Was ich noch zu sagen hätte

Ein Blogsurrogatextrakt XXIV

Andreas Mertin

Homestory - Echt jetzt? - 22. Juli 2017 -

Von Umberto Eco gibt es in seinem Buch "Über Gott und die Welt" ein überaus interressantes Kapitel unter der Überschrift "Reise ins Reich der Hyperrealität". Dort schildert Eco die Neigung der Amerikaner, Szenen aus dem Leben berühmter Menschen hyperrealistisch nachzustellen. Dabei besucht er auch den Palace of Living Arts" in Los Angeles:

"Den Gipfel des Palace erreicht man in zwei Räumen. In dem einen sieht man van Gogh. Nicht etwa die Reproduktion eines bestimmten Bildes, sondern ihn selber. Der arme Vincent hockt da auf einem der Stühle, die er so oft gemalt hat, im Hintergrund ein zerwühltes Bett, wie er es ebenfalls dargestellt hat, und rings an den Wänden kleine van Goghs. Am eindrucksvollsten ist aber das Gesicht des großen Irren: aus Wachs natürlich, aber bemüht, des Künstlers hektischen und gequälten Pinselstrich wiederzugeben ..."

An diesen Text von Eco musste ich denken, als ich einen Blogeintrag las, der den Titel trug "Bei van Gogh im Zimmer". Ganz ergriffen schildert dort ein Kulturbeauftragter seinen Besuch im früheren Patientenzimmer von van Gogh. Und dann folgt ein Satz, der zeigt, wie viel den Kulturbeauftragten mit der amerikanischen Sicht auf Europa verbindet:

"In dieser fernen, heißen, winddurchschüttelten Provinz sind Bilder entstanden, die heute noch alle Welt kennt und die definieren, was als klassische Moderne gelten kann. Gemalt hat sie ein bettelarmer, abgrundtief verzweifelter, psychisch gefährdeter Ausländer."

Da reiht sich ein Klischee ans nächste. Bettelarm war van Gogh sicher nicht (noch während des Aufenthaltes wurde sein Bild "Die roten Weingärten von Arles" verkauft und sein Bruder kaufte ihm alle Bilder ab). Dass van Gogh die klassische Moderne definiert, kann zudem schlicht als falsch bezeichnet werden. Er gilt zwar als einer der Begründer der modernen Malerei, aber er ist kein Vertreter der klassischen Moderne. Diese ist später anzusiedeln. Aber der Text von Claussen macht mir deutlich, warum manche Menschen - statt Luthers Schriften zu lesen - lieber nach Wittenberg reisen oder die Wartburg besuchen. Der Hauch des Echten, des Authentischen, den man zu verspüren glaubt, wenn man sich dort aufhält, wo sich der Meister bewegte, ist von ähnlicher Aktualität wie das Zimmer van Goghs im Palace of Living Arts.

Hahnenschrei – 23. Juli 2017

Der evangelikale Fernsehmoderator Peter Hahne vermisst einen feministischen Aufschrei. Er möchte, dass diese sich empören, weil ein muslimischer Beamter seiner Kollegin den Handschlag zu ihrer erfolgten Beförderung verweigert hat. Das nennt man wohl ein argumentatives Spiel über die Bande. Denn was stört Hahne eigentlich? Dass ein Beamter seiner Kollegin nicht die Hand geben möchte - obwohl es dazu keine verfassungsrechtliche oder staatliche Notwendigkeit gibt? Oder dass die Feministinnen nichts dazu sagen - aber eben auch nicht die Gewerkschaft der Polizei, deren Vorsitzender doch sonst ungefragt zu allem seinen Senf abgibt. Und auch die Taubenzüchter aus dem Ruhrgebiet haben sich noch nicht zur Handschlagverweigerung geäußert. Das stört Hahne aber nicht und deshalb fordert er es auch nicht. Als Gockel kümmert er sich nur um die Frauen. Und hier natürlich um die feministischen. Ich frage mich, wenn ein jüdischer Polizist einer Frau den Handschlag aus religiösen Gründen verweigert hätte (»Schomer Negia«), ob Hahne dann auch laut aufschreien würde - wäre das auch keine Lappalie? Oder hat er nur einen Anlass gesucht um gegen Muslime und Feministinnen zugleich polemisieren zu können? Ich gebe sehr vielen Menschen nicht die Hand - aus vielerlei Gründen, freilich nicht aus religiösen. Menschen die Hand zu geben ist in Deutschland keine Pflicht. Menschen zu denunzieren, die den Handschlag verweigern, keine Tugend. Es hat Zeiten gegeben, da hat der Staat von seinen Bürgern verlangt, die rechte Hand zu heben. Wer das verweigerte, kam ins Konzentrationslager. Ich möchte keine Zeiten zurück, in denen mir der Staat vorschreibt, wem ich die Hand gebe und wem nicht. Und was ich mir für mich selbst ausbitte, fordere ich auch für meine jüdischen und muslimischen Mitbürger. Es gibt muslimische und jüdische Gruppen, die dem Handschlag vor allem zwischen den Geschlechtern skeptisch gegenüberstehen. Diese Haltung respektiere ich - auch wenn ich sie nicht teile. Auf keinen Fall sollte man daraus einen Religionskonflikt machen.

1. August 2017 - Rückkehr des Führerprinzips?

Gestern, am 31. Juli 2017 meldet die evangelikale Plattform für Desinformation, idea, "führende Theologen kritisieren Haltung der Leitung der EKD zur Ehe". Ich wusste gar nicht, dass wir so etwas wie "führende Theologen" haben. An der einen oder anderen Stelle in der Kirche gibt es "leitende geistliche Ämter" oder Landeskirchenämter, aber "führende Theologen"? Wen führen sie denn und in welchem Wettstreit welcher großer Geister sind sie führend? Nun ist das mit den "führenden Theologen" bei Journalisten immer so ein daher gesagter Terminus. Manchmal wird ja auch der Vizepräsident der EKD als "Chef-Theologe" bezeichnet. [Da fragt man sich, wie sich wohl der Chef-Theologe im Verhältnis zu den führenden Theologen bzw. zu den Führer-Theologen einordnet?]

Jedenfalls findet man dann unter dieser Überschrift eine Paraphrase eines Textes der Landessuperintendentin des Sprengels Hannover und des Leiters der Ev. Akademie Loccum zu Reaktion des Rates der EKD auf den Beschluss des Bundestages zur "Ehe für alle". Nun gibt es vergleichbare Posten in der Evangelischen Kirche in Hülle und Fülle, ohne dass die Betreffenden gleich als führende Theologen charakterisiert würden. Und in der Sache würde es spätestens dann lustig, wenn die Überschrift protestantisch eher zutreffend lauten würde: zwei führende Theologen (unter 22.000.000 Millionen führenden Theologen) kritisieren die im Rat der EKD versammelten 15 führenden Theologen. Denn bei allem Respekt vor kirchlichen Funktionsträgern: das allgemeine Priestertum der Getauften verhindert den Weihestand irgendwelcher führenden Denkerinnen und Denker. Sie sind wie alle anderen Getauften auch, zum Gespräch und zur Diskussion und zum Zeugnis gerufen.In der Sache sehe ich nun im Text der beiden Theologen wenig Neues und wenig Gewinn. Es ist eine Steilvorlage für konservative und reaktionäre Kreise in der Kirche - das ist das gute Recht der Verfasser -, nimmt aber sonst eine Rhetorik auf, die jeder in Anspruch nehmen kann: dass es an der Basis grummelt. Mag sein, kommt auf die Basis an. An meiner grummelt es nicht, hier wurde sowohl die Entscheidung des Bundestages wie des Rates der EKD begrüßt. Aber das kann natürlich in der Kirchengemeinde der beiden "führenden Theologen" anders sein. Man sollte sich nur nicht auf die murrende Basis berufen, nur weil man selbst Probleme mit einer Meldung der EKD hat. Sapere aude - keine Faulheit und Angst, immer heraus mit den Argumenten. Aber die vermisse ich im Artikel der beiden. Er ist mir schlichtweg zu diffus.

28.8. 2017 – Kluge Köpfe im Glashaus

Es gibt bei einer großen Zeitung, hinter der angeblich immer ein kluger Kopf steckt, Berufskritiker des Protestantismus, bei denen man sich fragt, wovon sie eigentlich angetrieben sind. Mit der Dynamik der gesellschaftlichen Wirklichkeit haben deren Beschreibungen der Evangelischen Kirche wenig zu tun. Und es ist schon interessant, wenn diejenigen, die im Glashaus sitzen, immer kräftig mit Steinen werfen. Unter der Überschrift "Die letzte Party des Gremienprotestantismus" diagnostiziert besagter EKD-Kritiker der FAZ auf einem Podium in Hannover eine "Reformunfähigkeit" der evangelischen Kirche, die „in wichtigen Fragen seit Jahrzehnten nicht vom Fleck gekommen“ sei. Das kann man so sehen, begründet aber nicht, warum auch Freikirchen und Katholiken unter ähnlichen Problemen leiden (und die Parteien und die Gewerkschaften unter noch viel größeren). Und dann wird mit Statistiken operiert, die Prognosen für das Jahr 2030 entwickeln. Auch das kann man machen. Es könnte so kommen ist immer ein nettes Argument. Die Gründe dafür zu benennen, ist in aller Regel Kaffeesatzlektüre. Mich interessieren aber eher Statistiken, die auf die letzten 20 Jahre blicken. Denn das ist eine reale Entwicklung und nicht spekulativ.

Ich vergleiche also mal die Mitgliederentwicklung der EKD mit der Verbreitung der FAZ. Und ich wähle als Vergleichszeitraum das Jahr 1998 und den Beginn des Jahres 2017. Ich setze beide Werte für das Jahr 1998 auf 100 und schaue mal, wie sich die beiden Werte im Vergleich zum Jahr 2017 darstellen. Das Ergebnis sieht so aus:

Die EKD hat in diesem Zeitraum, wenn ich es recht sehe, erschreckende 19,1% an Mitgliedern verloren. Die FAZ, für die der EKD-Kritiker arbeitet, aber vernichtende 43,1% ihrer Verbreitung. Hat man da nicht den Bock zum Gärtner gemacht? Was qualifiziert eine Institution, die 43% ihres Bestandes verliert, dazu, ätzende Kritik an einer anderen Institution zu üben, die nur 19% verloren hat? Man stelle sich nach einer Bundestagswahl vor, eine Partei, die fast die Hälfte ihrer Wähler verloren hat zeige hämisch auf eine andere Partei, die nur ein Fünftel der Wähler verlor. Das wäre doch merkwürdig.

Ja, die Situation der Presse ist in Deutschland in den letzten beiden Jahrzehnten durch das Aufkommen des Internets problematisch geworden. Und die Situation der Kirchen in Europa durch die Entkirchlichung ebenfalls. Aber apokalyptische Szenarien zu entwerfen, wenn man selbst schon im Abgrund sitzt, ist doch irgendwie verquer. An der EKD gibt es nichts zu beschönigen, aber man sollte doch die Relationen wahren.Wie die Studie Generation What? gezeigt hat, ist der Vertrauensverlust in die kirchlichen Institutionen europaweit und nicht ein Phänomen der EKD. Und dieser gesellschaftlich bedingte Verlust lässt sich eben nicht durch eine bestimmte Programmatik aufhalten. Sonst müssten irgendwo andere Entwicklungen zu beobachten sein, weil die Kirchen Europas ja extrem unterschiedlich sind. Das ist aber nicht der Fall. Insofern hilft der erhobene Zeigefinger des FAZ-Redakteurs nicht weiter.

13.09.2017 Documenta-Nachlese 01

Die documenta 14 geht ihrem Ende zu. Dunkle Wolken trüben den Rückblick auf das diesjährige Kunstereignis. Zum ersten Mal in der Geschichte dieser Institution war diese de facto pleite und konnte nur durch eine Intervention ihrer Gesellschafter gerettet werden. Dem Vernehmen nach war es vor allem das Abenteuer Athen, das die Documenta beinahe in den Abgrund gerissen hätte. In den nächsten Wochen werden Wirtschaftsprüfer über die genauen Ursachen Auskunft geben. Von schmerzhafter Ironie ist es, dass wieder einmal die linken Theoretiker ihrer ökonomischen Unfähigkeit überführt wurden. Die ganze Welt ändern möchte man und kann nicht einmal einen überschaubaren 100-Tage-Betrieb steuern. Eine Groteske, die freilich historische Vorbilder hat. „Solange Kunst überhaupt nach Brot geht, bedarf sie derjenigen ökonomischen Formen, die den Produktionsverhältnissen einer Epoche angemessen sind“ hat Adorno einmal geschrieben - aber die Documenta-Leitung meinte wohl, das gelte für sie nicht. Dennoch meine ich, dass diese documenta besser als ihr Ruf war. Nicht in Bezug auf das lautstark proklamierte Konzept ihrer Kuratoren, wohl aber in einzelnen herausragenden Werken. Aber selbst das Konzept der Kuratoren ist, wenn man mal den Schutt des kulturalisierten Anti-Neoliberalismus beiseite lässt, und es unter dem Stichwort der Sprachen (der verborgenen und verbotenen, der unerhörten und ungesehenen Sprachen) rubriziert, durchaus interessant. Gerade dort, wo es um Stimmen ging (seien es orthodoxe Hymnen, Oden an Staubsauger oder unausprechbare Tänze auf dem Wasserfall) war die Documenta 14 gut. Und deshalb will ich in den folgenden Tagen eine Nachlese der überzeugendsten Werke vornehmen. Ganz im Sinne des 1. Briefes an die Thessalonicher: "Den Geist löscht nicht aus. Prophetische Rede verachtet nicht. Prüft aber alles und das Gute behaltet."

13.09.2017 Documenta-Nachlese 02

Wenn man dem Parcourvorschlag der documenta-Leitung folgte, stieß man zunächst auf die Kunstwerke der vormaligen U-Bahnhofes von Kassel. Die Entdeckung und Freilegung dieses Ortes gehört sicher zu den gelungenen Werken dieser Documenta. Und auch die Arbeit der südafrikanischen Gruppe iQhiya in der Zwischenetage fand ich beeindruckend. Die überzeugendste Arbeit an diesem Ort war aber die zunächst verwirrende Video-Installation "The Course of Empire" von Michel Auder. Der Ausgang der U-Bahn-Tunnels war von 14 Monitoren verstellt, die ebenso viele Filme präsentierten - ein Gefühl davon, wie Simultanität sich ereignet überkam einen. Zugleich waren die gezeigten Bilder aber durchaus kulturell gehaltvoll und anspielungsreich - das Gehirn versuchte ständig, Zusammenhänge herzustellen. Was verbindet die flämische Malerei mit Tillman Riemenschneider und Jeff Koons und was diesen mit Frida Kahlo?

13.09.2017 Documenta-Nachlese 03

Folgt man weiter dem vorgeschlagenen Parcours der Documenta-Leitung kommt man als Nächstes zur so genannten Neuen Neuen Galerie. Auch die Entdeckung dieses Ortes kann als gelungen gelten. Seine Banalität kontrastierte gut mit den präsentierten Kunstwerken.Aber auch viele der dort ausgestellten Werke waren vom Bann der Banalität geschlagen. Gelungen fand ich an diesem Ort zwei Arbeiten: die große Projektionsfläche von Theo Eshetu, die freilich besser hätte präsentiert werden können (ein Einwand der gegenüber vielen Inszenierungen zu machen wäre). Was ist der Mensch, dass Du seiner gedenkst? (Psalm 8) - diese Frage wurde hier eindringlich gestellt. Die andere gelungene Arbeit waren die Borosana Schuhe von Irena Haiduk, deren Initiative von Erfolg gekrönt war. Zumindest wird der Verkauf nach der Documenta weitergehen. Und wir wollen hoffen, dass das Documenta-Publikum die Firma nach dem Event nicht vergisst. Überzeugend an dieser Arbeit war weniger, dass der Verkauf nach sozialen Kriterien erfolgte, sondern die Gespräche, die ihn begleiteten. Sicher werden manche beim Kauf per Internet auf die preiswerteste Kategorie klicken, auch wenn sie zu den Privilegierten gehören, aber dann erweisen sie sich eben als Schmarotzer. Wenn sie damit leben können. Erwähnenswert zumindest finde ich die Arbeit von Ahlam Shibli, die sich wenigsten für die Menschen interessierte, die rund um das Ausstellungsgebäude leben - was man von vielen anderen Ausstellenden nicht behaupten kann.

14.09.2017 Documenta-Nachlese 04

Der Königsplatz, der nächste bedenkenswerte Ausstellungsort der documenta, erwies sich vor allem für Olu Oguibe als Glücksgriff. Ein wohl durchdachtes, provokatives Kunstwerk, das zumindest den Nerv der AfD getroffen hat, die nun ihre stupende Dummheit dadurch dokumentiert, dass sie unter dem Wort Jesu Christi für die Aufnahme der Flüchtlinge gegen die Aufnahme der Flüchtlinge protestieren will und damit das christliche Abendland zu verteidigen meint. Obelisken waren so oder so immer entlarvend. Die Stadt Kassel aber hat sich die in diesem Kunstwerk ausgedrückte Anerkennung wohl verdient. Ich hoffe, auch noch bei der nächsten Documenta auf dieses Kunstwerk zu treffen.

14.09.2017 Documenta-Nachlese 05

Der nächste Ort, die nächste Herausforderung. Zur Inszenierung des Fridericianums ist schon viel geschrieben worden, das braucht an dieser Stelle nicht wiederholt zu werden. Fragen wir lieber nach den Kunstpositionen, die man sich merken sollte. In negativer Hinsicht war das sicher das Zelt von Emily Jacir, das eine höchst einseitige Stellungnahme im Krieg zwischen Juden und Arabern in Palästina war. Positiv hervorheben will ich die Arbeit von George Hadjimichalis, der mit seinem poetischen Tisch eine wunderbare, die Phantasie anregende Arbeit ablieferte. Das ist ein Werk, das viel mehr Aufmerksamkeit verdient (vor allem, weil mir eine Aufsicht vor Ort sagte, dass fast die Hälfte der Besucher den Zusammenhang zwischen dem ausgestellten Tisch und den ihn umgebenden Fotos nicht begreifen würde).

14.09.2017 Documenta-Nachlese 06

Das Kunstwerk von Khvay Samnang im Ottoneum scheint auf den ersten Blick nicht religiös, es zeigt uns einen jungen Mann im Areng-Tal in Kambodscha, der an einem Wasserfall einen überaus merkwürdigen Tanz aufführt. Zur Documenta 14 passt diese Arbeit gut, weil der Künstler der tänzerischen Sprache der Volksgruppe der Chong nachgeht, die mit ihren Tänzen eine komplexe Kartografie des Geländes vornehmen und so ihren Lebensraum umreißen und Gebietsansprüche dokumentieren: „als ein auf elementarer Verkörperung beruhendes System, das auf Geschichten von Ahnen und mündlichen Erzählungen gründet. Der spirituelle Raum des Areng-Tales wird durch die Personifizierung dieser Geschichten bestimmt und mittels Körper dargestellt.“ Wie kann diese Sprache mit der Schriftsprache der Herrschenden in Konkurrenz treten? Für die Herrschenden ist die Körpersprache der Chong eine fremde Sprache. Wie können wir sie verstehen, ihre Rechte wahren und ihren Lebensraum schützen? 

15.09.2017 Documenta-Nachlese 07

Kommen wir zum nächsten Ausstellungsort der documenta 14: die documenta-Halle. Sie ist schwierig zu bespielen (und hatte dieses Mal sogar Kunstwerke, die man komplett übersehen konnte, etwa die Partitur an der Decke der Halle). Am stärksten beeindruckt hat mich die Indigo-Arbeit von Aboubakar Fofana, weil sie so unterschiedliche Faktoren miteinander ins Spiel brachte: die Erinnerung an die klassische Indigo-Malerei eines Jan Vermeer, an den Kampf der Chemie-Giganten, das natürliche Indigo zu ersetzen, an die Kunst, Indigo aus den passenden Pflanzen herzustellen und nicht zuletzt die Erinnerung an die Mobiles von Calder, die die blauen Kleider an der Decke hervorriefen. So kamen Kunst und Kulturgeschichte zusammen.

16.09.2017 Documenta-Nachlese 08

Die Arbeit im Westflügel der Orangerie ist natürlich konkurrenzlos, selbst wenn man die Arbeiten in der Aue mit hinzurechnet. Der Filmemacher Romuald Karmakar zeigte unter dem Titel Byzantion zwei orthodoxe Chöre, die nacheinander den gleichen Marien-Hymnus singen:  Agni Parthene.  Der Hymnus wurde nach seiner Entstehung so berühmt, dass zahlreiche orthodoxe Klöster ihn übernahmen und jeweils der ortsüblichen Tradition des Kirchengesangs angepasst. Die Wikipedia verzeichnet allein 19 unterschiedliche Klangbeispiele und benennt 24 verschiedene Versionen (von griechisch über russisch und ukrainisch bis spanisch, italienisch und sogar arabisch). Dem Künstler kommt es nun genau auf diese Dialekte an, auf die Besonderheiten der verschiedenen Sprachvariationen, die von der jeweiligen Kultur geprägt sind. Sprache kann etwas sein, das uns verbindet und zugleich unsere lokale Identität ausdrückt – es gibt kaum ein besseres Beispiel dafür.

16.09.2017 Documenta-Nachlese 09

Das Palais Bellevue, das als nächstes auf dem Parcours zu finden ist, hat sicher das anregendste Kunstwerk dieser documenta beherbergt. Die Rede ist vom Dust-Channel von Roe Rosen, ein Meisterwerk der Ironie und des politischen Engagements zugleich. Seine Ode auf den beutellosen Staubsauger Dyson Sieben, den er mit dem individuellen Ekel vor dem Dreck und dem Fremden, aber auch mit dem politischen Säuberungswillen Netanyahus höchst ironisch in Verbindung brachte, war brillant. Hier verband sich Religion mit Aufklärung in humorvoller Weise.

17.09.2017 Documenta-Nachlese 10

Die Neue Galerie, normalerweise neben dem Fridericianum ein Zentrum der documenta, enttäuschte dieses Mal auf ganzer Linie. Zu moralisch, zu belehrend, zu dicht gehängt. Aber es gab auch Ausnahmen aus dem moralisierenden Einerlei. Zum einen fand ich die Idee von R. H. Quaytman lustig, einfach zu behaupten, auf der Rückseite des berühmten Angelus Novus von Paul Klee befinde sich eine Grafik mit dem Bild Martin Luthers aus dem 19. Jahrhundert. Was bedeutet das für die Wahrnehmung des Bildes? Das andere Highlight war für mich die Entdeckung der Arbeit "Automatism" von Geta Brătescu - sowohl die ältere Arbeit von 1974 wie das diese Arbeit aufnehmende Video von 2017. In der älteren Arbeit erkenne ich eine implizite Auseinandersetzung mit Fontana - dem Aufschlitzen der Leinwand. Die Frage bleibt, ob das wahr ist: Automatism produces violence?

17.09.2017 Documenta-Nachlese 11

Kommen wir nun in unserer Nachlese zum Hessischen Landesmuseum, ein schöner Ausstellungsort mit guter Sicht über Kassel vom Turm aus. Dort waren einige interessante Arbeiten platziert, die um das Thema Sprache und Form kreisten. Wenn man das einmal begriffen hatte, konnte man von oben nach unten durch das Treppenhaus laufen und bekam immer mehr Einsichten. Am gelungendsten fand ich die Arbeit von Nairy Baghramian mit dem Titel "The iron table (Homage to Jane Bowles). Die Arbeit überzeugt nicht nur wegen der Übersetzung der gleichnamigen Kurzerzählung von Jane Bowles in die Sprache der Kunst, sondern auch durch die geradezu geniale Platzierung im Landesmuseum. Auf der einen Seite sah man eine klassizistische Fassade, auf der anderen eine orientalisierende Fassade. Keine andere Arbeit auf dieser Documenta 14 war besser inszeniert. Es wäre freilich schön gewesen, wenn die Documenta die Erzählung von Jane Bowles vor Ort ausgelegt hätte.

17.09.2017 Documenta-Nachlese 12

Mit den Torwachen ist der Documenta 14 ein spektakulärer Einstieg gelungen - wenn man sich von Bad Wilhelmshöhe mit der Tram der Stadt näherte. Ibrahim Mahamas Jutesäcke über den historischen Torwachen irritierten den Blick und fokussierten die Aufmerksamkeit neu: "Mit seinen monumentalen Installationen aus groben Jutesäcken rückt Ibrahim Mahama die  Warenströme und Produktionsbedingungen in seinem Heimatland Ghana ins Zentrum der Aufmerksamkeit."  Vor Ort freilich werden die wenigsten Documenta-Besucherinnen und -Besucher um den historischen Kontext wissen, sondern vor allem auf die Oberfläche reagieren, die von der Umgebung gravierend abweicht. Es sind vor allem Markierungen von Alterität, die Ibrahim Mahama hier einträgt.

17.09.2017 Documenta-Nachlese 13

Ich weiß gar nicht, ob ich im Stadtmuseum eine Arbeit besonders hervorheben soll. Richtig überzeugt hat mich keine. Oder sie waren schlicht falsch platziert wie die Arbeit von Hiwa K. Aber die Menschen, die mit mir auf der Documenta 14 waren, blieben immer lange im Raum von Hans Eijkelboom mit seinen Photo-Notizen hängen. Der dokumentierte Zusammenhang von Vielfalt, Individualität und Gleichförmigkeit ist durchaus interessant - und erschreckend zugleich. Aber es ist doch mehr die Befriedigung der Neugier, die hier zur Geltung kommt, als die künstlerische Durchdringung des Themas.

17.09.2017 Documenta-Nachlese 14

In gut vier Stunden endet die Documenta 14. Einsicht in die Kunst der Gegenwart hat sie nicht vermittelt - ganz und gar nicht. Ein Beispiel für die Kunst der Kuratoren war sie auch nicht - ganz und gar nicht. Sie war in ihrer Theorielastigkeit erschreckend, in ihrer Verachtung des einzelnen Kunstwerks jenseits ideologischer Instrumentalisierungen ebenso. Sie pflegte den Monumentalismus - in einzelnen Objekten, in den Finanzen, in der Rhetorik. Das alles spricht gegen diese Documenta. Aber es gibt auch Positives zu schreiben. Zumindest wird es nun einen Reflexionsprozess darüber geben, was eigentlich Sinn und Gewinn einer Documenta sind. Warum fahren mehr als 800.000 Menschen nach Kassel? Sicher nicht, um sich über Neoliberalismus, Postkolonialismus oder dergleichen belehren zu lassen. Sondern um Kunst konzentriert zu erfahren, um dem nachzudenken, was Künstler heutzutage weltweit bewegt. Das konnte man bei einzelnen Werken der Documenta 14 durchaus. Und das lässt einen hoffen, dass die Documenta weitergeht und mit einer notwendigen Neuorientierung weniger theorielastig und mehr sinnlich orientiert in fünf Jahren eine Fortsetzung findet.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/109/am605.htm
© Andreas Mertin, 2017