Ein anderes Bild Christi

Eine Rezension

Horst Schwebel

Malte Dominik Krüger, Das andere Bild Christi. Spätmoderner Protestantismus als kritische Bildreligion, Tübingen 2017, 618 Seiten, Reihe: Dogmatik der Moderne, 99 Euro.

Dass der spätmoderne Protestantismus eine „kritische Bildreligion“ sei, ist die These der Habilitationsschrift von Malte Krüger, die er 2014 der Universität Halle/Wittenberg vorgelegt hat und die 2015 den Christian-Wolff-Preis der gleichen Universität erhalten hat. Dabei geht es Krüger darum, das Bild als anthropologischen Schlüsselbegriff zu entfalten und ihn mit der protestantischen Theologie zu verbinden. Ein auf den ersten Blick abenteuerliches Unternehmen, zumal der Protestantismus (allerdings ohne das Praefix spät) sich von seiner Entstehung an für das Wort entschied  und nicht für das Bild.

Ansätze, von einem anthropologischen Schlüsselbegriff aus das Ganze der Theologie aufzurollen, gab es öfter. Am prominentesten dürfte der von Schleiermacher sein, der dies mit dem Begriff Gefühl unternahm: vom Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit, über das Gottesbewusstsein Christi, dem Gemeingeist der Kirche bis hin zu Bildung und Kultur. Letztlich strebt Malte Dominik Krüger etwas Ähnliches an, allerdings über den für den Protestantismus ungebräuchlichen, wenn nicht gar perhorreszierten Begriff Bild.

Dass man angesichts mancherlei Entwicklungen in Gesellschaft und Kultur inzwischen von einem iconic turn spricht, mag ihn dazu motiviert haben, reicht aber als Begründung nicht aus. Welche Vielfalt sich gegenwärtig unter dem Begriff Bild auftut, wird von Krüger in Form eines Panoramas unterschiedlicher Bildtheorien vor Augen geführt. Es geht dabei um philosophische (zeichentheoretische, phänomenologische u. a.) Bildtheorien, um Bildtheorien der Kunstwissenschaft (Belting, Böhm u. a.), der Prähistorie (Höhlenmalerei), der Hirnforschung und anderer Bereiche, bei denen das Bild eine zentrale Rolle spielt. Behandelt Krüger dabei einen Autor, etwa Hans Jonas, so geht er nicht nur auf dessen Aufsatz „Homo pictor“ ein, sondern behandelt das ganze Umfeld, einschließlich von Jonas´ Schriften davor und danach. Auch bei der Hirnforschung und anderen Bereichen wird von Krüger über einen voluminösen Anmerkungsapparat der gesamte Forschungsstand ausgebreitet. Mir ist keine Arbeit bekannt, bei der gegenwärtig erreichbare Bildtheorien in ähnlicher Weise erfasst und analysiert worden wären. Freilich handelt es sich um Bildtheorien in Form gesprochener Sprache und nicht von solchen, bei denen - wie etwa bei den Malern - das Weltbild anstatt über Worte über Bilder vermittelt wird (etwa Paul Klee „Das bildnerische Denken).

Das von Krüger ausgebreitete Panorama der Bildtheorien bleibt freilich nicht unkommentiert. Der Verfasser ordnet das Material in Form einer Typologie in vier Hauptrichtungen: die zeichentheoretische, die wahrnehmungstheoretische, die imaginationstheoretische und die negationstheoretische Richtung. Jede dieser Richtungen hat ihre Stärken, aber auch Schwächen. Als Ergebnis lässt sich formulieren, dass das menschliche Bildvermögen ein den Menschen vom Tier unterscheidendes Vermögen ist, das dem Gegebenen als eine kreativ-alternative Möglichkeit gegenübersteht. Menschsein wird nach Krüger von diesem Bildvermögen als Basisvermögen definiert, worauf dann andere Vermögen, etwa die Sprache, aufgebaut werden.

Spannend wird es, wenn dieses für den Menschen basale Bildvermögen von Krüger mit Religion, Christentum und dem Protestantismus in Beziehung gebracht wird. Die Verbindung zur Religion besteht darin, dass das Bildvermögen mit dem Unbedingten in Berührung kommt. Der Übergang zum Unbedingten (was ist das Unbedingte?) ist keineswegs so durchsichtig wie das zuvor Gesagte und hätte sicher noch das eine oder andere Scharnier nötig. Gleichwohl sei zumindest das Woraufhin genannt, auf das die vier Bildvermögen nach Krüger hinsteuern, wenn sie mit dem Unbedingten in Berührung kommen. Das zeichentheoretische Vermögen zielt auf die Ganzheit, das wahrnehmungstheoretische auf die Andersheit, das imaginationstheoretische auf die Distanz, das negationstheoretische auf die Freiheit.

Interessant ist, wie Krüger auf Grund seines Ansatzes mit dem Vorwurf im Gefolge von Feuerbach umgeht, Religion sei eine menschliche Projektion. Dieser Vorwurf wird von ihm förmlich unterlaufen, weil das Vermögen, Bilder zu entwerfen, eo ipso zur menschlichen Grundausstattung gehört.

Freilich könnte es beim Bildvermögen als basalem Vermögen ein Problem geben. Bei Schleiermachers Religion als „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“ handelt es sich um eine Grundbefindlichkeit, bei der sich der Mensch einem Größeren gegenüber weiß, von dem er sich als „schlechthinnig abhängig“ versteht. Im Sinne von Schleiermacher gesagt: In der so verstandenen Religion ist Gott mitgegeben. Lässt sich bei einem auf das Bildvermögen aufbauenden Religionsbegriff etwas Ähnliches sagen? Im Unterschied zum primär „passiven“ Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit ist das Bildvermögen doch eher ein aktives Vermögen. Gott oder das Göttliche wäre also als ein Inwendiges zu begreifen, das dem nach Draußen und nach Vorn drängendem Bildvermögen zu Grunde liegt. Ist es etwa Meister Eckharts Seelenfünklein, das im zwar menschlichen, aber auf das Absolute bezogenen Bildvermögen zum Leuchten kommt?

Der Übergang zum Protestantismus mit seinen Charakteristika Schriftlehre und Rechtfertigungsglaube entbehrt in der Darstellung nicht der Modalität des Plötzlichen. - Zwei Punkte des Teils zum spätmodernen Protestantismus seien herausgegriffen, an denen sich die Leistungsfähigkeit des Bildbegriffs veranschaulichen lässt: die Auferstehung und die Rechtfertigung des Sünders.

In Folge der historisch-kritischen Forschung gibt es so manches Problem, theologisch angemessen von der Auferstehung zu sprechen. Für mich persönlich hat die Auferstehung ins Wort, wie sie Bultmann vertritt, eine gewisse Plausibilität, nachdem sich auf den historischen Fakten theologisch nichts aufbauen lässt. Krügers Weg in Sachen Auferstehung läuft über den von ihm propagierten Bildbegriff, zumal dem Bildvermögen die Fähigkeit, Wirklichkeit in Gestalt von Kontrafaktizität zu konstituieren, innewohnt. Die Wiedergabe der Position würde den Rahmen sprengen, gleichwohl sei ausgesagt, worauf sie sich stützt. „In der Realisierung eines Bildes verhält sich der Mensch kontrafaktisch: Dabei ist die Faktizität, auf die man sich bezieht, nicht nur auf real neben ihrer Darstellung existierende Gegenstände und Personen, sondern auf alle dargestellten Bildobjekte bezogen.“ (427) Dank des Bildvermögens kann Krüger sagen: „Jesus ist Gottes Bild, das in der dreifachen Gestalt seines vorösterlichen, österlichen und nachösterlichen Geschicks glaubwürdig sein möchte.“ (492)

Auch bei der Rechtfertigung des Sünders handelt es sich um ein kontrafaktisches Denkmodell. Der Faktizität des Sünderseins steht als Bild der von Gott Gerechtfertigte entgegen. In Bezug auf das Bildvermögen liegt als Denkmodell zugrunde: „Das Bild unterbricht durch den Einbezug menschlicher Einbildungskraft den gewohnten Weltbezug, indem es einer abwesenden Wirklichkeit mentale Anwesenheit verschafft.“ (266)

Die mit dem Bildvermögen verbundene Kontrafaktizität ist auf Grund der transatlantischen politischen Ereignisse der letzten Monate ins Gerede gekommen. Bilder können als „alternative Fakten“ auch Fake und Täuschung sein. Will man mit dem Bildbegriff philosophisch und theologisch argumentieren, muss auch – wie bei Descartes –mit der Möglichkeit des Trugbildes gerechnet werden; entsprechende Sicherungen wären also einzubauen. Um seinen für protestantische Ohren provokativen, aber höchst produktiven Ansatz weiter zu entfalten, dürfte dem Verfasser (Jahrgang 1974) nach seinem über 600 Seiten starken Konvolut allerdings noch genügend Zeit zur Verfügung stehen.

Malte Dominik Krüger ist Professor für Systematische Theologie und Religionsphilosophie in Marburg und Direktor des Rudolf-Bultmann-Instituts für Hermeneutik.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/109/hs23.htm
© Horst Schwebel, 2017