gut. Reaktionäre Katholiken, denen sonst kein Anlass zu schade ist, auf die gute Schöpfungsordnung Gottes zu verweisen (Naturrecht, Lebensschutz, Familie, Homosexualität), vergessen die Zehn Gebote sofort, wenn es um den Schutz der Arbeitnehmer vor Sonntagsarbeit geht. Klaus Kelle, der Meinungsführer von The Germanz, polemisiert gegen die Vorstellung der "linksextremen" Grünen, man müsse am Sonntag ruhen und nicht arbeiten. Und er hält ihnen wie der Bibel entgegen:

Begreifen sie nicht, dass Konsum und Flexibilität der Antrieb unseres Wohlstandes sind? Denken Sie nicht darüber nach, dass viele Menschen, die mit ihrem Einkommen nicht auskommen, froh sind, wenn sie am Wochenende in Teilzeit ihr Gehalt aufbessern können?

Da hat Gott wohl nicht nachgedacht, als er die Schöpfung vollzog und am siebten Tag ruhte. So ein Mist. Ob der katholische Meinungsprophet Kelle nun auch die Schlussfolgerung, die er gegenüber den Grünen zieht, auch auf Gott überträgt? Da bin ich gespannt:

Die Idee der niedersächsischen Grünen ist eine Schnapsidee. Vor allem aber belegt sie eindrucksvoll, warum diese Partei inzwischen überflüssig ist.

Wer für den Ruhetag eintritt, ist überflüssig. Na, denn gute Nacht Gott.


12.06.2017 – quod licet iovi non licet bovi

Sind religiöse Menschen eigentlich zur Abwägung aller Argumente verpflichtet? Müssen sie etwa als Journalisten überprüfen, dass das, was sie in die Welt tragen, auch wirklich noch der Meldungslage entspricht? Martin Luther schreibt in seiner Auslegung der 10 Gebote zum 8. Gebot: "Wir sollen Gott fürchten und lieben, daß wir unsern Nächsten nicht belügen, verraten, verleumden oder seinen Ruf verderben, sondern sollen ihn entschuldigen, Gutes von ihm reden und alles zum besten kehren."

Heute, am 12. Juni 2017 publiziert The Germanz einen Kommentar von einem Martin D. Wind, der sich über einen Beschluss des Parteitages der Linken aufregt, in dem die Kündigung der Staatskirchenverträge gefordert wird. Das war zugegebenermaßen ein dummer Beschluss. Das Problem ist nur, dass zum Zeitpunkt der Publikation des Textes von Wind dieser Beschluss gar nicht mehr besteht. Er wurde vom Parteitag zurückgenommen, weil die Delegierten die Trennung von Staat und Kirche fördern wollten, nicht aber jene Regelungen torpedieren, die diese Trennung gerade regeln. Der erste Beschluss war also von den Delegierten unter falschen Voraussetzungen gefasst worden und wurde umgehend korrigiert. 

Nicht korrigiert hat aber der Autor Martin D. Wind seinen einen Tag später publizierten Artikel, in dem er nun die Partei Die Linke heftig angreift und gegen sie mit Argumenten polemisiert, die nichts mit der Sache selbst zu tun haben. Statt wie die Parteitags-Delegierten die Sachlage zu erörtern, beginnt der Autor die Partei zu beschimpfen - übrigens mit Argumenten, die, wie deutsche Gerichte geurteilt haben, unzutreffend und unterlassungsbewert sind. Und der Autor hält der Partei vor, anders als die Kirchen schaffe diese keine Kindergärten, keine Krankenhäuser, keine Schulen etc. Nun wäre das auch gar nicht wünschenswert, es wäre eher ein Schritt in eine totalitäre Gesellschaft. Aber nun so zu tun, als ob die Kirchen Kindergärten, Schulen, Krankenhäuser etc. finanzieren würden, ist echt eine Frechheit. Sie bezuschussen diese, finanzieren sie aber nicht. Müssten die Kirchen alle Schulen, Krankenhäuser und Kindergärten finanzieren, die unter ihrem Namen auftreten, wären sie einen Monat später pleite. Nein, wir Steuerzahler und Krankenkassenmitglieder bezahlen das - egal ob Atheisten oder Gläubige.
Der Autor wirft nun der Linken eine Umverteilung von Vermögenswerten die eigentlich dem Volk gehörten, in die Taschen der Funktionäre vor. In Wirklichkeit wollten diese Funktionäre aber nur das Paradies für sich. Da hat er Recht, denn wie wir alle wissen, hatte jeder SED-Funktionär einen Büro-Tower in New York und eine Finka auf Mallorca. Mindestens.

Ich erinnere mich nun dunkel, dass der Autor einmal Pressesprecher eines Bistums war, dessen Bischof von Kirchensteuergeldern sich ein Paradies im Bischofspalast schaffen wollte. So etwa ein Koi-Becken im Wert von 213.000 Euro wie der kirchliche Prüfungsbericht ergab. Oder bronzene Fensterrahmen mit Mehrkosten von über 800.000 Euro. Und so weiter und so fort. Wäre es da nicht angemessen, man würde heute noch mal fragen, wo die Millionen der Kirchensteuerzahler versickert sind? Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen. 

Aber, wie gesagt, die Partei Die Linke hat den Beschluss längst korrigiert. Und ich warte nun ab, wie lange The Germanz braucht, einen bereits zum Zeitpunkt der Publikation nicht mehr zutreffenden Bericht zu korrigieren. Aber von den 10 Geboten halten sie vermutlich wenig.


20.06.2017 – Unkorrekt

Ein evangelikaler Spaßvogel namens Sebastian M. fragt sich auf kath.net, ob eigentlich "politisch korrekt" und "anständig" das Gleiche bedeuten. Ganz sicher nicht, das weiß man schon, bevor man den Artikel zu lesen beginnt. Eine anständige Tracht Prügel ist niemals politisch korrekt. Soweit zu den Trivialitäten.

Der Autor sucht nun ganz im Stil der Neuen Rechten das politisch Korrekte gegen das Anständige auszuspielen - natürlich zugunsten des Letzteren. Trotzdem sollte er dann doch ein wenig nachdenken, um nicht allzu dumm zu wirken. Was soll man von einem Autor sagen, der folgenden Satz herauswürgt?

Die erste nachweisebare(sic!) Verwendung des Begriffs „politically correct“ findet sich im Jahre 1970 bei einer feministischen Autorin aus den USA. Das Wort stammt also aus den Vereinigten Staaten und ist im Rahmen der Frauenbewegung entstanden, wo es sich offenbar bis heute recht wohl fühlt.

Vielleicht hätte er nach "politisch korrekt" suchen sollen? Er wäre dann schnell bei deutschen Veröffentlichungen des Jahres 1914, des Jahres 1920 usw. gelandet. In der von ihm gemeinten Form wäre er dann spätestens 1963 in einer Zeitschrift fündig geworden, in dem ein Autor über die Native Americans schreibt und in Klammern ergänzt: (die „politisch korrekt" eben nicht „Indianer" heißen). Also ist bereits Anfang der 60er Jahre noch vor der Studentenbewegung der Begriff der Politischen Korrektheit nicht nur in Amerika, sondern auch in Deutschland so bekannt, dass ein Autor ihn voraussetzen kann. Derselbe Autor schreibt übrigens in seinem Aufsatz in den Blättern für internationale Politik "Personal verwende ich stets die maskuline Form, weil ich des PC-sensitiven, geschlechtsneutralen Sprachgebrauchs im Deutschen nicht völlig kundig bin". Also stimmt nicht einmal das erste Argument des Textes unseres Spaßvogels Sebastian M. Überprüft er nicht, was er schreibt? Seine grundsätzliche Differenzierung von Privat und Politisch mutet nun etwas antiquiert an. Sie hat in der Sache noch nie gestimmt (das Privateigentum war für das Bürgertum lustigerweise immer politisch). Der Autor fährt fort: 

"Das Private ist politisch“ – so lautete ein Schlachtruf der Frauenbewegung, der in etwa zur selben Zeit entstand wie der Begriff ‚politisch korrekt‘.

Ich finde den Schlachtruf Jahre vorher in der Wochenzeitschrift DIE ZEIT und kann daher auch den Schlussfolgerungen daraus nicht folgen. Bis Ende der 50er-Jahre konnte ein Ehemann allein über die Beschäftigungsverhältnisse seiner Frau entscheiden, konnte ihr die Berufstätigkeit verbieten. War das anständig? Erst die von Frauen erhobene Forderung, dieses bis dahin als "Privat" Begriffene als Politisch zu begreifen, führte zur Änderung der Verhältnisse. Kein Anständiger hatte bis dahin daran gedacht, hier Gerechtigkeit herbeizuführen. Das Gleiche gilt übrigens für die Frage der Homosexualität, die bis 1994(!) in Deutschland diskriminiert wurde - ohne dass die Anständigen dieser Gesellschaft etwas getan hätten. Erst die Politisch Korrekten drängten hier auf Abhilfe. Aber respektiert haben die Anständigen die Homosexuellen vermutlich - auch wenn sie sie ins Gefängnis steckten. Ich will hier nicht schreiben, was ich ganz privat von dem kath.net-Autor halte, aber politisch gehört er zu den Reaktionären unserer Gesellschaft.


22. 07. 2017 – Homestory – Echt jetzt?

Von Umberto Eco gibt es in seinem Buch "Über Gott und die Welt" ein überaus interressantes Kapitel unter der Überschrift "Reise ins Reich der Hyperrealität". Dort schildert Eco die Neigung der Amerikaner, Szenen aus dem Leben berühmter Menschen hyperrealistisch nachzustellen. Dabei besucht er auch den Palace of Living Arts" in Los Angeles:

"Den Gipfel des Palace erreicht man in zwei Räumen. In dem einen sieht man van Gogh. Nicht etwa die Reproduktion eines bestimmten Bildes, sondern ihn selber. Der arme Vincent hockt da auf einem der Stühle, die er so oft gemalt hat, im Hintergrund ein zerwühltes Bett, wie er es ebenfalls dargestellt hat, und rings an den Wänden kleine van Goghs. Am eindrucksvollsten ist aber das Gesicht des großen Irren: aus Wachs natürlich, aber bemüht, des Künstlers hektischen und gequälten Pinselstrich wiederzugeben ..."

An diesen Text von Eco musste ich denken, als ich einen Blogeintrag las, der den Titel trug "Bei van Gogh im Zimmer". Ganz ergriffen schildert dort ein Kulturbeauftragter seinen Besuch im früheren Patientenzimmer von van Gogh. Und dann folgt ein Satz, der zeigt, wie viel den Kulturbeauftragten mit der amerikanischen Sicht auf Europa verbindet:

"In dieser fernen, heißen, winddurchschüttelten Provinz sind Bilder entstanden, die heute noch alle Welt kennt und die definieren, was als klassische Moderne gelten kann. Gemalt hat sie ein bettelarmer, abgrundtief verzweifelter, psychisch gefährdeter Ausländer."

Da reiht sich ein Klischee ans nächste. Bettelarm war van Gogh sicher nicht (noch während des Aufenthaltes wurde sein Bild "Die roten Weingärten von Arles" verkauft und sein Bruder kaufte ihm alle Bilder ab). Dass van Gogh die klassische Moderne definiert, kann zudem schlicht als falsch bezeichnet werden. Er gilt zwar als einer der Begründer der modernen Malerei, aber er ist kein Vertreter der klassischen Moderne. Diese ist später anzusiedeln. Aber der Text von Claussen macht mir deutlich, warum manche Menschen - statt Luthers Schriften zu lesen - lieber nach Wittenberg reisen oder die Wartburg besuchen. Der Hauch des Echten, des Authentischen, den man zu verspüren glaubt, wenn man sich dort aufhält, wo sich der Meister bewegte, ist von ähnlicher Aktualität wie das Zimmer van Goghs im Palace of Living Arts.


23.07.2017 – Hahnenschrei

Der evangelikale Fernsehmoderator Peter Hahne vermisst einen feministischen Aufschrei. Er möchte, dass diese sich empören, weil ein muslimischer Beamter seiner Kollegin den Handschlag zu ihrer erfolgten Beförderung verweigert hat. Das nennt man wohl ein argumentatives Spiel über die Bande. Denn was stört Hahne eigentlich? Dass ein Beamter seiner Kollegin nicht die Hand geben möchte - obwohl es dazu keine verfassungsrechtliche oder staatliche Notwendigkeit gibt? Oder dass die Feministinnen nichts dazu sagen - aber eben auch nicht die Gewerkschaft der Polizei, deren Vorsitzender doch sonst ungefragt zu allem seinen Senf abgibt. Und auch die Taubenzüchter aus dem Ruhrgebiet haben sich noch nicht zur Handschlagverweigerung geäußert. Das stört Hahne aber nicht und deshalb fordert er es auch nicht. Als Gockel kümmert er sich nur um die Frauen. Und hier natürlich um die feministischen. Ich frage mich, wenn ein jüdischer Polizist einer Frau den Handschlag aus religiösen Gründen verweigert hätte (»Schomer Negia«), ob Hahne dann auch laut aufschreien würde - wäre das auch keine Lappalie? Oder hat er nur einen Anlass gesucht um gegen Muslime und Feministinnen zugleich polemisieren zu können? Ich gebe sehr vielen Menschen nicht die Hand - aus vielerlei Gründen, freilich nicht aus religiösen. Menschen die Hand zu geben ist in Deutschland keine Pflicht. Menschen zu denunzieren, die den Handschlag verweigern, keine Tugend. Es hat Zeiten gegeben, da hat der Staat von seinen Bürgern verlangt, die rechte Hand zu heben. Wer das verweigerte, kam ins Konzentrationslager. Ich möchte keine Zeiten zurück, in denen mir der Staat vorschreibt, wem ich die Hand gebe und wem nicht. Und was ich mir für mich selbst ausbitte, fordere ich auch für meine jüdischen und muslimischen Mitbürger. Es gibt muslimische und jüdische Gruppen, die dem Handschlag vor allem zwischen den Geschlechtern skeptisch gegenüberstehen. Diese Haltung respektiere ich - auch wenn ich sie nicht teile. Auf keinen Fall sollte man daraus einen Religionskonflikt machen.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/108/am603.htm
© Andreas Mertin, 2017