documenta 14 |
NostalgiaÜber den neuerlichen Ausbruch der Schweizer Krankheit in Königsberg/KaliningradNorbert Weber Der Student Johannes Hofer aus Mühlhausen im Elsass reichte 1678 an der Universität Basel bei Johann Jakob Harder, dem Lehrstuhlinhaber für Anatomie und Theoretische Medizin, eine Dissertation ein, in der er eine Krankheit beschrieb, die er Nostalgia nannte. In seiner 20seitigen Schrift[1] erörterte der junge Mediziner, der nach seiner Rückkehr nach Mühlhausen zum Gemeindearzt und später zum Bürgermeister aufstieg, die Ursachen und Symptome dieser schweren Erkrankung. Er machte das Leiden mit einem Schlag in ganz Europa bekannt. Die Nostalgie wurde wie die Pest als epidemisch angesehen und allgemein für unheilbar gehalten. Hofer sah im Mangel an Muttermilch[2] bei den Schweizern einen möglichen Auslöser der Krankheit, als andere Ursache nannte er den Klang einer Melodie, die in der Schweiz „Kuhreigen“ genannt wird. In einem von Theodor Zwinger 1710 herausgegebenen Sammelband ausgewählter medizinischer Dissertationen wurde Hofers Doktorarbeit samt der Wiedergabe einer über mehr als drei Seiten gehenden Notenschrift eines solchen Liedes abgedruckt.[3] Wenige Jahre später erklärte der Schweizer Arzt und Naturforscher Johann Jakob Scheuchzer, dass das „so genannte Heimwehe, eine seltsame und gefährliche Krankheit, welche die Schweizer in fremden Ländern ausstehen müssen, vornehmlich von der Beschaffenheit der Schweizerischen Luft herrühre“, dass nämlich der hohe Luftdruck im Flachland die Blutzirkulation behindere und so zum Ausbruch der Krankheit führe.[4] Die Gefahr, die von der Nostalgie ausgeht, wurde schließlich auch im Tiefland erkannt. Der aus Oberfranken stammende Polyhistor Johann Georg Keyßler, brachte die Geschichte 1740 mit nach Lauenburg in Norddeutschland. Er schilderte anschaulich, was passiert, wenn Schweizer Rekruten „die Melodie, welche die Bauern in den schweizerischen Alpen bey ihrem Viehe zu pfeifen und zu singen pflegen“ hören. Sie fallen „aus unruhigem Verlangen in Mattigkeit, Bangigkeit des Herzens, schlaflose Nächte, Ekel vor Speisen, auszehrende und hitzige Fieber […] daher die Officiers hart verbiethen müssen, diese Melodie weder zu singen noch zu pfeifen.“[5] 30 Jahre später wurde die Bedrohung auch in Königsberg registriert. Kein Geringerer als Immanuel Kant nahm sich, nachdem er die von ihm lange erstrebte Berufung auf die Stelle eines Professors für Logik und Metaphysik der Universität Königsberg erhalten hatte, der Sache an. Das Nostalgie-Problem passte zwar überhaupt nicht in die Systematik seiner kritischen Philosophie, war ihm aber so wichtig, dass er es 1770 zum Gegenstand einer Vorlesung machte, die sein Schüler Georg Hesse in einem Manuskript dokumentiert hat.[6] Kant brachte seine Gedanken zu diesem Thema in der Publikation „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“[7], der letzten von ihm selbst herausgegebenen Schrift, 1798 auf den Punkt: „Das Heimweh der Schweizer (und wie ich es aus dem Munde eines erfahrnen Generals habe, auch der Westphäler und der Pommern in einigen Gegenden), welches sie befällt, wenn sie in andere Länder versetzt werden, ist die Wirkung einer durch die Zurückrufung der Bilder der Sorgenfreiheit und nachbarlichen Gesellschaft in ihren Jugendjahren erregten Sehnsucht nach den Örtern, wo sie die sehr einfachen Lebensfreuden genossen […]“.[8] 200 Jahre nach dem Erscheinen von Kants Beobachtungen über das Heimweh, werden Menschen, die an der Wirkungsstätte des großen Philosophen ihrer Jugendzeit nachhängen, erneut von diesem Leiden heimgesucht. Da in Kaliningrad kein Kuhreigen zu hören ist, muss es einen anderen musikalischen Auslöser geben. Vielleicht ist es jener Gesang, der seit dem Beginn der 1990er Jahre beim Dom, wo sich Kants Grab befindet, und in Hotels, in denen deutsche Reisende übernachten, zu hören ist: das „Ostpreußenlied“. Der von Herbert Brust Anfang der 1930er Jahre komponierte Choral ist bei den aus Königsberg geflohenen Deutschen zum Inbegriff der Sehnsucht nach der verlorenen Heimat geworden. Wie der Liedtext suggeriert ist die Musik so eindringlich, dass „Elche stehn und lauschen in die Ewigkeit.“[9] Brigitte Matern, eine aus dem Voralpenland stammende Autorin, womit das Thema Heimweh quasi dorthin zurückkehrt, wo es erstmals als Krankheitsbild erkannt worden ist beschrieb die Folgen der seit 1991 in Kaliningrad grassierenden Nostalgie in einer Schweizer Zeitung so: „Seither haben die sogenannten HeimwehtouristInnen das Land zu Zehntausenden besucht. […] Dass so viele Deutsche ihre alte Heimat wiedersehen wollen, hat den Aufbau von Hotels, Ein-Mann-Taxiunternehmen, Stadtreinigungsfirmen, Restaurants bewirkt. Doch das Ende ist absehbar, in zehn, fünfzehn Jahren […].“[10] 15 Jahre nach dem Erscheinen dieses Artikels ist die Epidemie immer noch nicht abgeklungen, vielmehr hat sie inzwischen auch die Einheimischen erfasst. Die infizierten Kaliningrader machen die Sehnsuchtsbilder derjenigen, die die Nostalgie eingeschleppt haben, zu architektonischen Kultobjekten, die wie Zaubermittel dazu dienen sollen, diese Krankheit zu lindern. Am deutlichsten kommt der Fetischcharakter dieser Bauwerke in der Kulissenwelt des „Fischdorfs“ zum Vorschein, das in den vergangenen Jahren am Ufer des Pregel in Sichtweite des Doms errichtet worden ist. Ihr eigentlicher Sinn ist nicht der Hausbau, sondern die Fassadengestaltung. Das Fachwerk hat hier nicht den Zweck, die Tragfähigkeit der Konstruktion sicher zu stellen, vielmehr ist es in Bastelmanier auf den Außenwänden angebrachtes Blendwerk, was wohl für die Zauberwirkung völlig ausreichend sein soll. Angesichts dieses Phantasiegebildes schwärmt der Investor von einem besonderen Ort „für Kaufleute und Händler, […] für Seeräuber und Fischer und einfache Menschen“, wo „prominente Menschen wie Kant und Suworow, Eiler[11] und Rastrelli, Peter der Erste und Wilhelm der Zweite, Münchhausen und viele andere historische Persönlichkeiten spazieren“[12]. Alle möglichen Ausdrucksformen der Architekturgeschichte führt der Bauherr ins Feld, um die Magie der Darbietung zu unterstreichen, darunter die „architektonische Stilistik der Ordensperiode, Gotik, Klassizismus, Barock, Modernismus.“[13] Dem deutschen Reisekonzern, der dort ein „Kaiserhof“ genanntes Hotel vermarktet, ist das wohl zu kompliziert. Die Edelherberge erscheint, wie er auf seinen Internetseiten resümiert, in einem von der Kunstgeschichte bisher nicht klassifizierten „alteuropäischen Stil“.[14] Dass eine solche Bezeichnung kunsthistorisch unhaltbar ist, spielt für einen Nostalgiker keine Rolle. Dem geht es darum, frei über die Vergangenheit zu verfügen, weil er so sein Heimweh auf einfachste Weise lindern zu können glaubt. So macht die Erfahrung des Heimwehs aus dem von diesem Leid betroffenen Menschen einen der Magie zugeneigten Gläubigen. Kant jedoch, der bemerkt hat, dass „dieses Heimweh mehr die Landleute einer geldarmen [...] Provinz, als diejenigen befällt, die mit Gelderwerb beschäftigt sind und das patria ubi bene sich zum Wahlspruch machen“[15], hält dem entgegen, dass es nicht darauf ankommt, „was die Natur aus dem Menschen macht“, sondern „was er als freihandelndes Wesen aus sich selber macht, oder machen kann und soll.“[16] Auf der Suche nach dem alten Königsberg stehen deutsche Sehnsuchts-Touristen am wiederaufgebauten Dom und blicken dorthin, wo einst das Königsberger Schloss stand. Im Krieg zerstört wurden die Ruinen 1968 endgültig dem Erdboden gleichgemacht. An seine Stelle erbaute man in den 70er Jahren einen anderen Dom, den „Dom Sowjetow“, einen 16stöckigen Verwaltungsbau für den Sowjet der Stadt, der nie vollendet wurde. Eines erschließt sich den deutschen Reisenden nicht. Das unvollendete Bauwerk ist im Prinzip ein Kind schnörkelloser deutscher Bauhaus-Tradition. Nostalgie macht blind. Anmerkungen[1] Hofer, Johann: Dissertatio curioso-medica, de nostalgia, vulgo: Heimwehe oder Heimsehnsucht. Basel 1678 (Ausgabe Jakob Pertsch, Basel 1745) [2] Hofer, Johann: De Pothopatridalgia. Vom Heim-Wehe. In: Zwinger (Hrsg.): Fasc. diss. med. select. Basel 1710, S. 95. [3] Ebd. S. 102-105. [4] Scheuchzer, Johann Jakob: Schweizer Heimweh oder die Nostalgia. In: Seltsamen Naturgeschichten des Schweizer-Lands wochentliche Erzehlung. Zürich 1716, Reprint Zürich 1978, S. 11. [5] Keyßler, Johann Georg: Neueste Reisen durch Deutschland, Böhmen, Ungarn, die Schweiz, Italien und Lothringen. Hannover 1740/41, S. 121. [6] Hesse, Georg : Collegium über die Physische Geographie. Vom Hrn. Profes. Kant gelesen Im Jahre 1770. Königsberg in Preussen. Zitiert nach: Kant's Vorlesungen. Herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Bd. II, Vorlesungen über Anthropologie. Erste Hälfte, bearbeitet von Reinhard Brandt und Werner Stark, Berlin 1997, S. LXII f. [7] Kant, Immanuel: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Akademie-Ausgabe Bd. VII. Berlin/New York 1902. [8] Ebd., S. 178. [9] Hannighofer, Erich: Land der dunklen Wälder. In: Hermann Luding (Hrsg.) Land der dunklen Wälder. Ostpreußische Dichtung unserer Zeit. Königsberg 1940, S. 8. [10] Matern, Brigitte: Als Kaliningrad noch Königsberg hieß. In: WOZ Die Wochenzeitung Nr. 44/97. Zürich 1997, S. 22. [11] Der Schweizer Mathematiker Leonhard Euler hat 1736 das Königsberger Brückenproblem von St. Petersburg aus ganz theoretisch gelöst. Er war nie in Königsberg und konnte folglich auch niemanden in dieser Stadt beim Spazieren mit der Schweizer Krankheit infizieren; Anm. d. Verf. [12] http://www.pfcompany.ru/de/projects (zitiert 01.11.2013, 09:46) [13] Ebd. [14] http://www.holidaycheck.de/hotel-Katalogbeschreibung_Heliopark+Kaiserhof-ch_kb-hid_221404-code_XTUI.html (zitiert 31.10.2013, 09:26) [15] Kant, Immanuel: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Akademie-Ausgabe Bd. VII. Berlin/New York 1902, S. 179. [16] Ebd., S. 119. |
Artikelnachweis: https://www.theomag.de/108/nw01.htm |